Der Beitrag von ALESSANDRO BARBERI unterzieht Pierre Bourdieus progressive Staatstheorie einer kontextualisierenden Neulektüre. In seinem Review-Essay öffnet er neue Perspektiven auf einen Klassiker der Politischen Philosophie, dessen Verteidigung des Sozial- und Wohlfahrtsstaat nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat und der Sozialdemokratie nach wie vor politische Orientierung geben müsste.
„Anders gesagt,
der Staat ist kein Block,
er ist ein Feld“
„Der Staat ist ein Januskopf;
man kann ihm keine positive Eigenschaft
zusprechen, ohne ihm gleichzeitig eine negative beizulegen,
keine hegelsche Eigenschaft ohne eine marxsche,
keine fortschrittliche Eigenschaft
ohne eine rückschrittliche, unterdrückende.“
Pierre Bourdieu (2014): Über den Staat
„Die Frage, ob dem menschlichen Denken
gegenständliche Wahrheit zukomme,
ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage.
In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit,
d. h. die Wirklichkeit und Macht,
die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.
Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens,
das sich von der Praxis isoliert,
ist eine rein scholastische Frage.“
Karl Marx, Zweite These ad Feuerbach (1845)
I. Einleitung
Bereits 2014 sind Pierre Bourdieus Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1989–1992 mit dem Titel Sur L’Ètat/Über den Staat bei Suhrkamp in Berlin auf Deutsch erschienen. Dabei ist vor allem bemerkenswert, dass in der deutschsprachigen Literatur zu Bourdieu bisher keine Übersetzung vorliegt, die den großen französischen Meistersoziologen so nahe an der konkreten Unterrichtspraxis und mithin als hervorragenden Didakten zeigt. Dies hat auch in unserem politologischen und politischen Zusammenhang den eminenten Vorteil, dass die Komplexität seiner Theoriebildung durch zahlreiche Verweise sehr präzise auf den Punkt gebracht wird und also relativ leicht nachvollzogen und gelernt werden kann. Deshalb ist es auch möglich, im Rahmen dieses Beitrags die Grundzüge seiner Verteidigung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats gebündelt vorzustellen.
II. Das „goldene Zeitalter“ und das Monopol der legitimen Gewalt
Denn die allgemeine Argumentationsstrategie Bourdieus in Über den Staat besteht darin, den Staat nicht nur als Polizei- und Repressionsapparat zu begreifen, sondern mit seinen luziden Ausführungen den Nachweis anzutreten, dass vor allem der Sozial- und Wohlfahrtsstaat ein Instrument der Befreiung und Emanzipation dargestellt hat und also auch wieder darstellen könnte. Dies auch im Blick auf das „goldene Zeitalter“ des Sozialstaats, als welches Eric Hobsbawm (1995) die Zeit zwischen 1945 und 1989 bezeichnete. Über den Staat stellt sich daher politisch auf höchstem soziologischem Niveau der Zerstörung und Deregulation von Sozialstaat und Öffentlichkeit – letzteres durchaus auch im Verständnis von Jürgen Habermas (2022) – entgegen und ist dahingehend nach wie vor von eminenter Aktualität. Denn es ist der Staat, der durch seine „doppelte“ symbolische und materielle Existenz hindurch den Bürger*innen eines gegebenen Landes Identität verleiht, von der ausgehend sie auch im Sinne zivilen Ungehorsams als Staat Widerstand leisten können. Denn damit ist der Staat nicht nur ein Instrument der Herrschaft und der Unterdrückung. Dies z. B. dann, wenn die Lohnabhängigen sich gewerkschaftlich unter dem Dach des ÖGB organisieren und – wie jüngst in Österreich im Umfeld der ÖBB geschehen – durch einen Streik rund 8 % Lohnerhöhung erkämpfen.
Die zentrale Frage von Bourdieus Staats- und damit Herrschaftstheorie besteht demgemäß darin, wieso der (staatlichen) Ordnung und der Herrschaft historisch und gegenwärtig so oft gehorcht wurde und wird. Denn Widerstand ist de facto und fatalerweise viel seltener wahrnehmbar als Unterwerfung. In der Folge stehen die Begriffe „symbolische Macht“, „symbolisches Kapital“ und „symbolische Gewalt“ im Zentrum von Bourdieus sozioökonomischem Erkenntnisinteresse. Der Staat ist in Erweiterung von Max Webers Definition des Monopols der legitimen Gewalt nach Bourdieu vor allem durch sein symbolisches Funktionieren bestimmt:
„Wenn ich eine vorläufige Definition dessen geben sollte, was man ,Staat‘ nennt, würde ich sagen, daß derjenige Sektor des Feldes der Macht, den man als ,administratives Feld‘ oder ,Feld der öffentlichen Verwaltung‘ bezeichnen kann, derjenige Sektor, an den man in erster Linie denkt, wenn man ohne nähere Präzisierung vom Staat spricht, sich durch den Besitz des Monopols der legitimen physischen und symbolischen Gewalt definiert.“ (Bourdieu 2014: 18)
III. Von der ursprünglichen Akkumulation und der Illusio(n)
In diesem Sinne zeichnet Bourdieu auf breiter Ebene den historischen Prozess nach, durch den am Beginn der Neuzeit der Staat vor allem von Jurist*innen konstruiert wurde und – ganz im Sinne von Karl Marx – durch die ursprüngliche Akkumulation von (symbolischem) Kapital mehr und mehr zu einer institutionellen Zentralbank wurde. Über diese Bank werden Zeichengelder von Akteur*innen sozioökonomisch gebunden, um – auch diskursökonomisch – im Sinne des Marxschen „Gold-“, „Geld-“ bzw. „Wertzeichens“ zu zirkulieren. Insofern stellt der Staat nach Bourdieu als symbolische Aktivität eine Konstruktion und Erfindung unter strukturalem Zwang dar, da er sich den Akteur*innen (u. a. Politiker*innen, Jurist*innen, Beamt*innen oder auch Historiker*innen) genauso auferlegt, wie sie ihn selbst perpetuieren. Dabei versucht Bourdieu im Sinne seiner Theorie der Praxis (d. i. Praxeologie) ein dialektisches Denken in relationalen Wechselwirkungen zu argumentieren, das sich auch den (strukturalen) Fallen des Determinismus entziehen kann. Denn …
„Man steht nicht vor der Alternative Zufall/Notwendigkeit, Freiheit/Notwendigkeit, sondern vor etwas Komplizierterem, das ich in der Formel zusammenfasse: ,Erfindung unter strukturalem Zwang‘. Ich hatte auch darauf hingewiesen, daß dieser Möglichkeitsraum in dem Maße, wie die Geschichte fortschreitet, sich weiter verengt, unter anderem weil die Alternativen, aus denen die historisch getroffenen Wahlentscheidungen hervorgegangen sind, vergessen sind.“ (Bourdieu 2014: 245–246)
Phänomene der Herrschaft, der Gewalt und der Unterdrückung werden also durchwegs im Sinne dieses „doppelten Materialismus“ analysiert, der objektive Strukturen ebenso im Blick behält wie die aktive Materialität des Symbolischen bzw. Diskursiven. Deshalb ist der Staat ein
„Prinzip der öffentlichen Ordnung, nicht nur im Sinne seiner evidenten physischen Formen, sondern auch seiner unbewussten, scheinbar ganz und gar evidenten symbolischen Formen.“ (ibid.: 29)
Entscheidend ist dabei, dass der Staat als ein äußerst komplexes und relationales (Spiel-)Feld begriffen wird, indem Akteur*innen über ihren Habitus und ihre (Diskurs-)Praktiken Staatlichkeit und Öffentlichkeit historisch produziert haben und daher auch aktuell reproduzieren. Insofern ist der Staat nichts als eine Illusio(n) mit manifestem Wirklichkeitscharakter:
„Der Staat ist diese wohlbegründete Illusion, dieser Ort, der wesentlich deshalb existiert, weil man glaubt, er existiere. Diese illusorische, doch vom Konsens kollektiv als gültig bestätigte Realität ist der Ort, auf den man verwiesen wird, wenn man eine gewisse Reihe von Phänomenen – Schulzeugnisse, Berufsqualifikationen oder Kalender – zurückverfolgt. Schritt für Schritt rückwärts gehend, gelangt man an einen Ort, der für all das grundlegend ist.“ (ibid.: 30–31)
IV. Das Bildungssystem, der Staat und die bürgerliche Gesellschaft
Dabei zieht Bourdieu ganz im Sinne seines Homo Academicus (Bourdieu 1992a) auch das Bildungssystem wiederholt heran, um die Mechanismen und Automatismen des Staates angesichts der Reproduktion sozialer Unterschiede zu erläutern. Denn nach Bourdieu beginnt, um es herunterzubrechen, der Klassenkampf in unseren Schulklassen und reproduziert sich stark durch die Klassifikationen aller beteiligten Akteur*innen. Die für Bourdieu konstitutive Selbstreflexivität im Bildungssystem, die er auch als Reflexive Anthropologie (Bourdieu 2006) verstanden hat, und seine revolutionäre Analyse professoraler Kategorienbildung kann so durch seine Staatstheorie gestützt und ausgebaut werden.
Bourdieu nimmt in der Folge auch das „Staatstheater“ der Repräsentation anhand einer (historischen) Analyse des Königtums unter die Lupe. Im Sinne einer radikalen (also an die Wurzeln gehenden) und militanten (also kampfbereiten) soziologischen Aufklärung fragt Bourdieu dabei auch nach dem, was in den Hinterzimmern des Staates geschieht und analysiert dabei luzide die Ungleichgewichte, die der Staat (und mit ihm die Politik) sozial und ökonomisch reproduziert. Dabei ersetzt Bourdieu auch die Opposition von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, indem er den gesamten sozialen Raum als ein Feld von Klassenkämpfen begreift, welche eben über die symbolischen Klassifikationen der beteiligten Akteur*innen laufen:
„Ich neige dazu, an die Stelle der einfachen Opposition Staat/bürgerliche Gesellschaft die Idee eines Kontinuums zu setzen, das eine gleichmäßige Verteilung des Zugangs zu den kollektiven, öffentlichen, materiellen oder symbolischen Ressourcen darstellt, mit denen man den Namen Staat verbindet. Diese Verteilung wäre, wie alle Verteilungen in allen sozialen Universen, Grundlage und Einsatz permanenter Kämpfe, wobei die politischen Kämpfe (Mehrheit/Opposition) die typischste Form des Kampfes sind, der auf eine Neuverteilung zielt.“ (Bourdieu 2014: 76–77)
V. Von Institutionen und performativen Sätzen
Damit entwickelt Bourdieu eine eigene Theorie der Institutionen, die er als „organisiertes, automatisiertes Vertrauen“ (Bourdieu 2014: 78) begreift. So ist ihm etwa das Parlament
„der Inbegriff einer staatlichen Erfindung: Es ist der Ort der legitimen Politik, der Ort, an dem sich eine legitime Weise etabliert, die Konflikte zwischen den Gruppen und Interessen zu formulieren und zu regeln.“ (ibid.: 255)
Dabei trägt der Staat ein „rational-bürokratisches Informationskapital“ (ibid.: 39) und ist selbst ein „ökonomisches und symbolisches Kräfteverhältnis“ (ibid.: 40), ein „komplexer Raum mit Teilungen“ (ibid.: 45) und damit eben ein Feld. Mit immenser Meisterschaft diskutiert Bourdieu dabei die entscheidenden Staatstheoretiker der modernen Sozialwissenschaften: Perry Anderson, Ernst H. Kantorowicz, Shmuel Noah Eisenstadt, Barrington Moore, Norbert Elias, Immanuel Wallerstein, Karl Polyani, Charles Tilly oder Philip Corrigan und Derek Sayer. Im Sinne produktiver Synthesen verknüpft Bourdieu deren Ansätze und integriert sie reflexiv und d. i. kritisch in sein eigenes Theoriegebäude.
Parallel dazu verbindet Bourdieu die gesamte Staatstheorie diskursanalytisch mit soziolinguistischen Reflexionen über performative Sätze, da auch der Staat (gerade ob seiner symbolischen Qualität) immer von Akteur*innen performiert werden muss, um im konstruktivistischen Sinne überhaupt Existenz und Realität zu erlangen. Bourdieu schlägt deshalb eine Diskursanalyse als Diskurssoziologie vor, welche – ganz ähnlich wie in Foucaults Ordnung des Diskurses (Foucault 1991) – die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Symbolisch-Diskursiven in seiner Materialität immer mitberücksichtigt. Durch die Verbindung eines „abgeschwächten“ Strukturalismus mit den Einsichten des Konstruktivismus formuliert Bourdieu deshalb an anderem Ort:
„Hätte ich meine Arbeit in zwei Worten zu charakterisieren, das heißt, wie es heute oft geschieht, sie zu etikettieren, würde ich von strukturalistischem Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen, dabei das Wort Strukturalismus allerdings in einer ganz anderen Bedeutung fassen als in der Tradition von Saussure oder Lévi-Strauss. Mit dem Wort ,Strukturalismus‘ oder ,strukturalistisch‘ will ich sagen, daß es in der sozialen Welt selbst – und nicht bloß in den symbolischen Systemen, Sprache, Mythos usw. – objektive Strukturen gibt, die vom Bewußtsein und Willen der Handelnden unabhängig und in der Lage sind, deren Praktiken oder Vorstellungen zu leiten und zu begrenzen.“ (Bourdieu 1992b: 135)
Deshalb verbindet Bourdieu auch äußerst produktiv die Ansätze des Neukantianismus (u. a. Ernst Cassirer) mit jenen des Strukturalismus (u. a. Georges Dumézil). Bourdieus strukturale Grundschulung zeigt sich auch, wenn er das Problemfeld des Staates immer wieder mit binären Oppositionen wie Öffentlich/Privat, Innen/Außen, Weiblich/Männlich, Natur/Kultur, Esoterisch/Exoterisch, Absolutismus/Perspektivismus oder Freiheit/Notwendigkeit konfrontiert und umkreist. Methodisch betont Bourdieu darüber hinaus, dass seine Historische Soziologie sich direkt auf die Erkenntnistheorie Gaston Bachelards und Georges Canguilhems im Sinne der französischen Historischen Epistemologie (vgl. Rheinberger 2013) bezieht, nach der u. a. ein besonderer Fall immer als Sonderfall möglicher Fälle verstanden werden muss.
VI. Von den Klassikern der Sozialwissenschaft
Der didaktische Charakter dieser Vorlesungen hat nicht nur den Vorteil, dass sich die Bourdieusche Staatstheorie beim Lesen Schritt für Schritt vor unseren Augen aufbaut, sondern bietet gleichzeitig die Möglichkeit, sich erneut mit Klassikern der Sozialwissenschaften (Karl Marx, Max Weber, Émile Durkheim, Maurice Halbwachs, E. P. Thompson, Norbert Elias, Antonio Gramsci, Louis Althusser, Jürgen Habermas u. a.) auseinanderzusetzen. Dabei sind es vor allem drei soziologische Konzepte auf die Bourdieu zurückgreift:
„Marx und die Analyse der ursprünglichen Akkumulation, Durkheim und die Teilung der sozialen Arbeit, Weber und seine Beschreibung der Genese der modernen Gesellschaften als Rationalisierungsprozeß.“ (Bourdieu 2014: 136)
Dabei wirft Bourdieu der auf Althusser zurückgehenden Theorie der „Staatsapparate“ (Althusser 1977) vor, zwar bestimmte Funktionen und Mechanismen des Staates (Repression, Unterdrückung, Herrschaft etc.) richtig zu begreifen, aber gleichsam die aktive (und akteur*innenbezogene) Produktivität der Staatsmacht strukturfunktionalistisch zu unterschlagen. Insofern wäre es durchaus interessant, künftig in kritischer Absicht zu diskutieren, welche Rolle Grundbegriffe des Marxismus wie „Produktionsbedingung“, „Produktionsverhältnis“, „Produktionsmittel“, „Produktionsfelder“, „Ideologie(n)“ oder „Fetischisierung“ im Diskurs Bourdieus spielen. Wurde doch auch jüngst in der Sekundärliteratur von Peter Streckeisen nahegelegt, dass Bourdieu wahrscheinlich viel stärker im Sinne des Marxismus argumentierte, als er es sich selbst eingestehen wollte oder vielmehr unter den Bedingungen des Kalten Krieges konnte (vgl. Streckeisen 2014).
Dies sei hier zum Ende hin nur an einer Stelle aus den Marxschen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) gezeigt, die sich wie die gänzliche Vorwegnahme von Bourdieus – durchaus als dialektisch zu bezeichnenden – doppeltem Materialismus lesen lassen. Denn wie später in den Feuerbachthesen (1845), die u. a. den gordischen Knoten der Scholastik praxisbezogen zerschlagen haben, formulierte der Mann aus Trier im Blick auf die Produktionsgeschichte und Bildung der menschlichen Sinne und im Blick auf das innere Vermögen der Menschheit:
„<Wie durch die Bewegung des Privateigentums und seines Reichtums wie Elends – des materiellen und geistigen Reichtums und Elends – die werdende Gesellschaft zu dieser Bildung [der menschlichen Sinne, A. B.] alles Material vorfindet, so produziert die gewordne Gesellschaft den Menschen in diesem ganzen Reichtum seines Wesens, den reichen all- und tiefsinnigen Menschen als ihre stete Wirklichkeit. –> Man sieht, wie Subjektivismus und Objektivismus, Spiritualismus und Materialismus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren Gegensatz und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verlieren; […].“ (Marx 1970: 192)
Ein gesellschaftlicher Zustand, der freilich nur durch die – wie auch immer erreichte – Aufhebung des Privateigentums und mithin durch den erneuten Ausbau des öffentlichen Eigentums im sozialistischen Rahmen des Sozial- und Wohlfahrtsstaats in Aussicht gestellt werden kann. Genau deshalb hat auch Axel Honneth jüngst im Sinne der Frankfurter Schule und also der Kritischen Theorie Die Idee des Sozialismus reaktiviert (Honneth 2015), um eine soziale und deliberative Demokratie zu stärken (Habermas 2022). Es gilt also aus dieser progressiven, linken, sozialen und demokratischen Perspektive nicht weniger Staat und mehr privat, sondern viel mehr öffentlich und auch mehr Staat.
VII. Conclusio
Allein durch die breiten Bezüge zur Forschungsliteratur ist Bourdieus Über den Staat also eine unermessliche Fundgrube für all jene, die nach den Funktionsweisen, Mechanismen und Automatismen des Staates und damit der (staatlichen) Institutionen und Bürokratien fragen. Insgesamt kann die intensive Lektüre von Bourdieus Über den Staat sowohl wissenschaftlich als auch politisch nur nachdrücklich empfohlen werden. Das meisterhafte interdisziplinäre Jonglieren mit den wissenschaftsgeschichtlichen Archiven der Philosophie, der Geschichte, der Ethnologie oder Soziologie macht dabei ein hochgradig relationales Verständnis des Staates lesbar und ist in allen Wortbedeutungen allgemeinbildend.
Gerade ob des didaktischen Charakters von Bourdieus Vorträgen sind diese Vorlesungen eine Pflichtlektüre für alle, die an einer kultursoziologischen und materialistischen Erfassung der sozialen Wirklichkeit auf höchstem Niveau genauso interessiert sind, wie an ihrer realpolitischen Veränderung im Sinne progressiver Zwecke und Ziele. Dabei geht es nachdrücklich darum, die Radikalität und Rationalität der Aufklärung wiederzugewinnen und zu aktualisieren, was Bourdieu für die Intellektuellen forderte, aber sicher auch für Politiker*innen Geltung beanspruchen kann:
„Ich glaube, daß die Zeit der Intellektuellen als Propheten vorbei ist. Ich glaube auch, daß wir die Rolle als Experten zur Lösung von Management-Problemen nicht akzeptieren können. Man müßte es fertigbringen, Wissenschaft und Militanz zu versöhnen, den Intellektuellen die Rolle von Militanten der Vernunft wiederzugeben, die sie etwa im 18. Jahrhundert innehatten.“ (Bourdieu 1992b: 48–49)
Dass eine ganz im Sinne der Aufklärung radikale und militante Verteidigung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates politische Konsequenzen mit sich bringen müsste, wäre auch in den Reihen d(ies)er Sozialdemokratie gut dreißig Jahre nach der Ausformulierung von Bourdieus Staatstheorie endlich und nachdrücklich zu diskutieren. Denn im Gegensatz zum deregulierenden Einschwenken auf den sog. Dritten Weg Anfang der 1990er-Jahre, hat die Tradition des Austromarxismus mit Max Adler bereits vor genau hundert Jahren eine mit Bourdieu vergleichbare Staatstheorie geschaffen, die in der Auseinandersetzung mit unserem Verfassungsgründer Hans Kelsen entstand (vgl. Kelsen 1923). Und nur diese Staatstheorie, die den Staat als Hebel zum Sozialismus begriff und sowohl für die demokratiepolitischen Veränderungen in der Ersten als auch der Zweiten Republik Österreich grundlegend war, erklärt schlussendlich die Erfolge der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) im 20. Jahrhundert und die gravierenden programmatischen und ideologischen Probleme der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) im 21. Jahrhundert (vgl. Adler 2016).
Der Staat ist also ein Januskopf. Wird er zur Ausbeutung der Arbeitnehmer*innen in Gang gesetzt, ist er reaktionär und dient der Unterdrückung. Wird die gleiche Staatsmaschine aber in Gang gesetzt, um Löhne zu erhöhen und die Freizeit auszudehnen, dann ist der Staat progressiv, dient der Befreiung aller Lohnabhängigen und damit am Ende auch der Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller Menschen. Feministisch und frauenpolitisch gewendet gilt mithin im Blick auf unsere Verfassung und nach wie vor: Liberté, Égalité, Sororité!
ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien, Magdeburg und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion Wildganshof (Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
Dieser Beitrag erschien erstmals in Medien & Zeit 4/2014: 57–59 und wurde für diese Publikation mit erweiterten Zitaten versehen, überarbeitet und stark aktualisiert.
Literatur
Adler, Max (2016): Die Staatsauffassung des Marxismus, Bremen: Wiener Verlag für Sozialforschung in EHV Academicpress GmbH.
Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Anmerkungen für eine Untersuchung, in: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg: VSA, 108–153.
Bourdieu, Pierre (1992a): Homo Academicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (1992b): Rede und Antwort, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D. (2006): Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (2014): Über den Staat, Berlin: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin: Suhrkamp.
Hobsbawm, Eric (1995): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien: Hanser.
Honneth, Axel (2015): Die Idee des Sozialismus, Berlin: Suhrkamp.
Kelsen, Hans (1923): Sozialismus und Staat, Leipzig: C. L. Hirschfeld.
Marx, Karl (1970): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Leipzig: Reclam.
Michel, Foucault (1991): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Rheinberger, Hans-Jörg (2013): Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius.
Streckeisen, Peter (2014): Soziologische Kapitaltheorie. Marx, Bourdieu und der ökonomische Inperialismus, Bielefeld: transcript.