GERHARD KUSCHNIG hat für die Leser*innen der ZUKUNFT eine Reihe von Argumenten zu den EU-Wahlen zusammengestellt, die als Argumentationshilfe ebenso nützlich sind, wie als nachdrückliche Aufforderung, zu den Urnen zu gehen.
I. Einleitung: Wer und was wird gewählt? Wie wird gewählt?
Es werden bei den kommenden EU-Wahlen die Abgeordneten zum europäischen Parlament gewählt. Diesmal werden 720 Abgeordnete statt 705 wie bisher gewählt (Österreich wählt 20 Abgeordnete). Gewählt werden Parteilisten in jedem Mitgliedsstaat. Die Kandidat*innen werden von jeder kandidierenden Partei in jedem Mitgliedsstaat nominiert. Im jetzigen Parlament hat die ÖVP 7, die SPÖ 5, die Grünen 3, die FPÖ 3 Vertreter*innen und die NEOS 1. Die EU-Wahlordnung entspricht der Nationalratswahlordnung. Der wichtigste Unterschied ist, dass es nur einen Wahlkreis gibt (zum Vergleich: bei der Nationalratswahl sind es 39 Regionalwahlkreise). Die Parteien schließen sich im EU-Parlament zu Fraktionen zusammen. Die SPÖ ist Teil der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D), die zurzeit 144 von 705 Abgeordneten stellt. Die Fraktionen wählen eine Spitzenkandidaten oder eine Spitzenkandidatin, der/die von der jeweiligen Fraktion zum/zur Kommissionspräsidenten oder -präsidentin vorgeschlagen wird. Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten ist der luxemburgische EU-Kommissar Nicolas Schmit. Vorzugsstimmen innerhalb der Parteilisten sind erlaubt. Wie mit Vorzugsstimmen umgegangen wird, entscheidet jede Partei für sich.
II. Was macht das EU-Parlament?
Das EU-Parlament muss allen EU-Gesetzen (Richtlinien und Verordnungen) sowie – gemeinsam mit dem europäischen Rat – dem Budget zustimmen. Es entscheidet auch über den/die Kommissionspräsidenten/-präsidentin. Das Parlament hat keine Kompetenz zur Einbringung von Gesetzen. In Österreich ist das Parlament grundsätzlich für die Gesetzgebung zuständig. In derEU schlägt die Kommission Gesetze vor. Das Parlament kann diesen Vorschlägen zustimmen oder sie ablehnen. Im November 2023 gab es einen Entschließungsantrag des Parlaments, in dem gefordert wurde, dass auch das Parlament Gesetzesvorschläge einbringen kann. Die SPÖ hat diesen Antrag unterstützt. Nach der Wahl wählt das Parlament den oder die Kommissionspräsidentin und – nach Hearings – die Kommissar*innen.
III. Warum soll frau/man die SPÖ wählen
Die Grundwerte der SPÖ sind Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Diese Werte sind auf allen Ebenen – Gemeinde, Land, Bund, EU und global –Grundlage der Politik der SPÖ. Die Verwirklichung dieser Werte basiert auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung.
- Demokratie bedeutet für die Sozialdemokratie eine Methode zur Erarbeitung von Lösungen und zur Lösung von Konflikten. Demokratie und die Teilnahme an Entscheidungsprozessen kann deshalb kein Privileg sein. Das aktive und passive Wahlrecht von Staatsbürger*innen mit nicht-östrreichischer Staatsbürgerschaft bei Wahlen zu Interessensvertretungen und Kammern in Österreich zeigt, dass dies konstruktiv und problemlos ist. Zur Demokratisierung auf europäischer Ebene tritt die SPÖ für eine verstärkte Einbindung der nationalen Parlamente in den Entscheidungsprozess und die Ausweitung von Bürgerkonsultationen ein.
- Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass staatliches Handeln nur aufgrund von durch gewählte Institutionen beschlossene Gesetze erfolgen darf. Für die Sozialdemokratie heisst das auch, dass der Zugang zum Recht für Alle –unabhängig von vor allem finanziellen Schranken – ermöglicht werden muss. Auf europäischer Ebene heißt das weiters, dass vor allem Konsument*innenrechte von staatlichen oder kollektiv organisierten Organisationen geschützt werden müssen.
- Gewaltenteilung ist das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Sie ist unabdingbar für eine freiheitliche, gerechte und soziale Entwicklung der Gesellschaft. Die SPÖ wendet sich daher gegen alle Versuche – wie in Ungarn oder der PIS-Regierung in Polen – die Gewaltenteilung aufzuheben oder parteipolitisch zu instrumentalisieren. Neben diesen drei traditionellen Gewalten wird heute die öffentliche Meinung – die Medien – als vierte Gewalt betrachtet. Die SPÖ bekennt sich dazu und tritt für unabhängige öffentliche Medien ein, die über allgemeine Abgaben finanziert werden. Meinungsvielfalt muss auch durch staatliche Förderungen unterstützt werden.
Darüber hinaus strebt die SPÖ auf allen Ebenen die Sicherung und den Ausbau eines Sozial- und Wohlfahrtsstaates an. Der Sozialstaat geht über ein soziales Netz für Notfälle weit hinaus. Er stellt ein Vermögen der gesamten Gesellschaft und jeder einzelnen, jedes einzelnen dar. Dieses solidarisch geschaffene Vermögen soll ALLEN ein möglichst sorgenfreies Leben in allen Lebenslagen und Altersstufen gewährleisten. Zusätzlich soll der Sozial- und Wohlfahrtsstaat uns vom Existenzkampf befreien und uns so die Teilhabe an der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung ermöglichen.
IV. Umsetzung dieser Werte, Methoden und Ziele auf europäischer Ebene
Grundlegend ist im Blick auf Europa die Erkenntnis, dass soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen in der heutigen, globalisierten Welt auf nationaler Ebene alleine nicht zufiedenstellend erreicht werden können. Im hegelschen Sinn ist der Nationalismus (Selbstbestimmung der Völker) die Antithese zu den Imperien (eingeschränkte religiöse und kulturelle Toleranz, aber keine Mitbestimmung und Herrschaft einer – meist ethnisch bestimmten – Oberschicht). Aufgrund der durch den Nationalismus entstandenen Konkurrenzsituationen und Kriege entwickelte die Sozialdemokratie die „Internationale Solidarität“ als Synthese.
Auf europäischer Ebene versucht die SPÖ die Beschränktheit rein nationaler Politik zu überwinden. Die SPÖ tritt natürlich für die Interessen Österreichs ein, aber nicht unbedingt zum Nachteil anderer Staaten. Die SPÖ ist bemüht Bedingungen zu schaffen, bei denen es zu Win-win-Situationen für alle Mitgliedsstaaten kommt. In der Überzeugung, dass es für das Wohl Österreichs und die Gestaltung einer sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft unabdingbar ist, entschloss sich die SPÖ nach Ende des „Kalten Kriegs“, den Beitritt zur EU anzustreben. 1995 erfolgte dieser nach einer Volksabstimmung (66 % Zustimmung). Diese Entscheidung erwies sich als erfolgreich
IV.I Exkurs
Richtig ist, dass Österreich (und alle anderen Mitgliedstaaten) der EU Kompetenzen abgegeben hat. Zu fragen ist aber, welche Kompetenzen Österreich praktisch außerhalb der EU hätte. Historisch gesehen ist festzustellen, dass Österreich vor dem EU-Beitritt seine Währungspolitik an Deutschland angebunden hatte (1 DM = 7 Schilling). Eine Mitbestimmung war nicht gegeben. Die Wirtschaftspolitik war grundsätzlich an die Entscheidungen der wichtigsten Handelspartner und Exportmärkte ausgerichtet. Eine eigenständige Gestaltung der Handels- und Außenwirtschaftspolitik war nicht vorhanden. Es konnte nur reagiert werden. Bei Handelsabkommen war Österreich aufgrund der relativen Wirtschaftsmacht gezwungen, den Forderungen nachzugeben (EWG, USA, UK).
In der EU haben kleinere Staaten tendenziell mehr Rechte. Österreich hat 1,8 % der Einwohner*innen in der EU (ca. 450 Mio.) aber 2,7 % der Abgeordneten (19 von 705). Jeder Mitgliedsstaat hat eine(n) Kommissarin oder Kommissar und im Rat ist jeder Mitgliedsstaat mit gleichem Stimmgewicht vertreten. Das gleiche gilt grundsätzlich für die Europäische Zentralbank (EZB), den Ausschuss der Regionen und den Sozial- und Wirtschaftsausschuss. Das heißt, die Mitentscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sind de facto für Österreich innerhalb der EU grösser und besser als außerhalb.
V. Finalität der EU
Der Begriff Finalität bezeichnet die Diskussion um die ZUKUNFT der EU. Wohin soll sich die EU entwickeln? Wirtschaftsgemeinschaft, Bundesstaat oder etwas Abgestuftes dazwischen? Die SPÖ hat dazu keine explizite Meinung und sieht das pragmatisch nach dem Motto: „Der Weg ist das Ziel“. Vorausgeschickt werden muss: in der EU herrscht das Prinzip der Subsidiarität. Das bedeutet, dass übergeordnete Ebenen nur dort und nur so weit eingreifen sollen, müssen, dürfen, soweit die unteren Ebenen Probleme nicht eigenständig lösen können. Dieses EU-Prinzip entspricht unserem Föderalismus, der die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden regelt. Die EU ist eine vierte Ebene. Die Kompetenzverteilung vor allem zwischen EU und Mitgliedsstaaten sind zwar in den Verträgen beschrieben. Aber da es auch geteilte Kompetenzen gibt, ist es eine Frage der Politik, wie Entscheidungen zustande kommen. Ein weiterer Punkt ist, dass es beim Rat der Europäischen Union (Minister*innen der Mitgliedsstaaten zu jeweiligen Politikbereichen) zu gemeinsamen Beschlüssen kommen kann, auch wenn die Kompetenzen grundsätzlich bei den Mitgliedsstaaten liegen. Das EU-Parlament muss natürlich jedem Gesetz zustimmen.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass es – auch wenn es nur eine Wirtschaftsunion mit einem gemeinsamen Binnenmarkt gibt – zu einer Angleichung der Rahmenbedingungen kommen muss, um keine Ungleichgewichte entstehen zu lassen. Diese Rahmenbedingungen sind Arbeitsrecht, Steuern, Sozialabgaben usw. Die europäische Sozialdemokratie hat freilich auch das Ziel, für alle Bürger*innen der Europäischen Union einen Sozial- und Wohlfahrtsstaat zu schaffen.
VI. Einwanderungs- und Asylpolitik (Migration)
Die Kompetenzen der EU liegen großteils bei den Mitgliedsstaaten. Aber alle Mitgliedsstaaten sind natürlich an die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention gebunden (Österreich war das auch schon vor dem EU-Beitritt). Dieses Problem zeigt auf, dass es an Solidarität in der EU mangelt. Das Dublin-Abkommen (1990, Österreich trat erst 1995 bei) ist ein völkerrechtlicher Vertrag und legt fest, welcher Mitgliedsstaat in der EU für die Prüfung von Asylanträgen zuständig ist. Dieser Vertrag und die entsprechende EU-Verordnung (Dublin-III) wird aber von keinem Mitgliedsstaat eingehalten. Die EU-Asylpolitik beschränkt sich auf die Sicherung der EU-Außengrenzen (Frontex), dem Abschluss von Flüchtlingsabkommen (z. B.: Türkei) und der Koordinierung von Rückführungsabkommen. De facto entscheidet jeder Mitgliedsstaat über seine Asyl- und Flüchtlingspolitik. Über die legale Einwanderung (Arbeitskräftewerbung, Zugang von Student*innen aus Drittländern sowie Aufenthaltserlaubnis von sonstigen Einwanderungswilligen entscheidet jeder Mitgliedsstaat.
VII. Conclusio
In Zeiten der Globalisierung kann kein Land sich autonom entwickeln, da es auf mehreren Ebenen mit lokalen, nationalen, kontinentalen und weltweiten Entscheidungsprozessen verbunden ist. Deshalb ist es auch für Österreich vonnöten, sich auf europäischer Ebene einzubringen, um die ZUKUNFT unseres Landes sozialdemokratisch gestalten zu können. Deshalb ist es auch so wichtig, das wir alle unser Europa mitbestimmen und wählen gehen.
GERHARD KUSCHNIG
war Mitarbeiter im Magistrat der Stadt Wien (Wiener Wasser). Seit 2023 ist er in Pension und engagiert sich im Rahmen der SPÖ Margareten.