Der Antisemitismus von Muslimen ist kein neues Phänomen. Er wurzelt tief in der Geschichte unserer Religion. Nur wenn die Muslime sich das eingestehen, können sie auch auf lange Sicht Frieden mit den Juden machen, wie ABDEL-HAKIM OURGHI mit seinem Beitrag betont
I. Einleitung
Er nennt sich Abu Obaida und zeigt sich nur mit einer Kufija, einem Tuch, das sein Gesicht fast vollständig bedeckt. Bei seinen Reden sieht man nur die Augen und den Zeigefinger der rechten Hand, das Zeichen des „Islamischen Staates“. Abu Obaida ist der Sprecher der Kassam-Brigaden, des militärischen Flügels der Terrororganisation Hamas, und ein Held der islamischen Welt. Im November 2023 war er im Nachrichtensender Al-Dschasira zu sehen, wo er die Hamas für ihren Kampf gegen Israel lobte: „Die Träume der zionistischen Machthaber von der Zerschlagung unseres Widerstands sind nur eine Flucht vor der Niederlage am 7. Oktober“.
Tatsächlich hält Abu Obaida seit dem blutigen 7. Oktober immer wieder Live-Ansprachen an die Palästinenser und die arabische Welt. Auf Al-Dschasira drohte er: „Israels Bodentruppen haben im Gazastreifen nur vier Optionen: Sie werden getötet, als Geisel genommen, verwundet oder kehren psychisch zerstört zurück“. Gern beendet der Kassam-Führer seine Reden mit der Formel: „Das ist der Dschihad: Sieg oder Tod!“
Woher kommt der Hass? Man könnte meinen, Abu Obaida sei eine krasse Ausnahme und seine Israelfeindschaft sei aus dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern erwachsen. Doch die Wurzeln des Antisemitismus, der jetzt in Nahost und auch in vielen propalästinensischen Demonstrationen im Westen aufbricht, reichen tief in die Geschichte des Islams zurück.

DIE LIEBE ZUM HASS ISRAEL, 7. OKTOBER 2023 VON ABDEL-HAKIM OURGHI
München: Claudius
224 Seiten| € 24,70 (Taschenbuch
ISBN-13: 978-3532629062
Erscheinungstermin: 08. Mai 2025
II. Ein Bekenntnis
Ich bin mir bewusst, dass Muslime Mut brauchen, gerade jetzt über die Diskriminierung und Verfolgung von Juden unter islamischer Herrschaft zu sprechen. Auch in Friedenszeiten wäre dieses Thema ein Tabu. Doch nur, wenn wir uns unseren Fehlern stellen, kann es Frieden geben. Deshalb beginnt diese historische Analyse mit einem persönlichen Bekenntnis:
Mit dreiundzwanzig Jahren kam ich als indoktrinierter Antisemit aus Algerien nach Deutschland. Ich kann mir heute vorstellen, dass es vielen Musliminnen und Muslimen ebenso erging. Unsere Sozialisation in unseren Herkunftsländern lehrte uns Judenhass. Alles, was mit Juden oder dem Staat Israel zu tun hatte, lehnte ich vehement ab. Ich glaubte: Juden sind immer Täter, Muslime immer Opfer. Diese Dualität bestimmt noch heute das Denken vieler Muslime, auch im Westen.
Als ich Kind war, gab es keine Möglichkeit, anders zu denken. Für Kritik an Antisemitismus war kein Raum, und jeder Kritiker hätte als Feind des Islams gegolten. Schon mit fünf Jahren hörte ich zum ersten Mal das Wort „Jude“ (im Algerischen yhüdi) in der Koranschule. Mein damaliger Koranlehrer beschimpfte einen Jungen: „Du Jude, benimm dich“. Von da an wusste ich, ich muss mich benehmen, um nicht als „Jude“ zu gelten. Auch in meiner Grundschulzeit hörte ich immer wieder Lehrer das Wort „Jude“ abfällig gebrauchen. Als Schimpfwort gehört es bis heute zum Wortschatz vieler Muslime. Man sagt auch: „Du bist wie die Juden. Du machst nur Probleme“. Und bis heute hört man in Moscheen das Bittgebet, das ich noch von meinem Onkel, dem Imam, kenne: „Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören! Möge Allah die Muslime im Kampf gegen die Juden unterstützen“.
Als ich einmal Besuch von meinem Bruder und seiner Familie hatte, die in Algerien leben, da erzählte mein vierzehnjähriger Neffe, seine Französischlehrerin habe ihm gesagt: „Ich hasse die Juden und verneige mich vor Hitler, weil er sie vernichtet hat.“ Mittlerweile bin ich 55 Jahre alt, Islamwissenschaftler und habe gelernt, wie falsch und gefährlich Antisemitismus ist. Irgendwann habe ich beschlossen, mich mit den historischen Gründen des Judenhasses in meiner Herkunftskultur zu befassen – und ein Buch über die Juden im Koran zu schreiben. Als es im Mai 2023 erschien, da ahnte ich nicht, wie schrecklich aktuell es durch die Hamas noch werden würde.
Das Buch war auch so eine heikle Angelegenheit. Während des Verfassens warnten mich immer wieder Freunde und Kollegen vor der Behandlung des Themas. Das Buch könne die Risse zwischen Juden und Muslimen vertiefen, es könne die Islamfeinde der rechten Szene in ihren Vorurteilen bestätigen. Vor allem würde ich die Gefühle der Musliminnen und Muslime verletzen, wenn ich ihr heiliges Buch und damit den Propheten Mohammed kritisiere.
III. Ehrliche Erinnerungsarbeit ist Selbstbefreiung
Meine Antwort an die besorgten Freunde lautet: Es ist nicht islamfeindlich, sich die Wahrheit über den Koran einzugestehen. Im Gegenteil. Ehrliche Erinnerungsarbeit ist Selbstbefreiung. Die bevormundende Sorge um das Wohlbefinden der Muslime aber bedeutet, dass man ihnen nicht zutraut, ihre religiöse und politische Geschichte aufzuklären. Ich traue uns das aber zu. Ich will an die Verfolgung unschuldiger Menschen aufgrund ihres Glaubens erinnern, mit dem Ziel, dass Muslime die Juden respektieren, Israel achten – und Frieden machen.
Das klingt in der gegenwärtigen Lage vielleicht hochgestochen. Aber ist es nicht nötiger denn je? Um das zu begreifen, muss man nicht in Israel oder im Gazastreifen leben, es genügt, in Deutschland vor die eigene Haustür zu treten. Am 10. Oktober, wenige Tage nach dem Massaker der Hamas in Israel, wurde ich Zeuge einer antisemitischen Demonstration im Zentrum von Karlsruhe. Dort kamen Anhänger der Hamas mit palästinensischen Flaggen, vor allem junge Leute und Kinder, auf den Marktplatz. Sie riefen nicht nur „Allahu Akbar“ (Gott ist groß), sondern skandierten auch Hetzparolen: „Chaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer wird bald zurückkommen!“ Oder: „Das Blut des Märtyrers schreit nach deinem Blut!“ Und Ähnliches mehr. Der Tenor: Israel ist die Inkarnation des Bösen, das es zu vernichten gilt. Die Muslime aber sind die Opfer, die zu beschützen sind.
Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen die Veranstalter der Demo eingeleitet. Doch den Ruf „Chaibar, oh ihr Juden … !“
hört man immer wieder auf sogenannten Friedensdemonstrationen gegen Israel. Übrigens: Auch die aus dem Iran importierten Raketen, mit denen die Terrororganisation Hisbollah im Sommer 2006 Israel angegriffen hatte, trugen den Namen „Chaibar 1“. Der Name ist sehr alt, er geht auf den Kriegszug des Propheten gegen die jüdischen Bewohner der Oase Chaibar im Jahre 628 zurück. Wenn er heute von Antisemiten benutzt wird, dann, um ihren Hass zu rechtfertigen und sich selbst zu erhöhen.
Ganz Ähnliches kann man jetzt im arabischen und türkischen Fernsehen oder im Internet erleben. Wenn Muslime gegen Israel hetzen, wenn sogar der Holocaust als „Allahs verheerende Rache an den Juden“ gerechtfertigt wird, dann nenne ich das islamischen und nicht nur islamistischen Antisemitismus – d enn die Lehren des Islams waren wie das Christentum seit Anbeginn leider nicht frei von Judenfeindschaft.
Im islamischen Orient wie im Okzident gab es immer Pogrome, Verfolgungen und Vertreibungen der Juden. Genannt seien aus der Geschichte des Islams Granada 1066, Fes 1565, Bengasi 1785, Algier 1815, Damaskus 1840 und Kairo 1844. Vor der Kolonisierung des Maghreb waren die Juden drastischen Restriktionen unterworfen, wie etwa dem Tragen grotesker Kleidung, was von Marokko bis Libyen allen auferlegt wurde.
Heute höre ich oft den Satz: „Der Judenhass hat nichts mit dem Islam zu tun.“ Das ist als Absichtserklärung schön, aber als Beschreibung unaufrichtig. Es erinnert mich an die Behauptung, der Islam habe mit Gewalt nichts zu tun. Angesichts der Hamas und ihrer dschihadistischen Ideologie zeugt so ein Satz bestenfalls von Naivität, schlimmstenfalls von Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern.
Die traurige Wahrheit ist: Islamisten bedienen sich des Korans und verschärfen seine Inhalte, um ihren Judenhass zu legitimieren. Wie kam es dazu? Zunächst sei betont, dass im 7. Jahrhundert die damaligen Juden sowohl in Mekka als auch in Medina mit ihren muslimischen Nachbarn in Frieden lebten. Der Prophet verfolgte nach seiner Auswanderung von Mekka nach Medina im Jahre 622 verschiedene Strategien gegenüber den Juden: Zuerst war er um eine Annäherung bemüht, nannte den Koran die „Bestätigung dessen, was an Offenbarungen vor ihm da war“ (also das Alte und Neue Testament). Er versuchte, sich dem Judentum anzunähern und mit den zeitgenössischen Juden in Dialog zu treten. Er hoffte, sie würden ihn als Gesandten Gottes anerkennen und sich zum Islam bekehren. Als diese Hoffnung sich nicht erfüllte, wurden die Juden jedoch zu Ungläubigen gestempelt.
So entstand ein ganzer koranischer Sündenkatalog der Juden: Sie hätten den Bund mit Gott gebrochen und hielten in Sünde zusammen. Sie seien Irregeleitete, ihre Herzen härter als Stein und viele Frevler. Sie verfielen dem Zorn Gottes, weil sie nicht an seine Offenbarung glaubten. Sie würden das Wort Gottes entstellen und den Wortlaut der Schrift verdrehen. Sie nähmen Zins, obwohl das verboten sei, und brächten die Leute um ihr Vermögen.
Extrem diffamierend wirkt das koranische Motiv, dass Gott die Juden wegen ihrer Sünden in Tiere verwandele. Er lasse die Juden zu „abscheulichen Affen“ werden, weil sie sich über das Sabbatgebot hinwegsetzten. An anderer Stelle werden Juden und Christen gewarnt, dass Gott einige aus ihren Reihen bereits in „Affen und Schweine und Götzendiener“ verwandelt habe.
IV. Erst ein Schuldbekenntnis kann den Versöhnungsweg ebnen
So beginnt ab dem Jahr 624 in Medina eine neue Ära der Gewaltmaßnahmen gegen die Juden. Der Sündenkatalog ist ein geistiger Angriff, der dem tätlichen Angriff auf sie dient, dem Heiligen Krieg. Zwei jüdische Stämme werden zunächst auf Befehl des Propheten enteignet und aus Medina vertrieben. Und die Sure 33, Vers 26–27, spricht offen über das im April 627 an einem dritten jüdischen Stamm, den Banu Kuraisa, verübte Massaker. Laut arabischer Geschichtsschreibung wurden diese 25 Nächte lang belagert. Nur denen, die zum Islam konvertierten, wurde das Leben geschenkt. Circa 600 Männerwurden schließlich exekutiert, ihre Besitztümer unter den Muslimen verteilt und die Kinder und Frauen als Sklaven verkauft.
Aus heutiger Sicht muss man sagen: Auch wenn Mohammed wegen seiner gescheiterten Bekehrungsversuche enttäuscht gewesen sein mag, sein politisches Handeln gegenüber den Juden war eine Schande, die nicht aus der kollektiven Erinnerung der Muslime verdrängt werden darf – und schon gar nicht zum Vorbild erhoben.
Wichtig zu wissen ist: In der Geschichte des Islams hat man sich immer wieder auf den Koran berufen, um Juden zu knechten, so bei der Einführung eines jüdischen und christlichen Tributs an muslimische Herrscher. Die gizya als Kopfsteuer diente der finanziellen Absicherung der jungen muslimischen Gemeinden, und die, die sie zahlen mussten, schützten sich damit vor Gewalt. Die Drohung lautete: Wer den Tribut nicht entrichtet, dessen Blut darf vergossen, seine Habe unter Muslimen verteilt werden. Die Steuer wurde meist auf demütigende Weise eingetrieben, bei einem jährlichen Ritual wurden Juden geschlagen.
Doch damit nicht genug der Diskriminierungen. Ab 634, nach dem Tod des Propheten, war es Juden verboten, neue Synagogen zu bauen. Sie durften während der muslimischen Gebetszeiten ihre Stimme nicht erheben. Sie durften ihre Symbole nicht öffentlich zeigen. Sie mussten ihre vordere Kopfhälfte rasieren, durften keine Waffe tragen und nicht auf Sätteln reiten. Im Lauf der Zeit wurden die Kleidungsvorschriften verschärft, damit Juden als solche erkennbar blieben. Der mündlichen Tradition zufolge mochte Mohammed die Farbe Gelb nicht, deshalb wurde ein gelber Flicken auf der Kleidung oder eine gelbe Kopfbedeckung zum Erkennungszeichen der Juden.
Viel wäre zur Vertreibung der sephardischen und mizrachischen Juden zu sagen, zumal dieses Thema bis heute die muslimischen Historiker nicht zu interessieren scheint. Daher finden die etwa 900.000 jüdischen Flüchtlinge, die seit 1948 aus den arabischen Staaten und seit 1979 aus dem Iran geflohen sind, in den gegenwärtigen Debatten um Nahost auch kaum Erwähnung. Es herrscht ohrenbetäubendes Schweigen über den fast vollständigen Exodus der jüdischen Bevölkerung aus ihrer arabischen und persischen Heimat. Gut 99 Prozent der jüdischen Bevölkerung wurden vertrieben, ihre fast 2000 Jahre währende Kultur nahezu ausgelöscht.
Ist es wirklich so schwer, das Leid der Palästinenser und das Leid der Juden gleichermaßen anzuerkennen? Ich fürchte, dass selbst ein Waffenstillstand in Nahost den Antisemitismus dort nicht beenden wird. Seine Gründe wurzeln einfach zu tief. Erst wenn wir das zugeben, kann der Islam zu einer Religion des Friedens werden. Erst ein Schuldbekenntnis kann den Versöhnungsweg ebnen.
V. Conclusio
Eine jüdische Weisheit besagt: „In der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung“. So steht es in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Doch der vollständige Spruch lautet: „Das Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung“. Rabbi Baal Sehern Tov, der Gründer des Chassidismus, soll dies gesagt haben. Auch die Muslime könnten daraus lernen, dass kein Mensch, keine Gemeinschaft und keine Religion ihrer Vergangenheit entfliehen kann. Nur indem wir uns erinnern, vermögen wir uns zum Besseren zu verändern.
Im Koran heißt es: „Und erinnere! Das Erinnern nützt den Gläubigen“. Deshalb habe ich mein Buch über die Juden und den Koran geschrieben. Seit dem Erscheinen werde ich bedroht, muss mich um die Sicherheit meiner Familie sorgen. Auch darin fühle ich mich den Juden jetzt verbunden.

DIE JUDEN IM KORAN EIN ZERRBILD MIT FATALEN FOLGEN
VON ABDEL-HAKIM OURGHI
München: Claudius
264 Seiten| € 26,73 (Taschenbuch)
ISBN-13: 978-3532628881
Erscheinungstermin: 5. Januar 2024
Dieser Beitrag erschien erstmals in ZEIT Nr. 48/2023 und online unter: https://www.zeit.de/2023/48/antisemitismus-muslime-islam-juden-koran (letzter Zugriff: 15.08.2025). Die Redaktion der ZUKUNFT dankt Abdel-Hakim Ourghi und der ZEIT herzlich für die Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung.
ABDEL-HAKIM OURGHI
ist Islamwissenschaftler und lehrt in Freiburg. Sein neues Buch heißt Die Liebe zum Hass: Israel, 7. Oktober 2023. Erschienen ist es im Claudius Verlag
