Editorial ZUKUNFT 06/2025 VON CHRISTIAN ZOLLES, VERONIKA WIESER, ALESSANDRO BARBERI – APOKALYPSE

Die COVID-19-Pandemie und alle Krisenszenarien der letzten Jahre haben uns vor allem auch eines vor Augen geführt: dass die Vorstellungen, die wir uns zuvor von möglichen Apokalypsen gemacht hatten, höchst unzureichend waren. Die vielen reißerischen Filme und Bücher vom Weltuntergang ‚offenbarten‘ sich weitgehend als das, was sie immer schon waren, nämlich als auf die Standards des Massenkonsums ausgerichtete Unterhaltungsprodukte. Weder hatten sie derartige Szenarien vorhergesagt, noch konnten sie Wesentliches zur Lösung beitragen. Stattdessen kam es zu Situationen, die der Philosoph Jürgen Habermas in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau Mitte 2020 treffend so kommentierte: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“

Man erfuhr damit, dass wie jedes weitere Wissen auch jenes um Geschichte alles andere als eine ausgemachte Sache ist: dass es keine natürliche Linearität einer Gesamtgeschichte gibt, die irgendwo festgeschrieben wäre und dem Lauf der Zeit folgt, auf der wir uns also geruht treiben lassen könnten. Wir alle wurden vielmehr Zeuge davon, dass Geschichte im Grunde kontingent ist, unvorhersehbar, sprunghaft, in diese oder jene Richtung gestaltbar, ihre ZUKUNFT offen (warum sollten sich Dinge nicht ebenso schlagartig zum Besseren entwickeln können?). Und wir mussten auch erfahren, dass es keine selbstverständliche gemeinsame Geschichte und damit auch keine selbstverständliche gemeinsame Apo gibt.

Stattdessen setzte ein Kampf um Meinungshoheit ein, der bis heute weder abgeschlossen noch aufgearbeitet wurde und jeden Ansatz zu lähmen scheint, um den Katastrophen und Krisensymptomen der Gegenwart vernünftig begegnen zu können. Dies ist im Übrigen eine Aufgabe, die – man denke an die schwierige Zeit für Jugendliche in der Pandemiezeit – als generationenübergreifend zu verstehen ist. Diese Beobachtungen waren der Anlass für die Redaktion, das historische Wissen um die Apokalypse zu reaktivieren. Als eines der ältesten Zukunftsnarrative zieht sie sich durch die ‚westliche‘ Kulturgeschichte und hat bereits unzählige Endzeiten ‚durchgemacht‘. So scheint gerade jetzt der richtige Zeitpunkt zu sein, aus den Endzeitszenarien der Vergangenheit für die ZUKUNFT zu lernen.

Den Anfang macht dabei aber ein Blick aufs Heute: Slavoj Žižek sieht die apokalyptischen Reiter in der Gegenwart aufziehen, in Form von Pest, Krieg, Hunger und Tod. Dabei ist in der Moderne ein fünfter Reiter dazugekommen: der Mensch selbst, der sich seinen eigenen ökologischen Alptraum bereitet. Ob wir dem Untergang anheimfallen oder gerettet werden, liegt an uns selbst. Doch während das weltweite Bewusstsein für diese Bedrohungen zunimmt, hat es bisher nicht zu echtem Handeln geführt, und daher galoppieren die apokalyptischen Reiter schneller und immer schneller. Ein Aufwachen aus der kollektiven Lethargie sei das Gebot der Stunde, insbesondere gegenüber den russischen neoimperialistischen Ambitionen. Schließlich heißt es auch heute und wie immer schon: Apocalypse now!

Im Anschluss daran würdigt Georg Fülberth Friedrich Engels als den publizistischen Nachlassverwalter von Karl Marx. Engels habe immer wieder auf eine grundlegende Spannung der Moderne verwiesen, die zwischen Revolution und Apokalypse pendelt. Alles entscheidet sich damit an der Frage, ob das Proletariat vom unterdrückten Objekt zum selbstbefreiten Subjekt der Weltgeschichte werden konnte. Eingerechnet ist dabei auch die Frauenfrage und die bisherige „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“ – wobei wir, und hierüber lässt sich trefflich streiten, in Engels Perspektive noch weiterhin patriarchale Muster erkennen können. Wie dem auch sei, die positive Erwartung der Revolution sollte sich bei ihm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend verdüstern. Er sah mit zunehmender Panik, dass ein massenhaftes Gemetzel in großen Materialschlachten auch die Arbeiterbewegung unter sich begraben könne. Tatsächlich: Die Revolution, die dem zuvorkommen hätte müssen, blieb aus, stattdessen folgten im Zeitalter der Extreme (Eric Hobsbawm) die Apokalypse zweier verheerender Weltkriege.

Hat sich bereits Engels intensiv mit der Bibel und dem letzten Buch des Neuen Testaments, der Johannes-Apokalypse, beschäftigt, erreichen wir mit dem Beitrag von Martin Treml dezidiert religionsgeschichtliches Terrain. In einem Streifzug durch die Kulturgeschichte apokalyptischen Denkens und Wahrnehmens hebt er hervor, dass die ‚Apokalypse‘ nicht nur eine Kategorie der Theologie, sondern auch eine Wirklichkeit der Religionskultur darstellt. Selbst nach dem Versiegen früherer Glaubensformen feiern religiöse Aspekte im Alltag weiterhin wirkmächtige Nachleben. Die Apokalypse schlägt sich nach wie vor in visuellen und sprachlichen Bildern nieder und verweist damit auf eine alte Erkenntnis über das Verhältnis von Individuen und Gemeinschaften zur Geschichte und Geschichtlichkeit. So konnte sie immer wieder und auch noch gegenwärtig aktuell bleiben. Anhand von drei Bildern aus der Renaissance und mit einem Verweis auf den Religionsphilosophen Klaus Heinrich wird gezeigt, in welcher Form apokalyptische Darstellungen bis heute eine Faszinationssog auslösen können.

Der Beitrag von Catherine Feik führt vor, wie stark das Zeitalter der Reformation und der Glaubensspaltungen von endzeitlichen Narrativen getragen war. Seit der Gutenberg-Galaxis, also der Verbreitung des Buchdrucks ab der Mitte des 15. Jahrhunderts, war es schließlich prinzipiell jedem möglich, nicht nur das Evangelium unvermittelt zu erfahren, sondern sich auch in apokalyptischen Berechnungen zu üben. Die Folge war eine Flut an apokalyptischen Deutungen, Zuschreibungen und Propagandaschriften. Der ehemalige Mönch und Mathematiker Michael Stifel, der zu einem Anhänger der Reformation und von Martin Luther gefördert geworden war, entfernte sich mit spekulativen Endzeitberechnungen weit vom offiziellen Kurs. Das Nichteintreffen seiner Weissagung führte zur Festnahme Stifels eine Stunde nach Ablauf der Endzeitfrist und anschließendem Hausarrest. Die Reue über seine Verfehlung, zu der ihn der Teufel verführt habe, bewirkte eine Überstellung in Luthers Haushalt zur Belehrung. Die Apokalypse ließ, wie nicht zuletzt Thomas Müntzer und die aufständischen Bauern in Thüringen, Sachsen und im süddeutschen Raum Mitte der 1520er-Jahre schmerzhaft erfahren mussten, weiter auf sich warten.

Anhand von zwei Beispielen aus der mittelalterlichen Geißlerbewegung in Deutschland und Italien zeigen Esther Kalser und Charlotte Knörzer dann auf, wie tief der Glaube an die Endzeit im damaligen Bewusstsein verankert war und wie unterschiedlich er zum Ausdruck gebracht werden konnte. Im Zusammenspiel mit konkreten Bedrohungslagen sollten über extreme Formen der Buße soziale Veränderungen herbeigeführt werden. Dies rief die Obrigkeiten auf den Plan, welche die von den Bewegungen ausgehenden Gefahren abzuschätzen hatten. Während so die italienischen Geißler des 13. Jahrhunderts von der Kirche toleriert und dann teilweise integriert wurden, trafen die deutschen Geißler im 14. Jahrhundert auf erheblichen Widerstand. Besonders im Kontext von Pestepidemie und Wetterextremen, existenziellen sozialen Notlagen und gewalttätigen Ausschreitungen wurden sie als unkontrollierbar wahrgenommen. Diese Ausschreitungen konnten nicht zuletzt in Judenpogromen ausarten, die im Zeichen stereotyper Vorwürfe – Juden als Christusmörder – standen.

Veronika Wieser untersucht in ihrem Beitrag Himmelserscheinungen und extreme Wetterphänomene in der Spätantike und im Frühmittelalter. Sie geht der Frage nach, welche Rolle außergewöhnliche Naturereignisse im gesellschaftlich-politischen Kontext ihrer Zeit spielten. Dieser Zeitraum war in der Forschung lange durch sogenannte ‚Meistererzählungen‘ geprägt – etwa vom ‚Fall Roms‘ oder der ‚Völkerwanderungszeit‘. Wieser beleuchtet, wie apokalyptische Vorstellungen dabei Umbruch und Wandel thematisierten, und fragt zugleich, welche weiteren Faktoren – etwa klimatische oder epidemiologische – zur Stabilität oder Instabilität politischer Systeme beigetragen haben. Durch neue naturwissenschaftliche Methoden gewinnen wir heute tiefere Einblicke, etwa in die „Spätantike Kleine Eiszeit“, die zu gesellschaftlichem Wandel beitragen konnte. Welche Strategien der Krisenbewältigung lassen sich aus dem damaligen Umgang mit solchen Phänomenen ableiten? Und inwieweit können endzeitliche Deutungsmuster für die heutige Klimadebatte relevant sein? Gerade die Offenheit der Johannes-Offenbarung für verschiedenste Interpretationen macht sie zu einem Text, der auch im 21. Jahrhundert Anknüpfungspunkte für den Umgang mit Krisen und Zukunftsängsten bieten kann.

Im Anschluss daran setzt die Philosophin Ana Honnacker im Interview die aktuellen Endzeitphänomene in Bezug zu Fragen nach gelingendem (Zusammen-)Leben, demokratischer Lebensform und ökologischem Handeln. Was heißt es, angemessen auf die Klimakrise zu reagieren? Wie können wir populistischen und fundamentalistischen Bewegungen begegnen? Diese Themenkomplexe berühren Fragestellungen aus der politischen Philosophie ebenso wie aus der Religions- und Umweltphilosophie. Dabei sind es insbesondere zwei philosophische Referenzen, die eine zukunftsweisende Perspektive aufzeigen können: Auf der einen Seite der Pragmatismus nach William James, häufig als die demokratische Philosophie par excellence bezeichnet. Demokratie wird hier als Lebensform verstanden, die permanent in Nachbarschaften, in Familien, in allen Institutionen stattfindet, eingeübt und gelebt werden muss. Auf der anderen Seite weist die Kritik von Lebensformen durch Rahel Jaeggi darauf hin, dass wir zwar von Normalitätsvorstellungen geprägt, aber nicht vollständig bestimmt sind. Es gibt Spielräume für alternative Praktiken, und Lebensformen sind lernfähig. Wenn sie dysfunktional werden und ihre Normen keinen angemessenen Umgang mit der Wirklichkeit mehr erlauben, können sich andere Vorstellungen davon etablieren, was gut und richtig ist. Hier stoßen wir auf einen äußerst fruchtbaren Ansatzpunkt für apokalyptische Erzählungen.

Den Abschluss der Ausgabe macht ein – wie sollte es bei dem Thema anders sein – besonders bildgewaltiger Beitrag. Christian Zolles führt in das Werk des in New York ansässigen „letzten großen Malers der religiösen Ikonen“ Joe Coleman ein. Seit fünf Jahrzehnten hat er sich schonungslos an den Schattenseiten der amerikanischen Mythen abgearbeitet und die Apokalypsen des Alltags in eine besondere Ästhetik überführt. Mit A Doorway to Joe: The Art of Joe Coleman liegt nun eine umfassende Würdigung vor, in dem über 150 Gemälde als Ganzes und im Detail abgedruckt und erläutert sind. Der Band bildet eine unvergleichliche Fundgrube an obskuren und gewaltreichen Sittenbildern. Einer der Höhepunkte: Das Gemälde The Book of Revelation aus dem Jahr 1999, mit dem wir diese Ausgabe der Zukunft beschließen dürfen.

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

Christian Zolles, Veronika Wieser, und Alessandro Barberi

VERONIKA WIESER

ist Historikerin der Spätantike und des Frühmittelalters. Sie ist Expertin für die Kulturgeschichte der Apokalypse und am Institut für Geschichte der Universität Wien tätig. Sie lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: https://www.oeaw.ac.at/imafo/forschung/historische-identitaetsforschung/mitarbeiterinnen/veronika-wieser/

CHRISTIAN ZOLLES

ist Kulturhistoriker und Hochschul-/Lehrer. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an den Schnittstellen von historischer Grundlagenforschung, Geschichts- und Kulturtheorie und Literaturwissenschaft. Er lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: https://www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/.

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der ZEITSCHRIFT FÜR HOCHSCHULENTWICKLUNG (www.zfhe.at) sowie der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.