Der Beitrag von ALESSANDRO BARBERI stellt eine Hommage an den am 13. September 2022 verstorbenen französischen Ausnahmekünstler Jean-Luc Godard dar, der mit dem Universum seiner wunderschönen Filme unendlich viele Geschichte(n) des Kinos hinterlassen hat …
„Das Kino ist ein Blick, der unseren ersetzt,
um uns eine Welt zu geben, die unseren Wünschen entspricht […]/
le cinéma est un regard qui se substitue au nôtre
pour nous donner un monde accordé à nos désirs.“
Michel Mourlet: Sur un art ignoré (1959 – Nr. 98 der Cahiers du cinéma)
I. Von der Zeugenschaft
„das kino beruht
wie das christentum
nicht auf einer historischen wahrheit/
es erzählt uns eine Geschichte
und sagt uns
ab sofort: glaube
le cinéma
comme le christianisme
ne se fond pas
sur un verité historique/
il nous donne un récit
une histoire
et nous dit
maintenant : crois“
Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma (1997)
Es sind die synästhetischen Schichten in den Geschichte(n) des Kinos (1988–1997), die einen Satz Jean-Luc Godards für mich bereits als jungen Cineasten und Historiker in der Pariser Cinémathèque française Ende der 1990er-Jahre so wichtig wie rätselhaft werden ließen: „Das Kino ist der einzige Zeuge, die einzige Spur.“ … Denn mit dieser knappen und dichten Einsicht von JLG ist darauf verwiesen, dass die aufklärende Multimedialität der Kinematografie zwischen Ton, Bild, Farbe, Schrift und (analoger wie digitaler) Technologie ganz im Sinne und im Namen der Brüder Lumière mit einem Modell menschlicher Erfahrung verbunden ist, das mit den ersten Lichtspieltheatern auch à la lettre das Licht der Welt erblickte.
Denn erst im Verbinden aller menschlichen Sinne wird es uns möglich gewesen sein, die Welt, die soziale Wirklichkeit und ihre Geschichte(n) aktiv zu hören und im Bild zu sehen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil im Sinne Walter Benjamins unsere Schockerfahrung(en) und Wahrnehmung(en) seit Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat (1895/96) der Brüder Lumière zutiefst vom Kino geprägt wurden. Die (ersten) Menschen, die diesen (ersten) Film gesehen haben, sollen nervös mit den Stühlen gerückt haben, wie Maxim Gorki berichtet, oder gar panikartig aufgesprungen sein, um ob des Schocks den Saal zu verlassen. Erinnern und Gedächtnis sind seitdem auf mehreren Ebenen mit der (Multi-)Medialität des Bewegtbildes verbunden, weshalb auch die Zeugenschaft und Repräsentation so sensibler und unendlich schmerzhafter historischer Ereignisse wie der Vernichtung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus spätestens mit Alain Resnais’ Nuit et brouillard (F 1956), Claude Lanzmanns Shoah (F 1985) oder auch Steven Spielbergs Schindlers Liste (USA 1993) sehr eng verbunden sind. Wie kann das Unsagbare, das Unglück, das Unheil sagbar und sichtbar gemacht werden? Schlussendlich nur in der an die Kinematografie angelehnten Erzählung und Schichtung von wahr(haftig)en Geschichten.
Denn selbst wenn wir historische Quellenlagen und Dokumente in Archiven sichten, ist unser Anschauungsraum – im Sinne Immanuel Kants – von der Medialität des Films durchzogen, weshalb der/den Filmgeschichte(n) im Rahmen der historischen Disziplinen eine gewisse Primordialität zugeordnet werden kann. So umfasst die Zeugenschaft des Kinos auch entlang der Geschichte(n) ihrer eigenen Herkunft und ihrer Produktionsbedingungen (von der Literatur- und Kunstgeschichte zur Fotografie und über das Video bis hin zur digitalen Loslösung vom Zelluloid im Sinne der Simulation) ein Spurenarchiv, in dessen Period Movies Geschichte(n) mehrfach in die Mise en Scène eingelassen ist/sind. Insofern sind wir, im Sinne Jacques Derridas oder auch Gilles Deleuzes, bei JLG alle dem (audiovisuellen) Archiv des Cinéma verschrieben. Das Kino ist also der einzige Zeuge …
II. Von den Spuren
„Geschichte(n) des Kinos
mit einem n
alle Geschichten, die es geben könnte
die es geben wird oder geben könnte
die es gegeben hat/
histoire(s) du cinéma
avec un s
toutes les histoires qu’il y’aurait
qu’il y’aura ou qu’il y’aurait
qu’il ya eu“
Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma (1997)
JLGs Schule des Sehens ist auch in einem weiteren Sinne mit Geschichte(n) und der Geschichtswissenschaft verbunden, wenn wir etwa mit Michel Foucault einer Archäologie der audiovisuellen Spuren nachgehen, die zwischen Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten keine direkte Verbindung herstellt, sondern auch in der (Syn-)Ästhetik des Filmischen die jeweilige Eigenständigkeit von Ton, Bild, Farbe, Schrift und Technologie herausarbeitet, um nachdrücklich auf ihr zu bestehen. So hat JLG etwa in Nouvelle Vague (1990) zum wiederholten Male die Ebenen der visuellen Spur von der mehrsprachigen Tonspur getrennt und im Sinne einer Fragmentierung auch die schriftlichen Spuren so eingesetzt, dass die Filmerfahrung erstens erneut auf die Produktionsbedingungen verwiesen und zweitens aus ihren gewöhnlichen Routinen herausgebrochen wird.
Dies ganz genau im Sinne der „Verfremdung“ Bertolt Brechts, die auch in La Chinoise (F 1967) dazu führte, die Formen fast unvermuteter Schriftinserts einzusetzen, um den „normalen“ Usancen der kapitalistisch angepassten Sehgewohnheit(en) mit Brechung(en) zu begegnen. Ganz demgemäß sind dann am Ende der 1990er-Jahre JLGs Histoire(s) du cinéma in verschiedenen Formen und in unterschiedlichen Medien veröffentlicht worden: Zuerst über fast zehn Jahre hin die acht Filme auf Video, darauffolgend in Buchform bei Gallimard in Paris und parallel dazu die Tonspur mit weiteren Büchern bei ECM in Deutschland, wo dann 2009 die Geschichte(n) des Kinos in Synchronfassung bei Suhrkamp auf DVD veröffentlicht und in allen Geschichten übersetzt wurden … als Beilage findet sich hier auch ein mehr als passender und eben luzider Beitrag von Klaus Theweleit.
Spuren (dt.), traces (fr.) und traces (engl.) sind mithin als vorderhand Fragmentarisches der sinnliche Datensatz, mit dem Menschen es zu tun haben, wenn sie eine vielsprachige Geschichte rekonstruieren wollen. Gerade in der französischen Diskussion war der Begriff der Spur von geraumer Bedeutung, weil der Status einer trace mehrfach untersucht wurde. Verweisen etwa Dokumente mir nichts, dir nichts auf ein Äußeres oder sollten sie nicht vielmehr als Monumente in ihrer eigenen Oberfläche ausgedeutet werden? Was wäre also die Grammatologie als Schrift- und Buchgeschichte der Spur? Gibt es denn eine Spur hinter der Spur? Oder verspuren sich die Spuren und verweisen nur auf weitere Spuren? Was wären in der Kunstgeschichte die bildlichen Spuren der Ikonologie und der Ikonografie? Und was genau ist dann der Status und der Unterschied von sprachlichen, schriftlichen oder audiovisuellen Spuren?
Auch hier zeigt sich, dass JLG jedes Detail seiner Filme in diesem Sinne reflektierte, wodurch sie ihrerseits zu historischen Dokumenten werden, deren Spuren im Sinne eines multimedialen Spurenraums gesichtet werden können. So ist À bout de souffle /Breathless / Außer Atem (1960) von der durchgängigen Machart her nicht nur revolutionär im (formbezogenen) Blick auf die Spuren von Genre, Montage, Schrift, Ton und Bild, sondern markiert einen entscheidenden filmischen Umbruch in der Nouvelle Vague. Denn Außer Atem kann auch als historische Quelle einer generationsspezifischen Haltung gedeutet werden, die bald darauf mit der von JLG und Jean-Pierre Gorin, einem Schüler Louis Althussers, begründeten Groupe Dziga Vertov auf die sowjetische Avantgarde bezogen und in der Folge des Mai 68 deutlich und politisch links radikalisiert wurde. Das Kino ist also die einzige Spur …
II. Von der Verachtung
„Das Kino, sagte André Bazin,
setzt an die Stelle unseres Blicks
eine Welt, die unseren Wünschen entspricht.
Le Mépris ist die Geschichte dieser Welt./
Le cinéma, disait André Bazin,
substitue à notre regard
un monde qui s’accorde à nos désirs.
Le Mépris est l’historie de ce monde.“
Jean-Luc Godard: Le Mépris (1963)
Im Frühwerk JLGs nimmt ganz in diesem Sinne Le Mépris / Contempt / Die Verachtung (F/I 1963) eine besondere Stellung ein, weil es der erste Streifen von JLG war, der nicht mit kleinem Budget gedreht werden musste, wobei die Produktionskosten von Carlo Ponti vor allem für die Stars Brigitte Bardot, Fritz Lang und Jack Palance aufgewendet wurden. Gerade deshalb ist auch hier wieder die Beziehung von Produktion und – ganz im Sinne des Marxismus – Produktionsbedingungen sowie Produktionsverhältnissen hinsichtlich der Verfilmung von Homers Odyssee bezeichnend, die in dieser kinematografischen Geschichtsfiktion von Fritz Lang verfilmt werden soll, der sich selbst als „Dinosaurier“ der Filmgeschichte(n) gibt. Dabei wird die Annäherung an die Filmindustrie und ihr Starsystem von Beginn an durch die Nacktheit der Bardot ausgestellt:
In der Folge wird die(se) kapitalistische Produktionsweise systematisch unterbrochen und die radikale Kritik an ihr buchstäblich auf das Scheckbuch des amerikanischen Produzenten Jeremy Prokosch (dargestellt von Jack Palance) und seine kulturelle Unbildung projiziert. Die permanente mediale Reflexion auf die Voraussetzungen von Erkenntnis und Produktion beginnt schon mit dem einleitenden roten Schriftinsert des Titels und der objektivierenden Aufnahme von Raoul Coutarts Kamerafahrt in der weithin bekannten italienischen Filmproduktionsstadt Cinecittà (denken wir doch u. a. an den Zirkus des Federico Fellini). Denn wir sehen eine Kamera und ihre Fahrt, welche die Sekretärin Francesca beim gehenden Lesen aufnimmt, bis sich dieses Objektiv Coutards – „objektiviertes Objektivieren“ … JLG/JLG (F/CH 1995) – bis sich also Coutards Objektiv letztlich in das Objektiv von JLG dreht, das die(se) Aufnahme aufnimmt.
Wie bei einem auktorialen Erzähler geht die Stimme von JLG parallel dazu und im Off die Credits durch und er wird wie Francesca und Coutard leitmotivartig von der berühmt gewordenen und später oft zitierten Musik Georges Delerues (wir hören etwa Scorseses Casino von 1995) in allen Wortbedeutungen begleitet. In der darauffolgenden – am Beginn rot und am Ende blau gefilterten – Nacktheits- und Bettszene von Camille und Paul Javal (Brigitte Bardot und Michel Piccoli) setzt JLG wie so oft die Liebe in (die) Szene … Mise en Scène … um der Verachtung – nach dem Roman Il disprezzo von Alberto Moravia – weitere Geschichte(n) des Kinos zu widmen. Denn das Kino ist nach Louis Lumiére eine Erfindung ohne ZUKUNFT … Was JLG mit jeder Einstellung wiederlegt(e).
Kaum ein Film dieser Zeit verbindet das Narrativ der Mythologie Griechenlands – nach Marx die Kindheit der Menschheitsgeschichte – so stark mit den verschiedenen Ebenen seiner Produktion: Sei es, das Fritz Lang als wandelnde Filmgeschichte mit Jeremy Prokosch um den Sinn und die Unabhängigkeit der Kunst streitet, sei es, dass mit der Location von Cinecittà deutlich auf die Größe des Neorealismus verwiesen wird oder sei es auch, dass die Selbstreflexion des Films im Film immer wieder die technologischen Voraussetzungen der Filmherstellung in den Blick und damit auf die Leinwand bringt.
IV. Trauriges Ende
„ich habe nicht an den Tod gedacht
es gibt keinen Tod
es gibt nur das
wer wird sterben/
je n’ai pas pensé à la mort
il n’y a pas de mort
il ya seulement
qui vais mourir“
Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma (1997)
Insofern nimmt uns die Gischt der Nouvelle Vague seit 1960 und erst recht in Erinnerung an JLG den Atem … À bout de souffle / Breathless / Außer Atem. Final Cut … Alles ist Ein Bildbuch / Le livre d’image (CH 2018). Wir haben einen hoch intelligenten Freund, einen liebenswerten Kollegen, einen mehr als verdienten Genossen verloren, der uns 24-mal in der Sekunde nicht nur die Wahrheit lehrte, sondern auch wie wir angesichts der Brutalität des Spätkapitalismus in radikaler Art und Weise in der notwendigen inneren Emmigration Sozialist*innen und Revolutionär*innen bleiben können. La liberté coûte cher … Film Socialisme (F 2010). Adieu JLG/JLG … à bientôt … weil die Toten nach Heiner Müller nicht tot sind … und feste Plätze haben.
ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg, Wien und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/.
Literaturgeschichte(n)
Benjamin, Walter (1991): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd I/2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 471–508.
Brecht, Bertolt (1999): Schriften zum Theater, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles (1997a): Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles (1997b): Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (1992): Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (1997): Dem Archiv verschrieben: Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann & Bose.
Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1983): Dies ist keine Pfeife, Frankfurt am Main: Ullstein.
Godard, Jean-Luc (1981): Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas, München/Wien: Hanser.
Godard, Jean-Luc (1998): Histoire(s) du cinéma, Paris: Gallimard, Informationen und Bestellung online unter: https://www.librairie-gallimard.com/livre/9782070779949-histoire-s-du-cinema-jean-luc-godard/ (letzter Zugriff: 01.12.2022).
Godard, Jean-Luc (1999): Histoire(s) du cinéma, Gräfelfing: ECM Records, Informationen und Bestellung online unter: https://www.ecmrecords.com/shop/143038752303/histoires-du-cinema-complete-soundtrack-jean-luc-godard (letzter Zugriff: 01.12.2022).
Hilberg, Raul (1990): Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bände, Frankfurt am Main: Fischer.
Rebhandl, Bert (2020): Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär, Wien: Zsolnay.
Theweleit, Klaus (2009): Bei vollem Bewußtsein schwindlig gespielt, in: Godard, Jean-Luc (2009): Geschichte(n) des Kinos, Berlin: Suhrkamp, 3–19.
Filmgeschichte(n)
Lumière, Auguste und Louis (1895/96): L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat.
Lanzmann, Claude (F 1985): Shoah, IFC Films.
Godard, Jean-Luc (F 1960): À bout de souffle, The Criterion Collection.
Godard, Jean-Luc (F 1963): Le Mépris, The Criterion Collection/Janus Films/ Canal +.
Godard, Jean-Luc (F 1967): La Chinoise, Gaumont.
Godard, Jean-Luc (F 1990): Nouvelle Vague, VEGA Film.
Godard, Jean-Luc (F/CH 1995): JLG/JLG. Autoportrait de décembre, Gaumont.
Godard, Jean-Luc (D 2009): Geschichte(n) des Kinos, Berlin: Frankfurt am Main, Informationen und Bestellung online unter: https://www.suhrkamp.de/video/jean-luc-godard-histoire-s-du-cinema-b-98 (letzter Zugriff: 01.12.2022).
Godard, Jean-Luc (F 2010): Film Socialisme, VEGA Film et.al.
Godard, Jean-Luc (CH 2018): Le Livre d’image, Casa Azul Films.
Resnais, Alain (F 1956): Nuit et brouillard, Argos Films.
Scorsese, Martin (USA 1995): Casino, Universal Pictures. Spielberg, Steven (USA 1993): Schindlers List, Universal Pictures
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