Soeben sind im Englischen Jean Amérys Schriften zu Antisemitismus, Anti-Zionismus und der Linken erschienen. Die Wiener Essayistin MARLENE GALLNER hat sie herausgegeben und antwortet auf die Fragen von GEORG PEPL.
Georg Pepl: Sie sind die Herausgeberin von Jean Amérys Essays on Antisemitism, Anti-Zionism, and the Left. Was sind seine Thesen?
Marlene Gallner: Jean Améry war einer der ersten, der den linken Antizionismus im deutschsprachigen Raum öffentlich als das kritisierte, was er ist: als Antisemitismus. Améry, 1912 in Wien geboren, wurde selbst als Jude verfolgt und hat mehrere Konzentrationslager, darunter Auschwitz, nur durch Glück überlebt. Er hat am eigenen Leib erfahren, wohin der Antisemitismus letztlich führt. Nämlich zur Vernichtung um der bloßen Vernichtung willen. Es ging nicht um Ausbeutung, es ging nicht um den Sieg über einen politischen Gegner, es ging um Vernichtung. Und die war den Täterinnen und Tätern wichtiger noch als ihre eigene Selbsterhaltung. Das macht die Shoah bis heute präzedenzlos. Vielleicht gerade weil Améry nicht religiös war und er keinerlei Verbindung zur israelischen Sprache oder Tradition hatte, konnte er in seinen Schriften betonen, wie wichtig Israel für Jüdinnen und Juden ist. Denn Israel als jüdischer Staat bietet Jüdinnen und Juden weltweit eine potenzielle Zuflucht vor antisemitischer Bedrohung und kann sich notfalls auch selbst verteidigen, ohne auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein.
Die Linken, die das nicht verstehen, haben nach Améry vom Antisemitismus nichts begriffen. Sie verkennen, dass der Antisemitismus stets mit neuen Spielregeln auftrumpfen muss, wollen die Antisemiten und ihre Freundesfreunde nicht als solche diffamiert werden. Der neue Antisemitismus nennt seinen eigenen Namen nicht. Es wird beteuert, man habe nichts gegen Juden, man sei kein Antisemit, man sei Antizionist. Und so fühlt sich der neue Antisemit moralisch erhaben. Améry nennt diese aktualisierte Form deswegen den „ehrbaren Antisemitismus“. Der neue Antisemit spielt dem alten, der seinen Judenhass unverhohlen äußert, und den es fraglos noch immer gibt, in die Hände. Beides läuft auf dasselbe hinaus: die Gefährdung und schlimmstenfalls die Ermordung von Jüdinnen und Juden. Schon Jean-Paul Sartre, auf den sich Améry immer wieder bezieht, sprach von der inhärenten Todesdrohung des Antisemitismus. Der Antisemitismus ist im Antizionismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke, schreibt Améry. Er kritisiert treffend, dass die „emotionelle Infrastruktur“ bei beiden die gleiche ist.
Dass die Linke die Shoah und den eliminatorischen Antisemitismus ausblendet, und den Nationalsozialismus bloß unter den Faschismus subsumiert, sieht Améry als entscheidendes Problem. Die vermeintliche Solidarität mit den Palästinenserinnen und Palästinensern dient ihnen als instrumentelle Rechtfertigung, um gegen Israel zu agitieren. Nicht zuletzt, und darin auch geradezu hellsichtig, begreift Améry die Bedrohung durch die benachbarten arabischen Staaten als gravierende Gefahr. Er hat vieles vorweggenommen und vor Entwicklungen gewarnt, die sich später tatsächlich bewahrheiten sollten. Aber das erstmal bis hier.
G. P.: In welcher historischen Situation schrieb Améry diese Essays?
M. G.: Während die Linke in Deutschland dem jüdischen Staat in den unmittelbaren Nachkriegsjahren relativ wohlwollend gegenüberstand – laut Améry, weil die Erinnerung an den Judenmord noch präsent war – änderte sich diese Haltung in den 1960er-Jahren sprunghaft. Améry veröffentlichte die Essays zwischen 1966 und 1978. Er hat also bereits vor dem Sechstagekrieg begonnen, vor dem Antizionismus zu warnen. Aber mit diesem Krieg 1967 fielen die Hemmungen. Endlich konnte man die Juden als Täter darstellen, endlich konnte man sich ihnen gegenüber moralisch überlegen fühlen. Gerade in den postnationalsozialistischen Ländern entlastete dies das Gewissen. In Deutschland noch mehr als in Österreich, wurde in letzterem die eigene Täterschaft lange Zeit geleugnet. Was auch nicht besser ist. Im Grunde, so muss man psychoanalytisch annehmen, hat die Studentinnen- und Studentenbewegung, die Améry vor Augen hatte, nur scheinbar mit ihren Nazieltern gebrochen. Denn sie führte deren antisemitische Ideologie im neuen Gewand fort. Ich will nur ein Beispiel nennen, welche Früchte der Antizionismus damals trug. Im Dezember 1969 protestierten linke Aktivist*innen in Kiel gegen einen Vortrag des israelischen Mikrobiologen Alexander Keynan. Sie verteilten Flugblätter mit der Parole: „Schlagt die Zionisten tot – macht den Osten rot!“ Leider stießen Amérys Ausführungen in der Linken auf taube Ohren. Es war wie ein Kampf gegen Windmühlen.
G. P.: Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
M. G.: Die kurze Antwort ist: Weil die Essays brennend aktuell sind. Die längere: Ich habe 2016 in den USA einen Vortrag über Amérys Kritik des Antisemitismus gehalten. Wie es der Zufall wollte, war im Publikum damals Sidney Rosenfeld anwesend, der Améry persönlich kannte und der gemeinsam mit seiner Frau Stella Rosenfeld 1980 Amérys Jenseits von Schuld und Sühne ins Englische übertragen hat. 1984 haben die beiden noch eine Sammlung von vermischten Essays übersetzt, die unter dem Titel Radical Humanism publiziert wurde. Die Bücher sind damals in der Indiana University Press erschienen, dem Verlag just an jener Universität, an der ich meinen Vortrag hielt. So hat es sich ergeben, dass ich noch vor Ort mit der damaligen Verlagsdirektorin über die Idee gesprochen habe, Amérys Essays über Antisemitismus, Antizionismus und die Linke herauszugeben. Zudem hatte ich, dafür bin ich sehr dankbar, während des gesamten Prozesses, der durchaus auch ein steiniger Weg war, die Unterstützung von Alvin Rosenfeld, der das in Indiana ansässige Institute for the Study of Contemporary Antisemitism leitet, und der ein Geleitwort verfasst hat. Irene Heidelberger-Leonard, die Biografin Amérys, hat für das Buch übrigens eigens ein Nachwort bereitgestellt.
G. P.: Handelt es sich um die erste englischsprachige Ausgabe von Amérys Texten zu den Themen Antisemitismus und Antizionismus?
M. G.: Ja, es handelt sich um die erste englischsprachige Übersetzung der Essays. Und es ist das erste Buch überhaupt, dass sie alle in einem Band versammelt. Auf Deutsch sind sie zwar verfügbar, aber sie sind auf mehrere Bände der Gesammelten Schriften verteilt. Sie sind auch sonst bislang in keine andere Sprache übersetzt worden.
G. P.: Zählt Améry in den USA und Großbritannien zu den bekannten Autor*innen?
M. G.: Nein. In den wenigen Fällen, in denen er doch bekannt ist, ist er es entweder für Jenseits von Schuld und Sühne und gilt als „professionelles Nazi-Opfer“, das Améry nie sein wollte und was sein Engagement gegen den Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg völlig übersieht, oder er wird für seine Arbeiten über den Freitod hervorgehoben. Seine Kritik des Antizionismus ist so unbekannt, dass selbst Leute, die gegen Israel agitieren, Améry zitieren und beispielsweise seine Ausführungen über die Folter aus Jenseits von Schuld und Sühne heranziehen. Dies geschieht natürlich mittels isolierter Zitate, die herausgepickt werden und abgetrennt sind von dem, was er sonst geschrieben hat. Auch deswegen wollte ich das Buch herausgeben. Zumal die Essays durch Lars Fischers Übersetzung ins Englische nun nicht nur für Leserinnen und Leser in den USA und Großbritannien zugänglich werden, sondern für eine internationale Leserinnen- und Leserschaft. Und das Problem des linken Antisemitismus und Antizionismus ist leider ein weltweites.
G. P.: Sie haben auch in den USA studiert. Welche Einstellung zu Israel herrscht dort an den Universitäten vor? Und wie steht die amerikanische Linke zu Israel?
M. G.: Es stimmt, dass an amerikanischen Universitäten der Antisemitismus von links sehr verbreitet ist. Nicht nur unter den Studierenden, sondern auch in den Lehrinhalten, in den Texten, die im akademischen Milieu heute in Mode sind. Man kommt hier wie dort kaum durch ein sozial- oder geisteswissenschaftliches Studium, ohne mal mehr oder weniger offenen antizionistischen Inhalten zu begegnen, die meist nicht kritisch, sondern affirmativ im Unterricht behandelt werden. Diese Entwicklung geht in erster Linie von „progressiven“ Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus. Man denke da nur an Judith Butler oder Jasbir Puar. Solche Autorinnen und Autoren sammeln sich vor allem in den Gender und Postcolonial Studies. Wo sich über die Hintertür auch der alte Antiimperialismus wieder einschleicht. Die BDS-Bewegung ist an amerikanischen Universitäten ziemlich stark vertreten. Und obwohl sich ihre Proponentinnen und Proponenten als harmlos gerieren, gibt es immer wieder Berichte über direkte Anfeindungen gegen jüdische Studierende. Im vergangenen Jahr hat sich die Initiative Jewish on Campus gegründet, um solche Vorfälle zu dokumentieren. Die Berichte sind erschreckend.
Auch außerhalb des Campus nimmt linker Antisemitismus derzeit an Gewalt zu. Am Rande einer pro-palästinensischen Solidaritätskundgebung in New York vergangenen Mai etwa wurde ein vorbeigehender Jude aus dem Nichts von einer Gruppe tätlich angegriffen und antisemitisch beschimpft. So etwas kannte man bislang eigentlich eher aus Europa, weniger aus den USA. Die antisemitischen Übergriffe haben sich 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr mehr als verdoppelt.
Zur Frage, welche Einstellung zu Israel grundsätzlich an den Universitäten vorherrscht: Die, würde ich sagen, ist abseits der prototypischen Linken viel entspannter als hier. Zum Beispiel ist es keine aufsehenerregende Besonderheit, mal ein Auslandssemester in Israel zu absolvieren. Und es gibt auch Lehrende, die sehr genau über die Gefahr des Antisemitismus Bescheid wissen und aufklären. Es gibt einige amerikanische Professorinnen und Professoren, wie Jeffrey Herf und Alvin Rosenfeld, die hervorragende Bücher über Antisemitismus und Israelhass veröffentlicht haben. Leider sieht es so aus, als ob sie immer weniger werden. Nicht zuletzt, weil es sich zum großen Teil um Professorinnen und Professoren der alten Riege handelt, die bald emeritiert sein werden.
G. P.: Was kann die Linke heute von Améry lernen?
M. G.: Was muss sie lernen, wenn sie nicht zu den Handlangern des Judenmords von morgen werden will? Améry schrieb davon, dass sich die Linke durch ihren Antizionismus selbst vergisst. Das Mantra der Linken, stets an der Seite der Schwachen zu stehen, wird im Antizionismus verkehrt. Israel wird als Aggressor und Unterdrücker imaginiert. Dabei wird den Juden bis heute für alles mögliche die Schuld zugeschoben und wegen solcher wahnhaften Projektionen sind sie von ihrer Auslöschung bedroht. Das klingt drastisch, aber man muss sich nur einmal die Aussagen der iranischen Führung ansehen, die offen plant, Israel von der Landkarte zu streichen. Eine Linke, die das verharmlost, die auch den palästinensischen und islamischen Terrorismus verharmlost, trägt dazu bei, dass Jüdinnen und Juden heute angegriffen und ermordet werden. Sie muss begreifen, dass der eliminatorische Antisemitismus eine reale Gefahr und Israel deswegen eine notwendige Zufluchtsstätte ist.
Auch die österreichische Sozialdemokratie hat da in der Vergangenheit einiges versäumt. Es war Bruno Kreisky, der 1973 das Transitlager in Schönau für jüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion dauerhaft schließen ließ. Kreisky hat damit die Forderung einer palästinensischen Terrorgruppe erfüllt, die mehrere Flüchtlinge und einen Zollbeamten am Grenzbahnhof Marchegg als Geiseln genommen hatte. Er war es, der Jassir Arafat später nach Wien einlud und ihm den ersten Auftritt auf westlich-demokratischem Parkett ermöglichte.
Wenn unter den Slogans der Menschlichkeit, des Universalismus oder der Demokratie dazu aufgerufen wird, Israel dürfe kein jüdischer Staat mehr sein, dann ist das keine Menschenliebe, sondern verklausulierter Judenhass.
G. P.: Was versprechen Sie sich von der Veröffentlichung des Buches?
M.G.: Ganz naiv würde ich mir wünschen, dass das Buch diejenigen lesen werden, die auch Améry adressiert hat: die Linken, die ihren Antizionismus nicht als Problem, sondern als moralische Adelung betrachten. Ich hatte bereits kurz erwähnt, dass eine Übersetzung auf Englisch potenziell eine internationale Leserinnen- und Leserschaft erreicht. Aber wahrscheinlich erreicht das Buch die Antizionistinnen und Antizionisten in Südafrika genau so wenig wie jene hier vor der Haustüre, wo seit letztem Frühling „Free Palestine“-Graffitis die Fassaden über den Stolpersteinen zieren.
MARLENE GALLNER hat zwischen 2011 und 2019 Politikwissenschaft, Philosophie, Geschichte, Jüdische Studien und Austrian Studies an der Universität Wien und der University of Maryland studiert. Sie arbeitet und schreibt zur Kritik des Antisemitismus und postnazistischer Vergangenheitsbewältigung.
GEORG PEPL ist promovierter Musikwissenschaftler und lebt als Kulturjournalist in Kassel.