Orte der Erinnerung. Interview mit Ana Loureiro – VON ANA LOUREIRO UND ELISABETH KAISER

ANA LOUREIRO, die Künstlerin unserer Bildstrecke, gibt im Rahmen dieses Interviews, das sie dankenswerterweise ELISABETH KAISER und damit der ZUKUNFT gegeben hat, Einblicke in ihre Philosophie, ihre Inspirationen und ihre Produktionsweise. Damit wird auch die visuelle Reise unserer Ausgabe als Serie von Orten der Erinnerung les- und sichtbar.

Elisabeth Kaiser (E. K.): Liebe Ana, ich freue und bedanke mich gleichzeitig, dass Du Arbeiten von Dir in unserer aktuellen Ausgabe der ZUKUNFT zeigst und Dich als Künstlerin vorstellst. In unserer zweiten Ausgabe zum Schwerpunktthema Europa – Wahlen wollen wir uns nochmals mit Europapolitik anhand verschiedener Facetten auseinandersetzen. Schön, dass Du Dich auch bereit erklärt hast, mit mir ein Interview zu führen. Du lebst und arbeitest seit einiger Zeit in Wien. Ursprünglich kommst Du aus Portugal, was hat Dich nach Wien verschlagen? Wie fühlst Du Dich hier in dieser Stadt, was hat Dich dazu bewogen in Wien Deine Homebase aufzuschlagen und wo siehst Du im täglichen Leben Unterschiede zu Portugal?

Ana Loureiro (A. L.): Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung zu diesem Interview und die Aufnahme in die Juni-Ausgabe der ZUKUNFT! Als ich in meinem letzten Studienjahr an der Fakultät für Bildende Kunst in Porto war, dachte ich, dass es eine bereichernde Erfahrung sein könnte, mich für ein Austauschsemester in einem anderen Land zu bewerben. Die Akademie der bildenden Künste in Wien war einer der Partner des Austauschprogramms und ich hörte eigentlich nur Positives über die Akademie und die Wiener Kunstszene. Zu dieser Zeit befand sich Portugal in einer schrecklichen wirtschaftlichen Rezession. Die Arbeitslosenzahlen waren extrem hoch, es gab massive Kürzungen in den wichtigsten Sektoren, was viele hochqualifizierte Menschen meiner Generation dazu veranlasste, das Land auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen zu verlassen. Ich war einer von ihnen.

Im Februar 2013 kam ich in Wien an. Es war mein erstes Mal in der Stadt und ich war fasziniert von ihrer Schönheit und der lebendigen und internationalen Kunstszene. Ich hatte das Glück während meines Semesters an der Akademie sehr freundliche und inspirierende Menschen kennenzulernen und konnte mich mit dem Kunstansatz hier sehr gut identifizieren. Während meines Studiums an der Akademie begann ich, mein Künstlernetzwerk aufzubauen.

Nach Abschluss meines Studiums traf ich die Entscheidung, dauerhaft in Wien zu bleiben, um bessere Möglichkeiten als Künstlerin zu finden. Die Integration ist nie einfach und ein ständiger Prozess. Selbst wenn man aus einem anderen europäischen Land kommt, sind viele Dinge hier anders: die Sprache, das Essen, das Wetter, die Verhaltensweisen, die Art zu leben und die Prioritäten. Außerdem ist es sehr kompliziert, allein und weit weg von der Familie und den Freunden zu sein. Ein Aspekt, der mir an Wien gefällt und es zu einem besonderen Ort macht, sind die unabhängigen Kunsträume und gemeinnützigen Organisationen, von denen die meisten von Künstler*innen geleitet werden. Diese Arbeit für die Künstler*innengemeinschaft ist erstaunlich und extrem wichtig für die Stadt und die Kultur des Landes. Deshalb ist es auch so wichtig, diese Räume am Leben zu erhalten und sie finanziell zu unterstützen.

E. K.: Als Visual Artist arbeitest Du mit unterschiedlichen Materialien. Welche Rolle spielen die Unterschiede der Materialien in Deinem künstlerischen Zugang? Was möchtest Du in Deinen Arbeiten ausdrücken?

A. L.: Für mich spielen die Materialien und Techniken in meinen Kunstwerken eine sehr wichtige Rolle. Ich versuche immer, meine Werke mit dem zu „füttern“, was sie brauchen, um die von mir gewünschte Botschaft zu vermitteln. Selbst nach vielen Experimenten ist es manchmal nicht einfach, einen klaren Weg zu finden.

Wenn ich merke, dass die Fotografie die bessere Wahl ist, dann fotografiere ich. Wenn ich das Gefühl habe, dass Zeichnen die beste Option ist, dann tue ich es. Wenn 3D-Design den Aspekt bietet, den ich suche, dann versuche ich, es zu lernen. Natürlich weiß ich um meine Grenzen. Mein Hauptstudiengang ist Bildende Kunst/Malerei, also gibt es einige Themen, die ich mir selbst aneignen muss, um sie in meinen Werken verwenden zu können.

E. K.: In Deinen Arbeiten werden Orte in unterschiedlichen Varianten thematisiert, zum einen räumlich zum anderen im Inneren als Erinnerungen. Was bedeuten für Dich der Begriff „Ort“ sowie der geografische Raum Ort? Wie wichtig ist der innere Raum sowie der Raum der Erinnerung?

A. L.: Es ist interessant, dass ich begonnen habe, mich auf diese Themen zu konzentrieren, nachdem ich eine Zeit lang in Wien gelebt habe. Vielleicht war es der Prozess des ständigen Umzugs, die Nostalgie und gleichzeitig die erzwungene Loslösung. Zuerst tauchte ich in das ein, was sich in den verschiedenen Räumen, die ich in Wien bewohnte, in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Um die Recherche und den künstlerischen Prozess zu ergänzen, wurden visuelle und nicht-visuelle Materialien gesammelt, die zu diesen Räumen gehörten. Für mich war es entscheidend zu erkennen, dass die Vergänglichkeit und die unterschiedlichen Zeiträume, in denen wir uns in einem Raum aufhalten, Einfluss darauf haben können, wie wir uns mit ihm auseinandersetzen. Im Laufe der Recherche kam es zu einer zeitlichen Regression und zu einer Neugierde auf die Häuser meiner Kindheit und die damit verbundenen Erinnerungen. Wenn wir in der Erinnerung zu diesen bedeutungsvollen Orten zurückreisen, ist das Bild, das in unserem Kopf erscheint, im Wesentlichen das Ergebnis einer emotionalen Konstruktion.

Im Jahr 2021 konnte ich mit Unterstützung eines Staatsstipendiums des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKOES) unter Verwendung verschiedener Medien Räume und Objekte aus meiner Kindheit nachstellen, die von drei externen Teilnehmer*innen ausgewählt und beschrieben wurden. Anfang dieses Jahres war ich dann BMKOES Artist in Residence im Rahmen des Helsinki International Artist Program (HIAP). Während dieser drei Monate lebte und arbeitete ich in der legendären Kabelfabrik, die heute das größte Kulturzentrum Finnlands ist. Während meiner Erfahrung in der Fabrik begann ich, mich für das Studium und die Erforschung der Geschichte und Erinnerung von Orten zu interessieren, die einst einen ganz anderen Zweck erfüllten. Orte, die sich wie ein lebendiger Organismus in ständiger Veränderung befinden und sich sehr gut an die heutige Zeit anpassen können, ohne ihre frühere Identität zu verlieren. Dieser Wunsch wurde durch die Möglichkeit, an diesem Ort zu leben, noch verstärkt, was es mir ermöglichte, eine intimere und emotionalere Beziehung zu ihm aufzubauen. Die Räume, die wir bewohnen, und das, was wir in ihnen erleben, können einen positiven oder negativen Einfluss auf unsere Psyche haben. Ebenso tragen die Menschen, die sie bewohnen, zu ihrer Identität bei.

Als ich die Fabrik erkundete, fand ich eine Menge architektonischer Spuren und alte Maschinen. Einige stammen aus den frühen 1940er-Jahren, als die Fabrik stark in die Produktion von Strom- und Seekabeln involviert war, andere aus der Zeit, als die Fabrik Teil von Nokia wurde. Da auch die Menschen einen starken Einfluss auf die Identität der Räume haben, interessiere ich mich für die Vergangenheit und die Erfahrungen der früheren Arbeiter*innen sowie der Künstler*innen und Organisationen, die heute in der Fabrik tätig sind. Normalerweise ist der Prozess der Archivierung mit dem Sammeln und Ordnen von bereits vorhandenem Material verbunden. In diesem Fall wollte ich aus den Spuren, die ich in verschiedenen architektonischen Elementen und Maschinen auf dem Fabrikgelände gefunden habe, ein persönliches Archiv erstellen. Ich habe diese Spuren auf Silikon und auf Transparentpapier gedruckt, um sie zu bewahren und zu reproduzieren.

E. K.: Welchen Raum möchtest Du Dir als Künstlerin nehmen und welcher Raum steht Deiner Ansicht nach Kunst in der Gesellschaft zu?

A. L.: Nichts macht mir mehr Freude als die Arbeit an Projekten, mit denen ich mich verbunden fühle. Es gibt viele Situationen, die in meinem Leben passiert sind oder die ich in der Gesellschaft beobachtet habe, die ich als Material verwende und die mir eine starke Motivation geben, Themen zu recherchieren und dann Kunstwerke zu entwickeln. Obwohl der Beruf der Künstlerin ein Job ist, fällt es mir manchmal schwer, am Ende des Tages abzuschalten. Irgendwann wird meine Arbeit fast zu einem Teil von mir selbst und umgekehrt. Es gibt Momente, in denen es kompliziert und anstrengend ist, mit dieser Eigenschaft des Berufs umzugehen, aber es ist auch das, was ihn besonders macht und ihn von anderen Berufen abhebt. Für mich als Künstlerin ist es wichtig, weiterhin in dieser Art von Praxis tätig zu sein und auch mit Künstler*innen aus anderen Bereichen zusammenzuarbeiten.

Kunst ist ein untrennbarer Teil der Gesellschaft. Kunst und Kultur geben der Gesellschaft ihre Identität. Leider gibt es immer noch die Tendenz, der Kunst zu wenig Bedeutung beizumessen. Es ist mehr als bewiesen, dass der Kultur- und Kunstsektor nützlich ist und der Wirtschaft Einkommen verschafft, aber die Arbeitsplätze in diesen Sektoren sind immer noch prekär. Meiner Meinung nach sollten Kunst und Kunstschaffende ernst genommen werden, indem man ihre Arbeit anerkennt und respektiert und sie fair bezahlt.

E. K.: Welche Rolle spielt Kommunikation in Deiner Kunst? Wie findet Kommunikation zwischen Dir und Deiner Kunst statt, aber auch zwischen Deiner Kunst und der Betrachtung von außen auf das Werk?

A. L.: Wie ich bereits in der vorherigen Frage erwähnt habe, sind meine persönlichen Erfahrungen in verschiedenen Situationen das Rohmaterial für meine Arbeit. In meinem jüngsten Projekt hat sich das Thema „Kommunikation“ ganz natürlich ergeben, was wahrscheinlich auf die Herausforderung zurückzuführen ist, dass ich fast ein Jahrzehnt lang Sprachen gesprochen habe, die nicht meine Muttersprache sind. Kommunikation kann Menschen entweder zusammenbringen oder eine Barriere schaffen. Eine gute Kommunikation kann zum Beispiel zu Vereinbarungen führen. Es gibt jedoch Zeiten, in denen die mündliche oder schriftliche Kommunikation nicht ausreicht, um etwas so Abstraktes wie Ideen oder Gefühle auszudrücken.

Als bildende Künstlerin war ich versucht, eine Art hybriden Code zu schaffen, bei dem ich die Freiheit habe, verschiedene Formen der visuellen Kommunikation durch Objekte, Farben, Zeichensprache usw. zu kombinieren. Für den zweiten Teil dieses Projekts, der in diesem Jahr präsentiert wird, werde ich einen Tempel der Kommunikation im Ausstellungsraum schaffen, in dem die Besucher Teil der Erfahrung werden und die Möglichkeit haben, durch Objekte und Farben zu kommunizieren und durch Fotografie zu dokumentieren.

Für mich kann das Medium, das für die Entwicklung eines bestimmten Projekts gewählt wird, ausschlaggebend dafür sein, die Botschaft auf die geeignetste Weise zu vermitteln. Ich versuche, dies in meine Projekte einzubeziehen, und achte besonders darauf, wie ich sie im Ausstellungsraum präsentiere. Die Art und Weise, wie ein Ausstellungsraum organisiert ist, ist auch eine Form der Kommunikation.

E. K.: Liebe Ana, am 09. Juni 2024 finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt? Welchen Stellenwert hat für Dich europäische Politik und welche Gedanken machst Du Dir über die Zukunft Europas? Was wünscht Du Dir von einem zukünftigen Europa?

A. L.: Europa und die Welt durchleben schwierige und herausfordernde Zeiten, und die Art und Weise, wie auf diese Probleme zu reagieren ist, muss gut überlegt sein. Deshalb ist es wichtig, informiert und bewusst und nicht impulsiv zu wählen. Komplexe Probleme erfordern ein ernsthaftes Nachdenken. Ich würde mir wünschen, dass das europäische Projekt integrativer wird, vor allem für diejenigen, die nach Europa gezogen sind, um hier zu leben. In Zukunft möchte ich in einem Europa leben, das die Menschenrechte achtet und ihnen Vorrang vor politischen Interessen einräumt.

E. K.: Im Namen der Redaktion der ZUKUNFT bedanke ich mich bei Dir für das Gespräch, es war mir eine Freude! Ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg und Erfüllung in Deinem künstlerischen Schaffen. Danke!

ANA LOUREIRO

ist eine bildende Künstlerin, die in Wien lebt und arbeitet. Sie studierte Malerei an der Fakultät für Bildende Künste der Universität Porto und besuchte während ihres letzten Studiensemesters die Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre Projekte wurden in mehreren Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Kroatien, Belgien und Portugal präsentiert.

ELISABETH KAISER

hat das Diplomstudium Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien sowie den Masterlehrgang „Führung, Politik und Management“ am FH Campus Wien abgeschlossen. Aktuell absolviert sie das Psychotherapeutische Propädeutikum an der Universität Wien. Von 2008 bis 2016 hat sie in der Funktion der Geschäftsführerin den Verein ega:frauen im zentrum geleitet. Seit Mitte 2016 ist sie als stellvertretende Direktorin der Wiener Bildungsakademie (wba) tätig.