Mit seinem Beitrag Klassen-Job beleuchtet HELMUT PECHER unterschiedliche Anforderungen und Herausforderungen im österreichischen Bildungssystem, die von einem professionell ausgebildeten und habitussensiblen Personal über sozial selektierende Strukturfaktoren bis zu Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit reichen.
I. Einleitung
Klasse-Job heißt eine derzeit laufende Initiative des BMBWF für Schulen und Elementarpädagogik, die Quereinsteigende in das Bildungswesen locken soll, um immer größere Personallücken zu stopfen (https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/zrp/klassejob.html). Der Personalmangel, der Österreichs Bildungsinstitutionen fest im Griff hat, ist ein sichtbares Zeichen tiefer liegender Strukturprobleme und Herausforderungen. Denn neben dem Mangel an Lehrer*innen und Elementarpädagog*innen sind es vor allem auch strukturelle und personelle Faktoren, die echte Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe möglichst Aller erschweren und durch ihre Teilhabebeschränkungen die Umverteilung von Vermögen letztendlich perpetuieren.
So weiß etwa der ORF Report vom 26. März 2024 über das Bildungswesen in Österreich Folgendes zu berichten:
„Finnland hat auch eines der besten Schulsysteme der Welt. Vor allem auch, weil alle Kinder die gleichen Chancen bekommen, egal ob arm oder reich. Damit wird auch eine der größten Kritikpunkte an unserem Schulsystem artikuliert: Gute Bildung hängt hierzulande noch viel zu viel vom Bildungsgrad der Eltern ab.“
Jasmin Mrzena-Merdinger beschreibt in dieser Ausgabe der ZUKUNFT in ihrem Artikel Eine Frage von Klasse wie in Österreich die Verteilung von Eigentum, verglichen mit anderen Ländern der OECD, besonders ungleich ist: Die reichsten fünf Prozent der Haushalte besitzen demnach mehr als die Hälfte des gesamten privaten Vermögens womit Österreich den fünftletzten Platz von 38 Ländern belegt. Die Autorin führt – neben anderen Faktoren – auch Bildung als maßgebliche Ungleichheitserzeugungskomponente an. Der Zugang zu Bildung ist nach wie vor stark von der ökonomischen Situation der Familien abhängig. Bildungsprivilegien werden innerhalb sozialer Milieus verstärkt, wodurch Kinder aus einkommensschwächeren Familien mit begrenzten Ressourcen Barrieren und ungleiche Zugangsmöglichkeiten erfahren.
Die Zurverfügungstellung von ausreichenden (finanziellen) Ressourcen für Schulen sowie die Schaffung von vielfältigen und integrativen Lernumfeldern durch Lehrkräfte stellen jedoch potenzielle Ausgleichs-Komponenten dar. Auch Florian Rainer ortete in seinem Beitrag Bildung und das Versprechen der Gleichheit (ZUKUNFT 04/2021) gar eine Strategie der Herrschenden, klassenbezogene Unterschiede auch in Schulen nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten.
Man könnte hier zahllose Meinungsbeiträge, Studien, Forschungsarbeiten und Berichte zur Rolle der Institution Schule bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit und der Umverteilung von Vermögen anführen und damit Faktisches zeigen. Dass Bildungseinrichtungen als Schlüsselfaktor für sozialen Aufstieg gelten, ist weithin unbestritten. Nach wie vor prägen die soziale Herkunft und der sozioökonomische Status den Zugang zu besserer Bildung und letztlich auch zu entsprechenden Bildungsabschlüssen.
An dieser Stelle soll nun anknüpfend ein vertiefender Blick auf soziale Einflussfaktoren in Österreichs Schulen geworfen werden. Welchen Einfluss haben die in Schulen tätigen Lehrpersonen und wie prägen diese die Struktur? Welche Schrauben könnten Bildungsverantwortliche tatsächlich drehen, um Schulen zu einem Ermöglichungsort des Abbaus sozialer Schranken und milieubedingter Selektionshürden zu machen? Dabei bleibt festzuhalten: Klassenräume werden in ihrer sozialen Ganzheit zuallererst über die in ihnen tätigen Personen strukturiert.
II. Die Klassenlehrer*innen
Auch bei Lehrpersonen geht es mithin – in allen Wortbedeutungen – um die Frage der Klasse – oder der eigenen Herkunft und wie sehr diese die Art des beruflichen Handelns bestimmt. Zuallererst soll jedoch die grundsätzliche Bedeutung des Faktors Mensch bei der Gestaltung von Unterricht betont werden: „Auf die Lehrperson kommt es an.“ So lautet die viel zitierte Kernbotschaft des australischen Bildungsforscher John Hatti, der mit einer Megastudie darlegte, was guten Unterricht ausmacht. Der Umstand, wonach Unterricht gut strukturiert und von einer kompetenten Lehrperson gelenkt werden muss, hat längst Eingang in heimische bildungswissenschaftliche Diskurse und Bildungsprogramme gefunden. Taugliche Lehr- und Lernkonzepte, die die Unterschiedlichkeiten der Kinder auch entsprechend berücksichtigen, brauchen neben einer fachlichen Ausbildung vor allem auch ein entsprechendes soziales Einfühlen der Lehrenden. Doch welche Eigenschaften brauchen Lehrer*innen eigentlich, um überhaupt erst ein Bewusstsein für soziale Ungleichheiten und die Bedürfnisse Lernender zu entwickeln? Mögliche Antworten könnten in den herkunftsbezogenen Dispositionen zu finden sein. Persönlichkeitseigenschaften von Lehrpersonen werden häufig von ihrer Klassenzugehörigkeit mitbestimmt. Nimmt man die soziale Herkunft der Lehrer*innen als Gradmesser, dann wird die Vielfalt im Klassenzimmer jedoch eher unzureichend vom jeweiligen Kollegium widergespiegelt: Heimische Schulen im 21. Jahrhundert werden immer noch von bildungsbürgerlichen Wertevorstellungen der oberen Mittelschicht geprägt. Damit ist auch erklärbar, dass Fleiß und Disziplin (Mitarbeit! Hausübungen!) von der überwiegenden Mehrzahl der Lehrkräfte nach wie vor als taugliche Beurteilungs- und Selektionskriterien betrachtet werden. Und selbst wenn Lehrkräfte Verständnis und Bewusstsein für Problematiken wie soziale Ungleichheit und die damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln, so ist es oft ihr eigener beruflicher Werdegang, der ihre Handlungspraxen und Bewertungen prägend bedingt und der sozialen Ausgleich im Klassenraum erschwert. Diese Problematik bringt folgendes Zitat auf den Punkt:
„Lehrkräfte, die selbst einen Bildungsaufstieg erlebt haben, werden in dieses komplexe System einsozialisiert und passen sich an. Das macht es schwierig, dieses System aufzubrechen.“ (https://deutsches-schulportal.de/schulkultur/habitussensibilitaet-warum-lehrkraefte-der-eigenen-haltung-mit-skepsis-begegnen-sollten/)
Dabei können gerade eine habitussensible Unterrichtstätigkeit und Beziehungsarbeit entscheidend dazu beitragen, bei Kindern jene Potenziale zu entfalten, die den Ungleichheitsfaktor verringern. Wie können beim Bildungspersonal habitussensible Eigenschaften gefördert werden? Erstens könnten Steuerungsmechanismen schon bei der Berufswahl dazu beitragen, eine entsprechende soziale Durchmischung zu bewirken. Zweitens lohnt ein näherer Blick auf das Studium, Praxisphasen oder auch auf die sensible Phase des Berufseinstiegs, da hier Handlungsmuster grundgelegt werden, die die spätere Art der Berufsausübung prägen. Drittens kann den Ermöglichungsbedingungen zum Hinterfragen und Neubewerten eigener habitueller Vorstellungen Raum gegeben werden – diese könnten sogar aktiv eingefordert werden. Eine Neubewertung des eigenen Habitus im Zuge von wie immer gearteten transformatorischen Prozessen würde sowohl die eigenen Vorstellungen des Denkens als auch des Handelns nachhaltig beeinflussen. Komplexe Herausforderungen im sozialen Umfeld stellen so zumindest eine Ermöglichungsbasis für Habitusneubewertungen dar. Der Habitus von Lehrer*innen ist somit keinesfalls als starres, unveränderliches Konstrukt zu begreifen, sondern ist unter bestimmten, herbeizuführenden Umständen durchaus flexibel und veränderbar (vgl. Koller 2023).
Letztendlich gilt es aber auch, die Struktur der Schule insgesamt kritisch unter die Lupe zu nehmen. Der eingangs zitierte John Hattie übt in einem im Mai veröffentlichten Interview mit der Augsburger Allgemeinen scharfe Kritik am (deutschen) Bildungssystem, wo enormes Potenzial verloren ginge, indem man Kindern einen (sozialen) Stempel aufdrücke (vgl. https://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/interview-paedagogik-star-john-hattie-eltern-muessen-die-liebe-zum-lernen-wecken-id70622496.html).
Deutlich bleibt dabei: Der Ort, an dem sich soziale Gegensätze, Chancenungleichheiten und letztlich auch Umverteilung verdichtend manifestieren, ist der Klassenraum (durchaus im doppeldeutigen Sinn zu verstehen).
III. Der Klassenraum
Der Klassenraum kann materiell als Raum des Lehrens und Lernens in Schulen gesehen werden, in dem die materielle Ausstattung, die soziokulturelle Zusammensetzung der Schüler*innen und die Person der Lehrkraft maßgebliche Faktoren darstellen. Symbolisch stellt der Klassenraum auch jenen Sozialraum dar, der soziale Selektionskriterien und gesellschaftsbezogene Umverteilungsmechanismen manifest werden lässt.
Pierre Bourdieus Annahme, dass Schulen es rein durch ihre Struktur und Ausgestaltung bildungsfernen Schüler*innen erschweren, ja fast verunmöglichen würden, einen entsprechenden Bildungsaufstieg zu schaffen (vgl. Bourdieu 2001), taugt nach wie vor als soziologische Brille für das Bildungswesen Österreichs im Jahr 2024. Die Position im sozialen Raum – also etwa der Beruf und das Einkommen der Eltern – ist wohl nach wie vor entscheidend für die Bildungslaufbahn vieler Kinder. Gemäß Bourdieu hat man es mit „verborgenen Mechanismen der Macht“ (Bourdieu 2005) zu tun, die – zu einem großen Teil unbewusst – Barrieren aufbauen und Kindern den Zugang zu bestimmten Bildungskarrieren von vornherein verwehren.
Hier ist an erster Stelle der viel diskutierte frühe Selektionsmechanismus nach der vierten Schulstufe zu nennen. Von dieser Selektion hauptbetroffen sind vor allem Kinder mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Milieus. Auch wenn, wie in der kürzlich veröffentlichten Studie 10 Jahre Regelschule – die (Neue) Mittelschule (Jesacher-Rößler/Kemethofer 2024) den in Mittelschulen tätigen Lehrer*innen zugebilligt wird, Kinder mit nicht deutscher Muttersprache und aus niedrigeren sozialen Schichten stärker zu unterstützen, so kann dieser Schulform leider trotzdem keine Erfolgsgeschichte zugeschrieben werden. Die sozialen Unterschiede im Übergang nach der Volksschule sind hier sogar noch größer geworden. Schüler*innen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernem Milieu besuchen nun noch öfter die Mittelschule und seltener die AHS-Unterstufe als vor der Einführung dieser Schulform. Die Chancen, nach einer Mittelschule in eine AHS-Oberstufe oder BHS zu wechseln, sind zwar leicht gestiegen, allerdings brechen nun mehr Schüler*innen mit einer Mittelschul-Vorbildung die maturaführende Schule auch wieder ab.
Aufnahmevoraussetzungen für die Aufnahme in die AHS-Unterstufe sind mindestens die Note „Gut“, oft schon „Sehr gut“ in den Fächern Deutsch, Lesen und Mathematik im Volksschulzeugnis. Ein Umstand, der den Leistungsdruck erhöht und viele Eltern (die es sich leisten können) schon Nachhilfestunden für 6- oder 7-jährige in Anspruch nehmen lässt. So wird bereits im kindlichen Alter der Grundstein für eine entsprechende soziale Segregation gelegt. Kinder, die dem Leistungsdruck in der AHS dann nicht gewachsen sind, landen häufig nach einigen Monaten in der Mittelschule. Und auch wenn Mittelschulen häufig gut und moderner ausgestattet sind, so stehen Lehrer*innen durch die dort vorgefundene Ballung von sozialen Herausforderungen und Sprachbarrieren vor großen Hürden, was einen zu erreichenden Lehr- und Lernerfolg nicht einfacher werden lässt. Der Comic On a Plate des australischen Künstlers Toby Morris illustriert die herkunftsbezogene Chancenungleichheit treffend:
Es ist kein Zufall, dass gerade in ärmeren Wohngegenden und soziökonomisch schwächeren Gebieten viele Bildungseinrichtungen als Problemschulen gelten. Dieser Umstand wird durch Mechanismen der Schulplatzwahl noch zusätzlich verstärkt, womit sich die Annahme, dass eine freie Schulplatzwahl zu mehr Wettbewerb und mehr sozialer Gerechtigkeit führen würde, nicht bestätigt hat. Differenziert man konkret zwischen Chancengleichheit und Umverteilung (vgl. https://makronom.de/warum-wir-mehr-umverteilung-brauchen-17317) so bedeutet ein theoretisch vorhandener, gleicher Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten nicht automatisch, dass dieser auch bei den Kindern aus bildungsfernen Milieus ankommt. Denn abgesehen von den schon herkunftsbezogenen Hürden (siehe erster Abschnitt) und der Segregation durch die frühe Trennung in Mittelschulen und AHS würde es – um tatsächlich die Klassenstruktur im Sinne einer Umverteilung zu ändern – viel weitreichender und strukturell wirkender Maßnahmen erfordern. Schulen in sozioökonomisch problematischen bzw. strukturschwachen Wohngegenden würden neben einer ausreichenden Finanzierung durch die öffentliche Hand, nachhaltig wirkender Strukturförderprogramme auch das beste verfügbare Schulpersonal benötigen. In Österreich existieren zwar zusätzliche Förderprogramme, die sog. „Brennpunktschulen“ ein zusätzliches Budget zur Verfügung stellen, aber es scheint fraglich, ob derartige Unterstützungsmaßnahmen tatsächlich nachhaltig wirken oder ob diese nicht eher eine Alibimaßnahme darstellen. Tatsächliche, strukturändernde Maßnahmen, die eine Umverteilung auch nachhaltig über mehrere Generationen bewirken, sind derzeit leider weit und breit nicht in Sicht.
Kreiskys Bildungsversprechen hat Österreich viel Gutes gebracht, jedoch ist davon manches schon wieder aufgeweicht oder verschwunden. Viele Schulen verlangen Kostenbeiträge und so manche Schulutensilien belasten das Budget ärmerer Familien. Auch Initiativen wie die Geräteinitiative mit digitalen Endgeräten können selektierend wirken: es macht eben einen Unterschied, ob kaputte Endgeräte durch die Eltern rasch repariert oder ausgetauscht werden oder ob Kinder dann monatelang ohne Laptop oder iPad in der Klasse sitzen.
IV. Klassische Stichwörter
Es gäbe im österreichischen Bildungswesen viele sozial wirkende Stellschrauben, an denen gedreht werden könnte, große wie kleine. Manche sind klassisch, seit Jahrzehnten bekannt und ideologisch umstritten, andere in ihrer sozialen Klassenbezogenheit durchaus aktuell. Gemeinsam ist den nun beschriebenen Einflussfaktoren, dass jeweils die Person und die Struktur gleichermaßen betroffen sind.
Gesamtschule: Mit der Volksschule existiert bereits eine gut funktionierende Gesamtschulform. Die Selektion am Ende der vierten Schulstufe bringt im Grunde viele Nachteile – soziale wie bildungsbezogene. Der Schritt zu einer gemeinsamen Schule der 10- bis 14-jährigen wäre eigentlich nur mehr ein kleiner: die vereinheitlichte Lehrer*innenbildung, dieselben Lehrpläne und Schulbücher, dasselbe Dienstrecht und dieselben Bewerbungsportale stellen zumindest vonseiten des Lehrpersonals keine Hürden mehr dar. Notwendig zur Umsetzung ist lediglich eine politische Willensentscheidung.
Ganztagsschule: Verschränkte Ganztagsschulen sind in Österreich – trotz gegenteiliger Versprechen und Zusicherungen – nach wie vor ein Minderheitenprogramm. Diese Idealform, in der sich Unterricht, Lern- und Freizeit über den Tag abwechseln, wird derzeit lediglich von 224 Standorten angeboten. Dabei zeigt der internationale Vergleich, dass ganztägige Schulformen vor allem die Bildungschancen von Kindern, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder Migrationshintergrund haben, entscheidend steigern würde.
Hausübungen: Hausübungen genießen in Österreich eine gute, alte Tradition. Die meisten Lehrkräfte schwören darauf, jedoch sind Hausübungen aber vor allem eines: nutzlos und selektierend. Einerseits fehlen schlüssige Belege zu deren Lernwirksamkeit, andererseits wird damit Lernstofffestigung oder sogar -erarbeitung von der Schule zurück an Elternhäuser delegiert. Damit zementieren Hausübungen im Grunde die soziale Ungleichheit. Eltern mit entsprechendem Bildungshintergrund können auch eher bei den Hausaufgaben helfen und ihre Kinder entsprechend unterstützen. Eine Abschaffung (wie kürzlich in Polen verordnet) und eine Ersetzung durch sozial gerechtere Formen der Lernstoffvertiefung wäre eine vergleichsweise leicht zu setzende Maßnahme.
Mittagessen: Die Bedeutung eines warmen Mittagessens in Bildungseinrichtungen sollte nicht unterschätzt werden. Viele Kinder haben zuhause keine Möglichkeit, eine warme und vor allem gesunde und ausgewogene Mahlzeit zu erhalten. Hier sei auf das richtungsweisende Leuchtturmprojekt von SPÖ-Chef Andreas Babler verwiesen, der gemeinsam mit Spitzenkoch Sepp Schellhorn das Projekt Volxküche Traiskirchen ins Leben gerufen hat, um das Versprechen nach einem schmackhaften, gesunden und warmen Essen für alle Kinder einzulösen und so einen Beitrag zu gesunder Kinderernährung zu leisten.
Nachhilfe: Eine aktuelle Studie der Arbeiterkammer (AK) zeigt, dass fast jedes zweite Kind (49 %) in Österreich Nachhilfe bekommt, was einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr (30 %) bedeutet. Zwar ist das auch auf das gestiegene Angebot der Gratis-Nachhilfe zurückzuführen, jedoch sind die Ausgaben für bezahlte Angebote auf 168 Millionen Euro angestiegen. Und klar ist auch: (Bezahlte) Nachhilfe wird vornehmlich von ökonomisch besser gestellten Familien in Anspruch genommen, wodurch die soziale Bildungsschere auch dadurch noch weiter auseinander geht.
Elementarbereich: Viel zu wenig im Blick haben Bildungsverantwortliche den Elementarbereich. Dabei gilt, dass je früher mit dem Lernen begonnen wird, desto eher das Kind davon auch profitiert. Herkunftsbezogene Unterschiede werden allzu oft schon im frühkindlichen Alter grundgelegt. (Verpflichtender) Kindergartenbesuch ab drei Jahren, Reduktionen der Gruppengrößen, frühpädagogische Konzepte, Ausbildungsinitiativen, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung des Personals wären nur einige der zu nennenden, notwendigen Faktoren. Eine erste Selektion erfolgt bereits beim Eintritt in die Volksschule. Kinder mit unzureichenden Sprachkenntnissen werden häufig zurückgestuft, zudem nehmen manche Eltern für die Wunschschule ihrer Kinder lange Schulwege in Kauf.
Lehrperson: Der wohl wichtigste Faktor im Bildungsumfeld Schule ist und bleibt die Lehrperson. Sei es als Ausgleichsfaktor sozialer Unterschiede, sei es zur gediegenen Wissensvermittlung oder sei es in der Eigenschaft als vermittelnde, pädagogische und erzieherische Instanz. Um Lehrpersonen zu erhalten und zu halten, die im Sinne des Abbaus sozialer Hürden und der Verminderung von Umverteilungsmechanismen wirken, braucht es neben dem Rückhalt aus Politik und Verwaltung, neben erträglichen Arbeitsbedingungen, neben einer anständigen Bezahlung und neben sinnvollen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten zur persönlichen und sinnstiftenden Professionalisierung vor allem eines: gesellschaftliche Wertschätzung. So notwendig die jetzigen Personalbeschaffungsinitiativen wie Quereinstieg und Teach for Austria auch sind – um ein zufriedenes und gut ausgebildetes Fachpersonal in ausreichender Zahl wird man zukünftig nicht umhinkommen. Die Zahlen zeigen, dass es vor allem in Mittelschulen vergleichsweise häufiger an ausgebildetem Lehrpersonal fehlt und hier häufig Student*innen und Quereinsteiger*innen unterrichten, die das jeweilige Unterrichtsfach nicht studiert haben (in manchen Fächern und Bundesländern beträgt die Quote der Fachungeprüften in Mittelschulen bereits deutlich mehr als 50 %).
V. Conclusio
Gerechte, sozial ausgleichende Klassenräume und habitusreflektierende Klassenlehrer*innen sind das Gebot der Stunde. Ein Neudenken des Bildungswesens in Österreich wäre daher auf vielen Ebenen eine vielversprechende und langwirkende Investition. Schulen (und das in ihnen tätige Personal) sollten von Bildungsverantwortlichen als bedeutsam, demokratiefördernd und sozial ausgleichend wahrgenommen werden. Denn hier werden gesellschaftliche Ausverhandlungsprozesse geübt und auch durchgeführt. Nötige Ressourcen sollten bereitgestellt und (mit Bedacht) ausgeschüttet werden, wobei neben der Strukturförderung und Schulfinanzierung auch das Lehrpersonal stärker in den Blick genommen werden muss. Klar ist aber: Schulen sind auch nicht isoliert zu betrachten – Teilhabe, Chancengleichheit und Umverteilung sind gesamtgesellschaftlich zu verstehen. Hier sei zum Abschluss wieder auf Pierre Bourdieu verwiesen: Schulen als soziale Räume werden von den in ihr tätigen Menschen geformt, die diese Struktur immer wieder aufs Neue strukturieren. Die Art, wie sie das tun, kann aber verändert werden. Es gilt dabei, die Klasse immer im Blick zu haben: die manifeste, materielle in Schulen wie auch die eigene. Denn der Klassenkampf beginnt in unseren Schulklassen und läuft über die Klassifikationen der Lehrenden.
HELMUT PECHER
war lange Zeit Sekundarstufenlehrender und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich. Derzeit forscht und lehrt er an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien/Krems.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. 2 Vorlesungen, Frank-furt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (2005): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, Hamburg: VSA.
Bourdieu, Pierre (2001): Die konservative Schule, in: (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt: Über Bildung, Schule und Politik, Schriften zu Politik & Kultur, Vol. 4, Hamburg: VSA, 25–52.
Hattie, John/Zierer, Klaus (2019): Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis, Hohengehren: Schneider.
Jesacher-Rößler, Livia/Kemethofer, David (Hg.) (2024): 10 Jahre Regelschule – die (Neue) Mittelschule, Münster/New York: Waxmann.
Rutter, Sabrina/Weitkämper, F. (2022): Die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit in der Schule, Gütersloh: BertelsmannStiftung, online unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/die-re-produktion-sozialer-ungleichheit-in-der-schule (letzter Zugriff: 01.07.2024).
Koller, Hans‑Christian (2023): Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart: Kohlhammer.