Aldebaran VON THOMAS BALLHAUSEN

In seiner melancholischen Erzählung Aldebaran reflektiert der Autor THOMAS BALLHAUSEN die Verhältnisse zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung mit den Mitteln der Literatur. Vor dem Hintergrund eines Systemzusammenbruchs spielen sich menschliche und auch übermenschliche Dramen ab, die im Kontext von Material Ecocriticism und New Materialism auch eine neue politische Lesbarkeit erhalten.

„As the freefall advances, I’m the moron who dances.”

The National: Humiliation

I.

Es war nur wenig anstrengender als erwartet, sich an die neue, selbstgewählte Routine zu gewöhnen. Ich blinzle im Licht der Morgenröte, zu dieser frühen Tageszeit sehe ich mittlerweile am besten. Noch vor den wenigen anderen Bewohnern der Insel sitze ich bereits am Strand, meine kleine Tasche mit Fernglas und Notizbuch bei mir. Nachdem ich, wie es meine Gewohnheit ist, ein wenig geschwommen bin und eine Kleinigkeit gegessen habe, beobachte ich durch das Glas die in der Ferne vorbeiziehenden Schiffe. Heute scheint es ein weiterer nicht abreißender Strom feindlicher Gefährte zu sein, den ich ausmachen kann. Ich mache ein paar Notizen über die passierenden Einheiten, versuche daraus eine möglichst korrekte Schätzung über Verbandsstärken und Zeitfenster zu machen und gebe schließlich den Versuch, wie auch sonst sehr oft, etwas entmutigt auf. Näher als die unbeirrt weiterziehenden Luft- und Seestreitkräfte der Eisenmänner sind mir die Denkmäler des zerbombten Hafens und die Wracks von Kriegsschiffen, die in unmittelbarer Umgebung der Insel versenkt wurden. Bei Ebbe werden die Aufbauten und Antennen der stählernen Kolosse für kurze Zeit wieder sichtbar. Die Sonne scheint nun stärker, lässt vermuten, dass auch heute wieder ein strahlend schöner Sommertag zu erwarten ist. Ihr Licht bringt die Überreste eines Kreuzers, die ungeborgen sehr nahe am Ufer liegengeblieben sind, zum Strahlen. Auch wenn meine Ankunft auf Tannengrün nun schon mehrere Wochen zurückliegt, kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, dass dieser Ausblick mich nachhaltig beeindruckt hat. Der Name der Insel ist freilich irreführend. Neben der heruntergekommenen Festung, einer kleinen, nahezu verlassenen Stadt und einem dichten Laubwald gibt es auf diesem, dem Kontinent westlich vorgelagerten Paradies nichts als Langeweile, Sand und unbrauchbares militärisches Gerät. Mein Aufenthalt hier ist natürlich kein Zufall. Ich bin der vermeintliche Tote, der hierhergekommen ist, um dem Chaos in der Hauptstadt dauerhaft zu entkommen. Wenn man die Zeit aus den Augen lässt, vergeht sie. Ihre Qualität als ein Fluch, der die meisten betrifft, hat sie aber stets behalten. So habe ich jeden Tag für kurze Augenblicke das beunruhigende Gefühl, etwas übersehen, etwas nicht erledigt zu haben. Unausgeführte Entschlüsse erwecken den Eindruck von Sorglosigkeit und Reichtum, eben weil man alles noch vor sich zu haben scheint. All dies trifft für meine Situation nicht zu, es wäre vielmehr ein gefährlicher Irrtum, von einer solchen Haltung auszugehen.

II.

Unweit der Denkmäler liegt die von mir manipulierte Flugbarke, die mich zu dieser Insel transportiert hat. In der Hektik des Hauptquartiers in der Residenz, in den verzweigten Bürostrukturen der Agentur hatte ich mich zuletzt ständig krank gefühlt. Unerfreuliche Tage und unruhige Nächte hatten sich abgewechselt. Mein Dienst als leitender Referent war von einer Stimmung des Zögerns und Verschiebens vergiftet worden, die immer schneller aufeinanderfolgenden Befehle hatten sich in meinem Empfinden verstärkt gegen uns selbst und nicht gegen die vorrückenden Feinde gerichtet. Der schleichende Ordnungsverlust und die vertagten Entscheidungen förderten die Missgunst unter den verschiedensten Stellen. Ich habe in meinen langen, wenig erfreulichen Dienstjahren die Welt des Krieges gesehen, und die Arbeit in der Agentur hat mir im Lauf der Zeit den letzten Anflug von Glauben an die uns aus der Ferne ihrer Zitadelle beherrschenden Schwestern geraubt. Ich habe verstanden, dass die Zerbrechlichkeit ihrer Macht nicht einfach bekannt werden und zu einer Änderung führen würde. Vielmehr zerbrach mit ihrer selbstgestifteten Mythologie auch ihr ausgedehntes Reich. Für die Phrase vom Ernst der Lage hatte ich noch nie etwas übriggehabt, und die irreführende Vorstellung, den andauernden Konflikt nach eigenen Vorstellungen beeinflussen oder gar gewinnen zu wollen, hatte ich gerne anderen Beamten und Agenten überlassen. Ich beobachtete aus sicherer Distanz die Vielzahl der mir verhassten Verschwörungen, Verhaftungswellen und Intrigen, die internen Machtkämpfe um den ohnehin schwindenden Einfluss unserer Einrichtung. Das Getuschel der Fraktionen verband sich mit den allgegenwärtigen Karten, die wie bedrohliche Mahnungen an allen Wänden hingen und mit einer Vielzahl von Pfeilen, Anmerkungen und einer ständig zunehmenden Anzahl von Fragezeichen überzogen worden waren. Tannengrün war auch immer wieder verzeichnet gewesen, doch war die Insel schon von langer Zeit als verloren eingestuft worden. Die offiziellen Durchhalteparolen belächelten wir insgeheim ebenso wie die Nachrichten vom aktiven Kampf der dort angesiedelten Admiralität. Die Eisenmänner hatten die dort stationierte Kombinatsflotte versenkt und die von ihnen isolierte Insel unserer Ansicht nach in der Folge zumeist ignoriert. Nicht zuletzt diese Umstände steigerten mein Interesse an Tannengrün. Ohne je zuvor dort gewesen zu sein, streifte ich für diesen Ort meine Vergangenheit und meine Erinnerungen wie schmutzige Kleidungsstücke, wie Geschichten, die man mir erzählt haben könnte, ab. Die Tatsache, dass im allgemeinen Durcheinander mein Verschwinden noch leichter zu bewerkstelligen sein würde, erleichterte mir den Entschluss. Trotz meiner Funktionen wurde ich von den miteinander konkurrierenden Abteilungen und Stäben als zu unwichtig eingeschätzt, als dass man mir besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Die notwendigen Dokumente, die mich als neuen Verbindungsoffizier auswiesen, und eine Chipkarte für eine der kleineren Flugbarken waren erstaunlich leicht zu entwenden gewesen. Ich rede mir ein, mein altes Leben nicht zu vermissen und die Albträume, die meine erste Woche hier prägten und in denen mir der Teufel auf allen Wegen durch eine mir nicht bekannte Metropole auflauerte, waren ja schließlich dem sommerlichen Trott der hier noch lebenden Zivilisten und stationierten Soldaten gewichen.

III.

Der Wunsch nach einer leeren See, und sei es auch nur einige Stunden lang, will nicht vergehen. Kein Tag, an dem ich nicht hier sitze und die Kriegsschiffe und Flugboote der Eisenmänner beobachte. Jeden Morgen hoffe ich auch, dass die Hindin nicht wiederkommt. Am späteren Vormittag, meist bin ich dann noch etwas geschwommen oder habe in mitgebrachten Akten gelesen, erschien sie stets in der Hafengegend, wo sie, gut sichtbar und doch in sicherer Distanz, stehen blieb und mich beobachtete. Die Hindin, diese mädchenhafte Person mit dem von ihren Locken nur schlecht verborgenen, goldenen Geweih, war mir bald, bereits zu Beginn meines Aufenthalts auf Tannengrün, begegnet. Sie ist ein unruhiger, schöner Geist, sie ist ständig in Bewegung, kommt sie doch nur zur Ruhe, wenn sie in ihren bestickten Stiefeln quer über die Insel läuft oder vor Erschöpfung einschläft. Manche der Heilkundigen sprechen davon, dass sie und ihresgleichen nie Frieden finden können, durch eine Vielzahl kleiner Tode so etwas wie einen Aufschub erspielen, bevor sie schließlich Hand an sich legen. Dass ich diesen Erzählungen nie Glauben schenken wollte, ist in meinem naiven Hang zur Romantik begründet. Ich erinnere mich, wie sie, deutlich größer und erhabener als ich, sich zu mir hinabgebeugt hatte, um ihren Kopf auf meine Schulter zu legen. Ich erinnere mich an die Wärme ihres Atems, an den Geruch ihrer Haut und Momente törichter Zufriedenheit. Der Laubwald, in dem sie eine kleine Hütte bewohnt und in der auch ich einige Nächte verbracht hatte, scheint sich mit ihrem stets jungen, von wenigen, doch deutlich sichtbaren Narben gezeichneten Körper mitzubewegen. So schnell wie sie sich für mich interessiert hat, so unvermittelt ist sie aus meinem Tagesablauf auch wieder verschwunden. Wann immer ich sie auftauchen sehe, fühle ich mich an meine Eitelkeit erinnert, daran, dass ich ihr erlegen bin. Jede ihrer eleganten Bewegungen, eine schauspielernde Anmut, die mich ursprünglich bezaubert hatte, verhöhnt mich jetzt, lässt mich spüren, wie alt und verbraucht ich auf sie wirken muss. Entgegen meiner Gewohnheit und ungeachtet meiner Sterblichkeit winke ich zaghaft in ihre Richtung, aber sie erwidert den Gruß nicht. Ihre Geschichte hat, was mich eigentlich weniger kümmern sollte, in letzter Konsequenz nichts mit mir zu tun. Oberflächlich betrachtet, könnte man mich immer noch mit einem Jäger verwechseln. Eine Zeit lang beobachte ich noch die feindlichen Schiffe, dann mache ich mich auf den Weg zurück zu meiner Unterkunft.

Meine mir hier zugewiesene Wohnung ist eine ehemalige Schule. Klassenzimmer, Duschen, Turnsäle, alles wirkt in seiner Verstaubtheit wie in einem überzogenen Ferienzustand. Das kleine Appartement, das wohl dem Hausmeister oder Schulwart gehört hatte, steht in seiner Kargheit in einem krassen Gegensatz zu den ungenutzten Räumen des Gebäudes. Für meine Bedürfnisse ist es aber völlig ausreichend. Nachdem ich geduscht und mich umgezogen habe, mache ich mich auf zur Festung. Am Eingangstor hält, wie an allen Tagen, ein Riese Wache. Er wirkt wie eine skurrile, ausgestopfte Figur, eine stark vergrößerte Spielfigur. Nur wenn man ganz genau und aufmerksam hinsieht, kann man seine Atmung und die Bewegung seiner knopfartigen Augen wahrnehmen. Ich passiere ihn, wir grüßen uns nie. Auch das ist Teil der selbstgewählten Routinen, man hinterfragt und ändert nichts mehr. Die auf einer Anhöhe gelegene Festung erlaubt den Blick auf die gesamte Insel und die sie zu wesentlichen Teilen bedeckende Stadt. Die meisten der Bezirke sind bereits unbewohnt, gibt es hier doch kaum noch Zivilisten, Verwaltungspersonal oder zum Schutz abgestellte Soldaten. Von den ursprünglich hier Stationierten sind, so gewann ich sehr schnell den Eindruck, vor allem die Befehlshaber und oberen Ränge übrig geblieben. Durch die Etagen des Haupthauses in der Festung eilen unentwegt Kapitäne ohne Schiffe und Kommandanten ohne Einheiten, als könnten sie mit der Geschwindigkeit ihrer Schritte ihre Bedeutungslosigkeit, sind sie doch zu der ihnen vorherbestimmten Rolle als Telefonisten und Nachrichtenschreiber herabgesunken, überdecken. Sie geben tagtäglich Befehle, die niemanden mehr erreichen, und sie sind auf ihre fast schon bemitleidenswerte Weise mitgefangen in dieser von Ignoranz und Aufschüben bestimmten Verwaltung eines allgemeinen Scheiterns, in dem auch ich mich eingefunden habe. Mein Büro liegt direkt gegenüber dem Arbeitszimmer des Admirals, der sich, im Gegensatz zu den anderen Offizieren, kaum herausbewegt. Bei meinem ersten Aufenthalt dort, kurz nach der Landung des von mir manipulierten Luftfahrzeugs, kam es mir so vor, als würde er in diesem überdimensionierten, schlecht gelüfteten Raum wohnen. Der Admiral, an dem nur noch wenig auf seine Zugehörigkeit zur Elite der militärischen Kaste des Kombinats verwies, sah meine Papiere nur ganz flüchtig an, er schien sich glücklicherweise einfach nicht dafür zu interessieren. Vielleicht glaubte er meine Lügen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie waren ihm einerlei. Er nickte nur bedächtig, kramte in den Schubladen seines ausladenden Tisches nach ein paar Stempeln, hieß mich mit knappen Worten willkommen und trug seiner Ordonnanz auf, mir ein Büro und eine Unterkunft in der Stadt zuzuweisen. Am nächsten Morgen erwartete mich sein direkter Auftrag, mich der Sichtung, Neuordnung und Aufarbeitung des in allen Geschossen des Gebäudes verteilten Aktenmaterials zu widmen. Ich sah in dieser gigantischen Aufgabe keine Gehässigkeit, sondern eine Aufnahme in die lokalen Kreise der Resignation. Obwohl mir die militärische Diktion immer eine ungeliebte Fremdsprache geblieben ist, vertiefte ich mich in das Material, verlor mich in Nebensächlichkeiten und gewann meinen neuen Tagesrhythmus. Nie wurde ich nach dem Stand der Arbeiten gefragt, ich beteiligte mich einfach am gespenstischen zyklischen Spiel, schrieb Aktennotizen, Empfehlungen und Memoranden. Ich verwischte ausschließlich dort Spuren, wo es mir notwendig schien, und beobachtete mit zunehmender Gleichmut den Verlauf der Ereignisse. Nur in den schlechtesten Momenten dieser selbstgewählten Unerreichbarkeit fühle ich mich schuldig, ansteckend wie faules Obst. Zumeist aber ist es mir völlig egal.

IV.

Am späteren Nachmittag mache ich meinen gewohnten Gang zum Funkturm, der an der Südseite der Festungsmauer liegt. Eine Wendeltreppe führt im Innern des massiven Baus nach oben, der zwischen zwei Ebenen stecken gebliebene Aufzug scheint noch nie in Funktion gewesen zu sein. In den unterschiedlichsten Zentralen und Schaltstellen habe ich die Gelegenheit, Radiosendungen und Meldungen zu hören. Dem Stimmengewirr kann man aufgrund der größeren Pausen und Interferenzen kaum folgen. Immer wieder mengen sich auch die feindlichen Störsignale dazwischen, überlagern oft für mehrere Stunden ganze Frequenzen. Wie auf den anderen Haupttürmen sind auch hier Aussichtsplattformen angebracht. Hin und wieder kann man das Kreisen von Kampfmaschinen über der Insel beobachten, bizarre Schauspiele, die sich durch die Distanz zwischen den Kämpfenden und uns in abstrakte Choreografien von gewaltsamer Schönheit verwandeln. Die sowohl technisch wie auch zahlenmäßig überlegenen Flieger der Eisenmänner behalten immer die Oberhand. Kaum eines unserer Luftschiffe schafft es in die Nähe der Insel, ohne zuvor abgefangen zu werden. Nur wenig Nachschub kommt nach Tannengrün, doch unsere Laune scheint darunter nicht zu leiden. Hin und wieder versucht jemand eines der gelandeten Fahrzeuge zu requirieren, um von der Insel zu entkommen. Während meines Aufenthalts habe ich schon mehrere dieser glücklosen Bemühungen beobachtet. In diese Gefechte und Versuche greifen wir nicht ein, weil das dafür notwendige Gerät zerstört ist, ohne Ladung oder Bedienung. Hinzu kommen die Erschöpfung und die Lustlosigkeit, sich weiter zu beteiligen. Bislang machten sich die Eisenmänner auch nicht die Mühe, Tannengrün einzunehmen, dafür besteht, wenn man es genau nimmt, auch keine Notwendigkeit mehr. Nicht nur, dass ihre Fahrzeuge die Insel ohnehin schadlos passieren können, haben sie unlängst damit begonnen, intelligente Häuser abzuwerfen. Diese Maschinen, von denen ich bisher nur in Andeutungen gelesen habe, ersetzen konventionelle Bomben oder Drohnen. Es sind Gebäude, die an die Stelle des ursprünglich an dem jeweiligen Ort stehenden Baus treten, ihn unter sich begraben und sich in der Folge ausbreiten und selbsttätig verzweigen. Manche der erwähnten Bezirke sind bereits völlig in der Hand eines Feindes, der Tannengrün noch gar nicht betreten hat. Die Versuche, die Funktionsweise dieser Häuser zu entschlüsseln, wurden nach einigen eher halbherzigen Anläufen einfach eingestellt.

Davon ist in den Sendungen nicht zu hören, deren Echo mich noch auf dem Weg nach draußen begleitet. Am frühen Abend verlasse ich den Turm wieder, steige aus der Festung hinab in eine der angrenzenden Gegenden mit den wenigen noch geöffneten Bars. Die schlechte Versorgungslage ist zwar allen bewusst, aber an der allgemeinen Haltung aus verzweifelter Fröhlichkeit oder entspannter Resignation ändert dies nichts. Bündelweise tauscht man Nacht für Nacht Geldscheine aus dem offenstehenden Panzerschrank in der Festung für ein wenig Ablenkung. Wohl aus Gewohnheit misst man der Kombinatswährung immer noch einen gewissen Wert zu, bekommt dafür Essensportionen, selbst destillierten Alkohol und, zumeist ohne dafür bezahlen zu müssen, ein wenig Gesellschaft. Wer sich in diesen Straßen für einen Verfolger mit gutem Schuhwerk hält, wird oft von der eigenen Ungenügsamkeit überrascht. Mit trauriger Regelmäßigkeit bin ich gezwungen, über Körper anderer Agenten zu steigen, die in aller Öffentlichkeit wie angeschossene Tiere irgendwo umkippen und verenden. Einen von ihnen habe ich unlängst in eine dunkle Seitengasse gezogen und ihm seine noch recht gut erhaltene Krähenhaut abgezogen. Ich habe sie in meiner Unterkunft gewaschen und vor einem Spiegel anprobiert. Sie sitzt etwas locker an meinem Körper, sie wirft unschöne Falten wie ein schlecht geflickter Schatten und ist deshalb für die zu erwartenden letzten Momente denkbar wenig geeignet. Anders verhält es sich mit meinem dunklen Mantel, den ich auch in der Bar, die ich betrete, nicht ablege. Kaum habe ich an der Theke bestellt, betritt eine Figur das Lokal, die mir ebenfalls schon in den ersten Tagen meines Aufenthalts begegnet ist: Es ist ein Verwahrloster, in seiner elenden Aufmachung ein fast schon verkleidet wirkender Charakter. Zuerst vermutete ich in ihm einen schlecht getarnten Spitzel – ein Verdacht, der sich bislang nicht bestätigt hat. Man würde vermuten, dass der Namenlose das Ende der Welt verkünden würde, womit er angesichts der Umstände und Ereignisse auch gar nicht falsch liegen könnte. Aber nein, er kündet vielmehr von einem neuen, vom Element des Wassers bestimmten Reich der Erlösung. Er untermalt seine lautstarken Ausführungen mit Aufnahmen, die er mit einem alten Kassettenrekorder abspielt. Das Gerät, das er, wie er ebenfalls bei jedem seiner skurrilen Auftritte betont, mit sich führt, um böse Geister fernzuhalten, steckt in einem abgewetzten, schmutzigen Stoffsack. Der Sound der abgespielten Musik dringt nur gedämpft hindurch und hat keinerlei Wirkung auf mich. Nicht zuletzt durch diesen textilen Filter wirkt der Warnende, der, kaum hat er seine Heilsbotschaft erneut verkündet, auch schon wieder weiterstürzt, wie ein tragisches, an sein magisches Abwehrmittel gebundenes Unwesen.

V.

Die Ablenkungen dieser trägen Nächte führen mich in den späteren Stunden nicht selten in ein altes Kino unweit der Trinkstätten. Hier wird gezeigt, was an Filmrollen noch vorhanden ist. Unvollständige Klassiker werden ohne Unterbrechung oder Übergänge an billige Sexfilme gekoppelt. Bei freiem Eintritt kann man auch hier zu fast jeder Stunde eine Überraschung geboten bekommen. Der Aushang am Gebäude preist, da sich niemand die Mühe einer tatsächlichen Programmankündigung macht, sensationelle neue Filmaufnahmen aus den Frontabschnitten im Osten. Es sind grelle, längst hinfällige Plakate, die den Sieg des Kombinats verheißen. Ich betrete, mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, den Saal möglichst leise und suche mir einen Sitzplatz abseits der stets gut gefüllten Reihen im hinteren Publikumsbereich. Auf der mitgenommenen Leinwand wird eben das anatomische Geschiebe schweißüberzogener, kaum zu unterscheidender Leiber von einem Propagandafilm jüngeren Datums abgelöst. Ich habe diesen Streifen schon gesehen, ein kleiner Aufklärungsflieger hat ihn vor etwa zehn Tagen über der Insel abgeworfen. Die projizierte Szenerie soll, so machte es schon bei der ersten Sichtung den Anschein, die Wirklichkeit des Kriegsverlaufs überholen und im Sinne des Kombinats wieder einrichten. Ich will und kann diesen unerträglichen Film nicht noch einmal sehen und mache mich auf, den Saal wieder zu verlassen. Auf dem Weg hinaus nickt mir eine passabel aussehende junge Frau zu, ich erwidere stumm ihren Gruß, und sie folgt mir nach draußen. Wir sprechen kein Wort, sie nimmt, mich verstohlen musternd, meine Hand und zieht mich in Richtung eines Wohnhauses. Auch später wird sie kaum etwas sagen, nur in mir besonders unpassend scheinenden Momenten spricht sie ein paar irritierende, nicht zusammenhängende Sätze.

Trotz des Lärms erneuter Überflüge und heulender Sirenen wacht sie in den frühen Morgenstunden nicht auf. Ich schlüpfe aus dem Bett, suche meine Kleidung zusammen und stehle mich aus befürchteten engen Verhältnissen. Es gilt, eine einfach Lektion zu wiederholen: Ich kann nichts wissen und niemanden kennen, weil ich nichts lernen oder behalten kann. Es sind Manöver gegen die Schwere und die Langeweile, die zumindest kurz etwas wie Wirksamkeit entfalten. Dann kehrt die Haltung von Fremdheit und Trotz zurück. Ich kann das Einschlagen weiterer intelligenter Häuser spüren, am Grau des langsam heller werdenden Himmels zeichnen sich lange Reihen von Flugmaschinen ab. Für einen Moment lässt mich dieser Anblick wie versteinert posieren, wie als würde ich fotografiert werden. Entgegen meiner ursprünglichen Absicht, zumindest kurz vor meiner täglichen Routine zu meiner Unterkunft zurückzukehren, eile ich zur Festung. Der Körper des Riesen liegt zusammengesunken neben dem Tor, müßig frage ich mich, wo sein Kopf ist. Ich laufe zum Funkturm, das Laub und die kleinen Bäume, die hier sonst nicht stehen, ignorierend. Auf der obersten Plattform angekommen und nach Atem ringend, finde ich die Hindin, die in der Ecke kauert und mich mit ihren dunklen Augen mustert. Trotz ihrer Haltung strahlt sie Stolz und Würde aus, als ich mich zu ihr hinabbeuge, faucht sie wie ein verletztes Tier. Ich taste nach ihrer Hand, weil es keinen Unterschied mehr macht.

THOMAS BALLHAUSEN

lebt als Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).

Editorische Notiz: Die vorliegende Erzählung stammt aus dem Band In dunklen Gegenden (Wien, 2014). Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Edition Atelier.