Über Karl Renner. Zu Unrecht umstritten? Eine Wahrheitssuche VON SIEGFRIED NASKO

International gesehen gibt es keinen Politiker, der wie Karl Renner einen Staat zweimal gründete, jedes Mal am Ende eines Krieges. Renners vielfältiges literarisches Schaffen ist im europäischen Kontext wohl nur mit Lenin und Churchill vergleichbar. SIEGFRIED NASKO fasst in diesem Beitrag die Erkenntnisse seiner jahrzehntelangen Forschungen zu Karl Renner für die Leser*innen der ZUKUNFT zusammen und liefert so eine intellektuell herausfordernde Interpretation österreichischer und sozialdemokratischer Zeitgeschichte.

I. „Die vier Fehltritte“

Über sieben Jahrzehnte nach seinem Tod wird Karl Renner von Politolog*innen, Historiker*innen und Journalist*innen vorzugsweise wegen seiner vier „schweren Fehltritte“ noch gelegentlich erwähnt: Renners „Ja“ zum Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland 1938, seine zwar nicht veröffentlichte, aber bekannt gewordene Jubelschrift zur „Heimführung“ der Sudetendeutschen in das „Dritte Reich“ sowie sein „Opfermythos“, mit dem er 1945 die Zweite Republik und ihre Bevölkerung von jeder NS- und Kriegsschuld freisprach. Auch Renners offensichtlicher Anbiederungsversuch an Josef Stalin mit dem Offert einer engen Zusammenarbeit mit den Kommunisten ist legendär.

Dennoch hat die SPÖ ihre Parteiakademie zu Renners 100. Geburtstag 1970 in Dr. Karl Renner Institut benannt. Als Begründung führte Bruno Kreisky an: „Weil sich die ganze sozialdemokratische Bewegung Österreichs von 1945 an zu Renner als einem ihrer größten Söhne bekannt hat, die Linken wie die Rechten.“ Dabei galt Renner seit 1900 wegen seines kulturautonomen Nationalitäten-Reformprogramms, vor allem aber wegen seines Engagements für die Volksernährung während des Ersten Weltkriegs als „Rechter“. Obwohl das Parlament seit März 1914 sistiert war, brachten sich die Sozialdemokraten im Sinne des „Burgfriedens“ mit zahlreichen Vorschlägen in die Militärbürokratie ein. Renner hoffte, dass diese sozialen Maßnahmen den Krieg überdauern und schließlich zu staatlichen Normalaufgaben würden. Renner dachte international und sah im Nationalismus den Keim für Gewalt und Krieg. Seine Sympathie für die „Mitteleuropapläne“ des deutschen Politikers Friedrich Naumann stempelte ihn zum deutschen Imperialisten, obwohl das vereinte Mitteleuropa nicht durch Gewalt, sondern durch freie Vereinbarungen zustande kommen sollte. Dabei sah Renner im Vielvölkerstaat weniger die Doppelmonarchie als das Modell seines angestrebten multinationalen „Weltstaats“, das durchaus auch eine Republik sein konnte.

II. Durch Armut für die Sozialdemokratie rekrutiert

Im Gegensatz zum dogmatischen Marxisten Otto Bauer agierte Renner rein pragmatisch. Renner war am 14. Dezember 1870 im mährischen Unter-Tannowitz geboren. Aller Verarmung zum Trotz meisterte er das Gymnasium in Nikolsburg bravourös. Nach den gymnasialen Höhenflügen erkannte der Maturant die Lebenswirklichkeit und entschloss sich, statt zu dichten einmal Wirtschaft zu studieren. Er nutzte das Einjährig-Freiwilligen-Jahr in Wien zur Intendanzausbildung, studierte ab 1890 an der Universität Jura und lebte mit Louise aus Güssing im Konkubinat. Tochter Leopoldine wurde nach Purkersdorf in Pflege gegeben. In Wiener Kellerwohnungen klärte er die Arbeiter*innen über die sozialen Hintergründe ihres Elends auf. So kam er mit der Sozialdemokratie in Berührung. Gemeinsam mit seinem Zimmerherrn Alois Rohrauer gründete er 1895 die Naturfreunde, auf Empfehlung seines Professors Eugen von Phillipovich trat er in die Parlamentsbibliothek ein. Hindernisse für eine definitive Anstellung wegen des Konkubinats schlichtete sein Vorgesetzter Siegfried Lipiner. 1998 schloss er erfolgreich das Jurastudium ab. Zwischen 1899 und 1906 entwickelte er sein Nationalitätenprogramm, das das Territorialitäts- durch das Personalitätsprinzip ersetzte. Wie Otto Bauer sah Renner im Nationalismus transformierten Klassenhass. Nach 1900 gehörte er zur Gruppe der Austromarxisten.

Mit seinem Werk Die soziale Funktion der Rechtsinstitute, besonders des Eigentums erschütterte er 1904 die Grundlagen des bisherigen rechtswissenschaftlichen Denkens. Eine Plakette mit Renners Namen befindet sich unter jenen der 15 bedeutendsten Rechtssoziologen im International Institute for the Sociology of Law in Onati in Spanien. Animiert vom Ökonomen Michael Hainisch kandidierte Renner 1907 im Wahlkreis Neunkirchen erfolgreich für den Reichsrat, 1908 wurde er in den niederösterreichischen Landtag gewählt. Renner erwarb 1910 eine Vorstadtvilla in Gloggnitz und wurde 1911 Verbandsobmann der österreichischen Konsumgenossenschaften.

III. Staat als Hebel zum Sozialismus

Unermüdlich setzte er sich für Österreichs Erneuerung und den Aufstieg der Arbeiterklasse ein. Renner erschien es kindisch, dass die Arbeiterklasse untätig auf den Tag warten müsse, an dem ihre Ohnmacht jäh in Allmacht umschlagen würde. Wie Victor Adler wusste er, dass auch politische Ziele erarbeitet werden müssen. Die Zeiten seit Marx hatten sich verändert, der Staat sei nicht mehr bloßer Ausbeuter und Gegner. Vielmehr habe er die Aufgabe, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. „Wer sonst, als der Staat?“ fragte Renner rhetorisch, solle Armut beseitigen und für Gerechtigkeit sorgen? Der Staat dürfe nicht abgelehnt oder gar bekämpft werden, sondern die Arbeiterklasse müsse durch Kompromisse wechselnde Allianzen bilden und ihn so als Hebel zum Sozialismus begreifen.

Renner lehnte jede Aristokratie, ob der Geburt, des Besitzes oder des Amtes, ab. In der Demokratie regiere die Mehrheit, gleichzeitig kann darin die Minderheit selbst zur Mehrheit werden. Mit dem 1917 in Marxismus, Krieg und Internationaleformulierten Dialogprinzip versuchte Renner in allen fünf erlebten Staatsformen mildernde Brückenschläge zu den Machträger*innen. Solange der Staat den Zusammenhalt des Volkes gewährleistet, sei Staatsmacht, ob demokratisch oder diktatorisch, zu respektieren. Das Recht war für Renner neutral, oberste staatliche Aufgabe war es, für gute Lebensbedingungen zu sorgen und vor Leid zu schützen. Jede Art von Gewalt lehnte Renner ab. Man müsse auch mit schlimmsten Tyrannen das Gespräch suchen und solle sich nie gegen die Staatsmacht erheben. Gespräche mildern, Gewalt mündet in Schmerz. Ja es sei besser, die Diktatur auszuhalten, als durch eine ausländische Armee befreit zu werden. Der Befreiungsschlag koste wieder Opfer seitens der Masse des Volkes, während es sich die Etablierten richten. Mit seiner Präferenz für den Dialog nahm Renner Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ für Willy Brandts Entspannungspolitik vorweg. Im Streben nach Gewaltfreiheit übertraf Renner sogar die große Friedensgestalt Mahatma Gandhi, der wohl die Schläge von Gegnern ertragen ließ, der aber die eigenen Leute opferte.

IV. Weltkrieg statt Friedenskongress

Für den geplanten Wiener Kongress im August 1914 hatte Renner bereits eine eigene Friedenshymne verfasst. Die Kriegserklärung an Serbien entfachte quer durch die Parteien eine unvorstellbare patriotische Eruption, die auch die gesamte SDAP – ausgenommen den Sohn des Parteivorsitzenden Friedrich Adler – mitriss. Mit der Devise „Das Herrenhaus brannte, es ist Proletenbrauch zu löschen!“ erklärte Renner die Zustimmung zu diesem sonst generell verurteilten „Mutwillenskrieg“. Otto Bauer rief auf, die Behörden nicht zu provozieren. Auch Renner war gegen jeden Protest. 1916 rückte Renner ins Presseamt ein, um schließlich als einer der drei Parteienvertreter des Reichsrats zum Direktor des Ernährungsamtes zu avancieren. Zwei Paukenschläge wirkten wie Weckrufe: Am 21. Oktober 1916 erschoss Friedrich Adler im Restaurant des Hotels Meissl & Schadn am Neuen Markt den Ministerpräsidenten Karl Stürgckh, im folgenden Mai nahm der Attentäter im Prozess vor allem Renner als „Lueger der Sozialdemokratie“ aufs Korn.

„Klassenfeind geht vor Landesfeind“ postulierte Gabriele Proft im September 1917 am Parteitag. Renner wies den Vorwurf, er sei ein Staatsfanatiker, zurück, aber er sei auch nicht blind für den Staat. Man müsse diesen vom Kapitalismus befreien und wirtschaftlich durchdringen, er sei der Hebel zum Sozialismus. Verspekuliert hatte sich Renner im Jänner-Streik 1918. Wegen der Halbierung der Mehlration bei den Daimler Motorenwerken in Wiener Neustadt am 14. Jänner wurden dort erste Arbeiterräte gebildet, der Streik dehnte sich tags darauf bis nach Wien aus. Renner scheinverhandelte mit den Streikführern, suggerierte diesen die Solidarität der SDAP, handelte aber in Absprache mit Victor Adler im Sinne der k. k. Regierung bremsend. Es ging um die Demokratie, um das Kriegsende, um bessere Ernährung sowie um die Zivilgerichte für kriegsdienstverpflichtete Arbeiter*innen. Während seiner Rede wurde Renner angespuckt und zwei Tage lang in der Filialzelle des Wiener Landesgerichts eingesperrt. Am 20. Jänner waren österreichweit 750.000 Arbeiter*innen im Streik. Hätten SDAP und Renner auf dieses Pferd gesetzt, wäre der Vielvölkerstaat noch zu retten gewesen. Renners Verhältnis zum Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft Otto Bauer hatte sich verschlechtert. Wie Bauer es vorausgesagt hatte, überlebte die Monarchie den Ersten Weltkrieg nicht.

V. Staatskanzler und Außenstaatssekretär

Die SDAP hatte zwischen dem 03. Oktober und dem 12. November 1918 täglich nur das revolutionär gefordert, was auch schon reif war und daher ohne Gegenwehr realisiert werden konnte. Obwohl die am 21. Oktober konstituierte Provisorische Nationalversammlung Renner nur mit der Leitung der Staatskanzlei betraute, führte ihn sein Aktivismus an die Spitze des neuen Staates. Die meisten juridischen Weichen hatte er gestellt, auch das Staatsgründungsgesetz vom 30. Oktober stammte von ihm. Er hatte das Heft in der Hand, setzte sich von der ersten Staatsratssitzung an auf den Stuhl des Vorsitzenden, ohne ihn je wieder aufzugeben. Er sah das Staatsgebiet schmelzen, präferierte eine Donauentente und akzeptierte schließlich auch den von den Linken längst angepeilten Anschluss an die nunmehrige deutsche Republik. Der erste Teil der Thronverzichtserklärung von Kaiser Karl I. stammt von Renner. Während der Ausrufung der Republik vor dem Parlament fielen durch Rotgardisten am 12. November 1918 Schüsse, die zwei Tote und 33 Verletzte forderten, Ludwig Brügel vom Presseamt verlor ein Auge. An der Spitze einer Konzentrationsregierung aus 42 Sozialisten, 72 Christlichsozialen und 102 Großdeutschen regierte Renner „mit den modernen Methoden der Zivilisation“. Renner glaubte an das von US-Präsident Wilson verkündete Selbstbestimmungsrecht der Nationen und beanspruchte daher u. a. Südtirol und das Sudetenland. Für den Zusammenhalt der jungen Republik hatte er Beitrittserklärungen der Bundesländer angeregt.

Mit einer Mehrheit von drei Mandaten bildete Renner nach den Wahlen am 16. Februar 1919 die Koalitionsregierung Renner/Fink. Das kleine (Deutsch)Österreich wurde zur sozialen und bildungspolitischen Vorzeigerepublik. Der Friede von Versailles hatte Deutschland die Achtung von Österreichs Selbständigkeit auferlegt. Da Außenstaatssekretär Bauer als zu anschlussfreundlich galt, willigte Renner im Mai 1919 in diese Funktion im Bewusstsein „Ich muss“ ein. In St. Germain war die 60-köpfige Delegation zerniert, Renner suchte „wie ein Theaterdirektor“ eine Beschäftigung für alle. Generalkommissär Franz Klein hielt den Staatskanzler für überfordert und behauptete, dass er den „Juden geradezu hörig“ sei. Vor allem versuchte Renner den Siegern klarzumachen, dass die „Republik Österreich“ nicht mit der Habsburger Monarchie identisch sei. Die breiten Volksmassen hätten den Krieg weder gewollt noch verschuldet, die Machthaber hätten sie dazu gezwungen. Das Anschlussverbot veranlasste Bauer zum Rücktritt als Staatssekretär für Äußeres, am 26. Juli wurde Renner sein Nachfolger. Es war nur zu zwei Begegnungen mit George Clemenceau gekommen, dessen eiskalter Distanziertheit Renner auf Französisch konziliant parierte. Renner hatte den Staatsvertrag durch seine Argumentation in manchen Punkten gemildert, wozu die Volksabstimmung in Kärnten und der Gewinn des Burgenlandes gehören. Das Anschlussverbot konnte nur der Völkerbund aufheben, Enteignungen von Privatvermögen und der Abtransport der Kunstschätze wurden verhindert. Mit 97 gegen 23 Stimmen nahm das Parlament den Vertrag an, den Renner am 10. September 1919 unterzeichnete.

VI. Koalitionsende und vergeblicher Brückenbauer

Inzwischen trat die Beratung der Bundesverfassung ins Endstadium. Während die Sozialdemokrat*innen für Zentralismus, einen Katalog der Freiheitsrechte, gegen ein Präsidialsystem und für die dauerhafte Absetzung der Habsburger*innen plädierten, pochten die Länder auf einen starken Föderalismus. Als Spiritus Rector hatte Renner den Juristen Hans Kelsen gewonnen. Dennoch wurden im Bemühen um Kontinuität Passagen beibehalten, die wie das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917 das Ende der Demokratie ermöglichten. Das Ende der Koalition steuerte seit 1919 der erstarkte städtische Flügel der Christlichsozialen mit einem Länderministerium sowie durch rechte Kreise in Ungarn an. Für Renner war die tägliche Zusammenarbeit in der Koalition der gelungene Gegenentwurf zur Bürokratie. Wegen eines Erlasses des Heeresstaatssekretärs Julius Deutsch kam es am 10. Juni 1920 zum Bruch. Renner sah zu Beginn noch die Möglichkeit zu kitten, aber Otto Bauer und Ignaz Seipel stemmten sich aktiv dagegen. Renner war erschüttert. Auch als schwächerer Partner wollte er koalieren, um nach wie vor Wertvolles zu leisten und Schlimmeres zu verhindern. Die Einheit der SDAP stand auf dem Spiel. In der Übergangsregierung von Michael Mayr und Ferdinand Hanusch zog sich Renner auf das Amt für Äußeres zurück. Mayr war nun auch für die Verfassung zuständig, die am 01. Oktober 1920 beschlossen wurde.

Politisch zog sich Renner nach dem Sieg der Christlichsozialen am 17. Oktober zurück. Er nahm an den erbitterten Fehden kaum Anteil, arbeitete in den parlamentarischen Ausschüssen, hielt Reden, Vorträge an der Parteihochschule und schrieb Aufsätze und Bücher. Intensiv widmete er sich dem Genossenschaftswesen. Staatshilfe lehnte er wegen der Verführbarkeit zur Korruption ab. Da Renner vielfach unentgeltlich arbeitete, stellte man ihm eine Pension in Aussicht. 1922 gründete Renner die Arbeiterbank und wurde deren erfolgreicher erster Verwaltungsratsvorsitzender. Das Linzer Parteiprogramm hielt Renner 1926 für zukunftsfit, aber für den Moment zu radikal. Nach dem Justizpalastbrand am 15. Juli 1927 mit den hunderten Verwundeten und 89 Toten postulierte Renner anstelle des „Äußeren des revolutionären Getues“ die „positive revolutionäre Tat der Verwaltung“. Er regte eine Abrüstung der Worte in den eigenen Reihen an und warnte vor den von Seipel geförderten Heimwehren. 1931 trat Renner verhängnisvoll gegen den Eintritt in eine Konzentrationsregierung Seipel/Bauer auf. Damals hätten die Sozialdemokrat*innen ihre Machtpositionen sowie die Demokratie wahrscheinlich noch retten können.

KARL RENNER. ZU UNRECHT UMSTRITTEN? EINE WAHRHEITSSUCHE.
Mit Vorworten von Heinz Fischer und Hugo Portisch
VON SIEGFRIED NASKO
Salzburg/Wien: Residenz
464 Seiten | € 25,00
ISBN: 9783701734009
Erscheinungstermin: Oktober 2016

VII. Präsidentenrücktritt und „Hochverratsverdacht“

Nach dem Tod von Matthias Eldersch wurde Renner als Vertreter der stärksten Partei am 29. April 1931 zu dessen Nachfolger gewählt. Im gleichen Jahr unterlag Renner Wilhelm Miklas bei der Wahl zum Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. Es mutet tragisch an, dass gerade der Staats- und Verwaltungsdenker der SDAP Renner am 04. März 1933 im Zuge einer Abstimmung über eine verfügte Ratengehaltszahlung nach einem Eisenbahnerstreik zwecks Verbesserung des Abstimmungsverhältnisses sein Amt zurücklegte. Da auch seine beiden Stellvertreter Rudolf Ramek und Sepp Straffner zurücktraten, sprach der seit 1932 amtierende Bundeskanzler Engelbert Dollfuß von einer „Selbstausschaltung des Parlaments“ und verhinderte mit Kriminalpolizei dessen Wiederingangsetzung. Dollfuß war Mussolini und den Heimwehren verpflichtet. Er hatte eine Mehrheit von nur einer Stimme und zog daher Notverordnungen fragilen Abstimmungen vor.

Wieder setzte Renner alle Hebel in Bewegung, um eine Eskalation zu vermeiden. Er wurde gehindert, den Hauptausschuss des Nationalrats wieder einzuberufen. Bundespräsident Miklas hatte Renner ein „Staatsnotstandsgesetz“ vorgeschlagen, das bis zur Selbstaufgabe der SDAP ging. Das Parlament sollte ein letztes Mal zusammentreten und sich auf zwei Tagesordnungspunkte beschränken: In Deutschland regierte seit 31. Jänner 1933 Adolf Hitler. Der Nationalrat solle mit einer 4/5-Mehrheit zuerst die Unabhängigkeit Österreichs von der Hitlerbewegung beschließen und als zweites der Regierung Dollfuß die Vollmacht, bis zur Beendigung der Krise mit Notverordnungen zu regieren, erteilen. Renner glaubte, dass Hitler hernach endgültig auf Österreich verzichte. Renner präferierte erneut eine Donauentente. Mit dem Landeshauptmann von Niederösterreich Josef Reither versuchte er illusorisch noch eine Koalition zu schmieden, um Dollfuß zu stürzen. Im Zuge der Februarerhebung wurde Renner am 12. Februar 1934 im niederösterreichischen Landhaus verhaftet. Wegen „Hochverrats“ kam er zuerst ins Polizeigefangenenhaus, dann ins Landesgericht. Er rechnete mit dem Schlimmsten, hatte von Vorbereitungen zur Erhebung nichts gewusst und warf der Regierung beim Verhör vor, statt verfassungsgemäß das beschädigte Parlamentsorgan wieder herzustellen, dieses für sich usurpiert zu haben. Renner wurde nach 100 Tagen entlassen, im Zuge der Ermordung Dollfuß’ am 25. Juli 1934 wurde er für weitere zwei Tage in Gloggnitz festgehalten.

VIII. Die Nazis als „Feind von morgen“

Anschlussrufe waren immer dann laut geworden, wenn es wirtschaftlich schlecht ging. Mitte der 1920er-Jahre hörte man daher davon nichts, bis die Weltwirtschaftskrise ab 1929 zu einer halben Million Arbeitslosen führte. Die Kapitalistenklasse wagte sich im eigenen Namen nicht mehr in die Öffentlichkeit, bekämpfte aber die Sozialdemokratie mit Pseudosozialismen. Einen erfolgreichen Versuch dieser Art erblickte Renner im Nationalsozialismus. Hatte Renner noch 1927 in einem Gutachten über die Neugliederung des Reiches dezidiert für den „Anschluss“ plädiert, forderte er drei Jahre hernach die Sozialdemokratie am Parteitag auf, den nationalsozialistischen „Feind von morgen der bisherigen Agitation hinzuzufügen“. In der Genossenschaft warnte er vor NS-Unterwanderung von Faschist*innen, setzte sich für in Italien und Ungarn Verfolgte ein und versuchte, ihnen zu helfen.

Anfang 1933 schätzte Renner die Lage in Österreich als völlig verändert ein, löse man sich doch von Deutschland los und seien nur noch die Nazis dafür. Parlamentarisch seien diese eine „aussichtslose Minderheit“, sie würden allerdings die Heimwehren und Legitimisten radikalisieren. Bei den Nazis ginge es eben hoch her: „Da wurden die Juden gehängt, da rollten die Köpfe der Marxisten … da brach das Dritte Reich an“. Durch den Absolutismus Hitlers habe das Reich Österreich verloren. Für Österreich bleibe nur noch die Unabhängigkeit und dauernde politische Neutralität als Bestandsnotwendigkeit. In den letzten Jahren Schuschniggs trat Renner für ein Umdenken der Westmächte ein Er verlangte linke Gesandte für Wien, den Austausch aller italienischen Vorsitzenden des Völkerbundausschusses durch Briten und knüpfte Anleihen an die Rückkehr zur Demokratie. In nahezu jeder Arbeiter*innenfamilie, vor allem bei der Jugend, zeige die NS-Propaganda Wirkung. Um Österreichs Unabhängigkeit zu sichern, drängte Renner sogar auf die Einberufung des alten Parteivorstandes. Der Anschluss war für Renner nicht nur passé, ein solcher würde auch seine halbjüdische Familie gefährden. Wie armselig scheinen in diesem Licht die gescheiterten Antisemitismusvorwürfe des ehemaligen Salzburger VP-Landeshauptmanns Franz Schausberger, der 2012 Parlamentsreden aus den frühen 1920er-Jahren manipulierte und von Ludwig Dvořák entlarvt wurde.

IX. Fluchtplan mit halbjüdischer Familie

Als es am 12. März 1938 tatsächlich zum Anschluss durch Adolf Hitler kam, hat Renner keineswegs seine Gesinnung gewechselt und sich deshalb mit seinem „Ja“ in die Öffentlichkeit gedrängt, nein, Renner ließ sich nicht mitreißen, er kalkulierte und handelte besorgt. Renner buchte auf eigene Faust Bahntickets für seine ganze Familie im Schlafwagen nach Berlin. Niemand würde annehmen, dass jemand, der aus Deutschland flieht, in dessen Hauptstadt fährt. In Berlin hat Renner Zimmer im Hotel Adlon bestellt. Von dort wollte er per Flugzeug nach Schweden fliegen, um seinen jüdischen Schwiegersohn Hans Deutsch und die halbjüdischen drei Enkelkinder Franziska, Hans und Karl in Sicherheit zu bringen. Da fuhr vor seinem Wohnhaus in der Wiener Taubstummengasse am 26. März ein schwarzer Mercedes vor, allen war klar, das muss die Gestapo sein. Renner rechnete mit seiner Verhaftung, doch die Gestapobeamten wollten von ihm das Staatssiegel für den Vertrag von St. Germain von 1919. Da wusste Renners Frau Louise Rat, sie hatte das Siegel in Gloggnitz in einem Kaffeehäferl in der Küche deponiert.

So fuhr man im Gestapowagen zu Renners Zweitwohnsitz und erwachte aus einem Albtraum. Renner bestellte die Bahntickets und Zimmer ab, aber wie sollte es weitergehen? Wieder musste ein Weg zum Ohr der neuen Machthaber führen! Die Lösung war sein Angebot an den NS-Bürgermeister von Wien, Hermann Neubacher, dem Renner vom Österreichisch-Deutschen Volksbund verbunden war, sich für die Anschluss-Volksabstimmung öffentlich einzusetzen. Deshalb schloss er sich dem früheren Wiener Bürgermeister Karl Seitz an, der auf Intervention Neubachers aus der NS-Haft entlassen war und sich dafür bedanken wollte. Dort wurden beide auch vom NS-Vizebürgermeister SA-Brigadeführer Thomas Kozich begrüßt. Darüber hat dieser 34 Jahre später als letzter lebender Zeuge Isabella Ackerl von der Kommission für Zeitgeschichte berichtet. Kozich schilderte Renner als totalen Hitlerfan. Renner wird dabei als kleiner, dicker, zappelnder Mann charakterisiert. Weiters erzählte Kozich so, als hätten sich Renner und Neubacher nicht schon lang gut gekannt. Renner wollte in Zeitungen oder auf Plakaten für den Anschluss werben. Auf das Angebot, ein Zeitungsinterview zu geben, habe er mit den erfreuten Worten „Ich bitte darum“ seine Telefonnummer hinterlassen.

X. Renners „Ja“ und ein NS-Massenmörder als Zeuge

Es gab viele Ja-Erklärungen zum Anschluss, von Genossen, dem ehemaligen Bundespräsidenten Michael Hainisch und allen Kirchenleitungen. Kardinal Theodor Innitzer setzte unter seinen Aufruf handschriftlich „Heil Hitler“ dazu. Während diese alle ihr „Ja“ mit ihrer Loyalität zu Adolf Hitler und zum Nationalsozialismus verbanden, erwähnte Renner weder den „Führer“ noch dessen Partei. Vielmehr distanzierte er sich mutig von den undemokratischen Methoden des Nationalsozialismus. Ja, Renner prangerte kurz darauf in der englischen Zeitung The World Review das „brutale Rassenregime“ an, das vergänglich sei, und bekräftigte, dass er sein „Ja“ bedingungslos gab und keineswegs seine sozialdemokratische Gesinnung geändert habe. Leider glaubte Ackerl Thomas Kozich, der Renners Verhalten als „hitlerbegeistert“ verleumdete. Im Übrigen hat Kozich seine Akten als Sport- und Arisierungsbeamter in der Wiener Magistratsdirektion versteckt, sodass er als erster NS-Schreibtischtäter, der im September 1939 1000 polnische Juden nach Buchenwald verschickte, von denen nur 71 überlebt haben, bis 2010 unentdeckt blieb. Kozich wurde 1947 nur für illegale NS-Betätigung und Denunziation zu zehn Jahren Kerker verurteilt. Da Kozichs Gnadengesuche um vorzeitige Entlassung von der Polizei wegen des Deliktes der Denunziation nie weitergeleitet wurden, wusste Bundespräsident Renner nichts davon. Theodor Körner begnadigte ihn jedoch bei seinem Amtsantritt 1951. An Renner, der ihn „ignorierte“, rächte er sich bei obiger Befragung. Vermutungen, Renner habe mit dem „Ja“ verhaftete prominente Sozialdemokrat*innen befreien wollen, hat Renner stets zurückgewiesen. Behauptungen, wegen Renners „Ja“ sei es erst spät, im Herbst 1938, zu Ansätzen des Widerstandes der Revolutionären Sozialisten gekommen, sind falsch, da deren Vorstand für die ersten 3 Monate ein Agitationsverbot erließ, um ihre 5000 Mitglieder nicht zu gefährden. Genützt hat Renner sein öffentliches „Ja“ 1938 nichts.

„Niederdonaus“ Gauleiter Hugo Jury sagte in der Folge zwar zu, dass der jüdische Verwandte in Gloggnitz leben dürfe, aber HJ-Schlägertrupps verschleppten Deutsch nach Wiener Neustadt und traktierten ihn blutig. So floh Renners gefährdete Familie nach London, nur Tochter Poldi kehrte kurz vor Kriegsbeginn wieder zurück. Als „Dank“ für sein „Ja“ wurde Renner die Ehrenbürgerschaft von Enzenreith/Gloggnitz entzogen. Manche seiner Briefe an Freund*innen hätten Renner an den Galgen bringen können. Gegenüber Hans Grettler bedauerte es Renner Ende Juli 1944, „dass Stauffenberg Hitler nicht ganz erwischt hatte“. Im März 1945 fahndete ein HJ-Werwolf-Kommando aus Neunkirchen nach Renner, um ihn zu ermorden. In der aktuell nicht veröffentlichten Sudetenbroschüre warf Renner den Alliierten von 1919 vor, dass sie Hitler und Mussolini im Münchner Abkommen gewährten, was sie ihm damals als Kanzler einer kleinen Demokratie verwehrt hatten. Churchills Lob für Hitler im Londoner Parlament übertraf Renners „Bewunderung“ bei weitem.

Während seiner inneren Emigration in Gloggnitz schrieb Renner seine Lebenserinnerungen An der Wende zweier Zeitensowie sein Weltbild der Moderne, eine Art Menschheitsgeschichte in klassischen Versen. Wöchentlich musste er sich bei der Polizei melden. Jeden Donnerstag fuhr Renner nach Wien, um sich in Cafés mit alten Parteifreund*innen zu treffen. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges war er überzeugt, dass dieser mit dem Untergang Hitler-Deutschlands enden werde. Seit der Moskauer Deklaration im November 1943 bereitete er sich akribisch auf den Neuanfang eines unabhängigen Österreichs vor.

XI. Von Gloggnitz über Hochwolkersdorf zu Stalin

Der betagte Renner wollte überleben, um nach dem sich abzeichnenden Zusammenbruch neuerlich an die Spitze der nunmehr „Zweiten“ Republik zu treten. Am 1. April besetzte die 103. Garde-Schützen-Division der 3. Ukrainischen Front die Stadt. Die Sowjets untersuchten alle Häuser nach deutschen Soldaten, nahezu niemand verstand wenigstens etwas Russisch. Auf den Straßen wurde geschossen, es gab zahlreiche Tote und es wurde geplündert. Ein letztes Mal raffte sich Renner auf, um gemäß seinem Dialogprinzip die höchste Autorität der siegreichen Sowjets zu kontaktieren. Am 03. April war Renner bereits am frühen Morgen unterwegs, obwohl es noch unsicher war. Gemeinsam mit zwei gebürtigen Gloggnitzern und dem aus der CSR stammenden Anton Zampach, der etwas Russisch verstand, bot sich Renner als früherer Staatsgründer den Sowjets an, den Wiederaufbau Österreichs in Angriff zu nehmen. Darüber gaben vorbereitete Briefe in Englisch, Französisch und Lateinisch Aufschluss. Weiters beschwerte sich Renner über die Bedrohung der Bevölkerung durch die Soldat*innen. Die Kommandantur befand sich in einem von Renner erbauten Genossenschaftshaus. Von dort ging es zu Fuß weiter zum Truppenkommando nach Köttlach und schließlich per Lastwagen an den ihm unbekannten Bergort Hochwolkersdorf.

Auf die Nachricht vom Auftreten Renners hin befahl Stalin, man solle Renner vertrauen. Die Sowjets wollten Österreich nicht besetzen, sondern befreien. Sie würden Renner beim demokratischen Wiederaufbau unterstützen. Am 5. April kam es schließlich zur Begegnung mit dem Politoffizier Generaloberst Alexander Zeltov und einer Anzahl hoher Offizier*innen. Darüber schrieb Renner hernach in seiner Denkschrift über die Unabhängigkeitserklärung. Aufgrund seiner Erfahrungen in höchsten Staatsämtern erklärte er seine Bereitschaft, an der Abkürzung des Krieges und am Neuaufbau der Demokratie mitzuwirken. Er lehnte ein Memorandum an die Rote Armee ab und versicherte, sich generell mit den Sowjets abzustimmen. Die Sozialdemokrat*innen, so Renner, würden mit den Kommunist*innen brüderlich zusammenarbeiten. Austrofaschist*innen und Nazis wollte er anfänglich nicht nur von der Mitarbeit ausschließen, für sie sollte das Diktaturrecht in Kraft bleiben. Von Schloss Eichbüchl aus schrieb Renner am 15. April seinen berühmten Brief an den Genossen Stalin mit der Zusicherung, dass die Zukunft Österreichs dem Sozialismus gehöre. Dass er darin auch Feinde Stalins lobend erwähnte, könnte ein Trick zur Vorspiegelung einer Demenz gewesen sein.

XII. Konzentrationsregierung und Opfermythos

In Wien fand Renner am 20. April ein bereits intaktes Parteienleben vor. In der Wenzgasse 2 in Hietzing gab er dem Druck der KPÖ nach, der er zwischenzeitlich nur noch zwei Posten hatte geben wollen. Obmann Johann Koplenig wurde nun einer der drei Vizes, Ernst Fischer wurde Staatssekretär für Unterricht und Franz Honner für Inneres. Dieser Konzentrationsregierung gehörten elf Sozialisten, neun ÖVPler, sieben KPÖler und zwei Parteilose an. Dabei kontrollierte jeder jeden. Da in jedem Amt alle drei Parteien vertreten waren, also jeweils der Staatssekretär mit zwei Unterstaatssekretären, musste es bei Abstimmungen immer zu einer nicht kommunistischen Mehrheit kommen. Wie am Beginn der Ersten Republik lag auch nun die vollziehende und gesetzgebende Gewalt in den Händen der Provisorischen Staatsregierung, deren Gesetze eigentlich „Verordnungen“ waren. Am 27. April ernannte Marschall Fjodor Tolbuchin die Regierung Renner mit Adolf Schärf, Leopold Figl und Johann Koplenig als Stellvertreter im Kabinettsrat. In der von Renner verfassten Proklamation und Unabhängigkeitserklärung wies der neue Staatskanzler wie schon 1919 jede Schuld Österreichs und seiner Bürger*innen von sich. Der Staat sei scheintot gewesen, der Zweite Weltkrieg, die NS-Gräuel und Ausgrenzungen seien nur von Hitler und den NS-Organen verursacht worden. Österreich war das von den Nazis zu allererst überfallene Opfer. Der Anschluss war null und nichtig, Österreich wurde im Geist der Verfassung von 1920 wieder hergestellt. Auf KPÖ-Initiative wurde ein Passus über Österreichs Mitverantwortung eingefügt. Als die neue Staatsregierung nach ihrer Konstituierung am 29. April vom Rathaus über den Ring ins zerstörte Parlament defiliert war, versicherte Renner den Wiener*innen die Rückkehr zur Demokratie, ehebaldigste Neuwahlen und eine definitive Regierung.

Der Wirkungskreis der neuen Provisorischen Staatsregierung erstreckte sich nur auf Wien sowie auf Teile Niederösterreichs und der Steiermark. Jetzt erst erkannte Renner, dass er nur von Stalin, nicht aber von den Westmächten anerkannt war. In einer Ansprache am 30. April im Bundeskanzleramt bezeichnete Renner den endgültigen Verzicht auf den Anschluss „als letztlich befreiend und erlösend“. Es war noch Krieg, erst am 3. Mai betraten die ersten US-Truppen in Tirol österreichisches Gebiet, am 08. Mai kapitulierte NS-Deutschland, die Staatsregierung beschloss das NS-Verbotsgesetz. Renner wollte das Kapitel der 700.000 österreichischen Nazis am liebsten ad acta legen, aber es sei eben zu tragisch. Echte Verbrecher seien strengstens zu bestrafen. Sozialminister Johann Böhm ließ alle NS-Mitläufer*innen längst ins Wirtschaftsleben integrieren. Am 12. Mai sagte Stalin Renner brieflich jede für Österreich notwendige Hilfe zu. Tito duldete daraufhin die Besetzung Kärntens durch die Briten.

Die Rote Armee versorgte ab Juni drei Monate lang die Stadt Wien mit Lebensmittel. Aus Not hielt Renner gemeinsam mit Figl ehemalige KZler, Sudetendeutsche, ja sogar emigrierte Genoss*innen von einer Rückkehr ab. An Wiedergutmachung war kaum zu denken. Als die Kommunist*innen am 13. Mai Renners Vorschlag einer verfassungsmäßigen Übergangsregelung ablehnten und dies protokollieren wollten, blieb der Staatskanzler hart, lehnte die Protokollierung ab und stellte diesen den Austritt aus der Regierung frei. Bürokratisch wirkte sich allerdings das Kontrollabkommen vom 9. Juli aus, wonach sämtliche Gesetze der alliierten Approbation bedurften. Populär wurde Renners Gleichnis von den vier Elefanten, die das Ruderboot Österreich gefährden. Gegen seine eigene Überzeugung und auf Druck von SP-Chef Schärf suspendierte Renner schließlich die Unterzeichnung der von den Sowjets ventilierten bilateralen Erdölgesellschaft. Alle drei Parteien ermahnte der Staatskanzler zu Mäßigung, man solle kooperieren, in drei Monaten schon könne es Wahlen geben.

XIII. Österreichweite Anerkennung und Bundespräsident

Nachdem die westlichen Bundesländer mit Renner Verbindung aufnehmen wollten, kam es im September und Oktober zu den drei Länderkonferenzen, die als „Rütli in der Herrengasse“ in die Geschichte eingingen. Als Folge davon wurde die Regierung um die westlichen Vertreter, den Tiroler Karl Gruber als Außenminister und den Oberösterreicher Josef Sommer als Unterstaatssekretär für die Wahlen erweitert. Als Termin für die NR- und LT-Wahlen wurde der 25. November bestimmt. Am 20. Oktober bereits hatte der Alliierte Rat die Regierung Renner als zuständig für ganz Österreich anerkannt. Zu Recht konnte sich Renner darin sonnen, „dass die Staatsregierung … den Staat in all seinen Grundlagen, die Verwaltungen in all ihren Gliederungen sowie die öffentliche Ordnung in all ihren Instanzen innerhalb von fünf Monaten fertiggestellt“ hat. Rektor Ludwig Adamovich hob bei der Verleihung des Ehrendoktorates den Vorsprung Österreichs beim Wiederaufbau gegenüber etwa Deutschland hervor. Renner war zu einer österreichischen Symbolfigur geworden, dennoch ging aus den NR-Wahlen die ÖVP mit 85 Mandaten als Sieger hervor, gefolgt von der SPÖ mit 76 und der KPÖ mit vier Mandaten. Seinen Rechenschaftsbericht am 19. Dezember ließ Renner mit den Worten ausklingen, das totgesagte Österreich sei unzweifelhaft wiedererstanden und werde ewig stehen. Neuer Bundeskanzler wurde Leopold Figl.

Tags darauf wählte die Bundesversammlung Renner zum Bundespräsidenten. In dieser Rolle fiel es ihm schwer, sich auf Repräsentation zu beschränken. Daher musste ihn wieder Schärf bei seinen Ambitionen bremsen, wollte Renner doch ein Mitspracherecht bei allen möglichen Ernennungen auf Bundes- und Landesebene, ja er versuchte die Einrichtung eines zweiten Ministerrates in der Hofburg. Um die Bevormundung durch die „Besatzungsmächte“ zu beenden, wollte er an der Spitze von Delegationen entweder in deren Hauptstädte oder aber zur UNO nach New York reisen. Renner schlug für Österreich die Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz vor. In der UNO erblickte er die nahezu Erfüllung seines Traumes vom Weltstaat. In seiner Amtsführung war allerdings nichts mehr von Renners Ambitionen nach modernen Methoden zu finden. Wilhelm Miklas’ Amtsmief lebte bei Renner wieder auf, er verkehrte auf Rat seines Kabinettchefs Klastersky nur mit Gleichgestellten. Aber wie viele davon gab es überhaupt? Und er hakte alles ab, was ihm seine Beamt*innen vorschlugen.

Zu seinem achtzigsten Geburtstag brachte Renner noch ein Büchlein mit seinen Gedichten heraus. Gefeiert wurde ausgiebig, in Neunkirchen erinnerte er sich dabei mit alten Genossen wie Oskar Helmer und dem jungen Polittalent Hans Czettel an die Wahlkämpfe 1907 und 1911. Im Konzerthaus in Wien feierte ihn die SPÖ unter anderem mit ASKÖ-Stafetten aus allen Teilen Österreichs. Hans Kelsen hat sich an Karl Renner „als ungewöhnlich begabten und genialen Mann“, der zugleich „ein lebensfreudiger und gütiger Mensch“ gewesen ist, erinnert. Am 31. Dezember 1950 ist Renner in Wien gestorben. Die Bevölkerung lauschte tags darauf seiner auf Tonband aufgenommenen Neujahrsansprache: „Wir lassen uns nimmermehr entmutigen!“ Heute erinnert noch der „Dr. Karl Renner-Ring“ in Wien an den wohl bedeutendsten Sozialdemokraten Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

PS: Die SPÖ Bildung hat soeben das erste Gespräch ihrer Videoreihe „zeit-geschichte“ online verfügbar gemacht, in dessen Rahmen Prof. Dr. Siegfried Nasko und der bekannte Zeithistoriker Dr. Wolfgang Maderthaner erneut die vielschichtige Persönlichkeit Karl Renners beleuchten und diskutieren. Das Gespräch findet sich online unter: https://www.youtube.com/watch?v=7ZAQBTIQmuA (letzter Zugriff: 29.07.2022)

SIEGFRIED NASKO 

ist Begründer und war langjähriger Leiter des Karl-Renner-Museums für Zeitgeschichte in Gloggnitz. Er hat als Beamter, Kulturstadtrat und Landtagsabgeordneter die Entwicklung St. Pöltens zur Hauptstadt miterlebt. Als Historiker gestaltete er mehrere Ausstellungen, den Gedenkraum 45 in Hochwolkersdorf sowie das Museum der Arbeiterbewegung im St. Pöltner Raum.