Überlegungen zu und Gespräche mit einem verstorbenen Vater.
Eine Erzählung von SOPHIE FELSINGER
Mein Vater ist tot. Ich sehe ihn am Küchentisch sitzen, Kopf in den Händen, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. Ich gehe an ihm vorbei, öffne die Kühlschranktür und suche nach dem Orangensaft.
Mein Vater blickt auf, blinzelt zweimal. Die Küche ist zu klein für seinen Blick, der wirr umherspringt, der kleine Raum zu beengend. Er hält seinen Blick gefangen, lässt ihn das, was er sucht, nicht finden.
„Bist du nicht auf der Uni?“
Ich nehme einen Schluck direkt aus der Flasche und schüttele den Kopf. Die Kühlschranktür hinter mir schließt sich mit einem Knall. Der Orangensaft schmeckt schlecht, schon abgelaufen. Ich nehme noch einen Schluck.
„Nein. Ich habe heute keine Vorlesungen, es ist Samstag. Wann war die Putzfrau das letzte Mal da?“
Die Leiche, die mein Vater ist, wedelt mit der Hand.
„Paar Tage. Bleibst du hier?“
Ich nicke und mache eine vage Kopfbewegung in Richtung Eingangstür, wo meine gepackte Tasche steht. Der Blick meines Vaters irrt zur Wand, als ob er durch sie hindurch auf meine Sachen sehen könnte. Kann er nicht, und sein Blick findet auf Umwegen wieder zu mir.
„Ich bleibe übers Wochenende. Muss eh viel lernen, also sollte ich hier nicht zu sehr stören.“
Mein Vater wedelt wieder unbeholfen mit der Hand und lächelt ein wenig.
„Stör so viel wie du willst. Ich werde ja sonst noch ganz einsam hier.“
Am Abend kocht mein Vater Spaghetti und er sieht fast schon lebendig aus, als er sich zu mir an den Tisch setzt. Ich schiebe meine Zettel und Stifte weg und sehe ihn an, gewöhne mich langsam wieder an den Anblick von Staub, verfaulten Zähnen, einem unter der Haut durchschimmernden Totenschädel, an das Skelett, das mir gegenübersitzt. Mein Vater ist dünner als sonst, aber längst nicht so dünn, dass man seine Knochen sehen sollte. Ich sehe sie trotzdem – ich weiß ja, dass er tot ist. Das hilft ungemein.
Die Spaghetti sind gut, wenn auch etwas hart. Ich sage es der Leiche am Tisch und der Totenschädel lächelt, bevor er die Stirn runzelt, auf der alleine für diese Bewegung wieder Haut erschienen ist.
„Ich dachte du magst al dente.“
Ich zucke die Schultern und esse weiter, spüle nach dem Essen die Schüsseln aus. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher und ich setze mich zu meinem Vater, lege meinen Kopf auf seine Schulter.
„Bist du sehr einsam?“ frage ich während der Werbepause.
Mein Vater zuckt die Schultern, mein Kopf hüpft auf und ab. Die Leiche nickt, nickt noch einmal.
„Es ist schwer, ohne deine Mutter. Alles ist leerer, größer plötzlich. Sie hat noch nie abgehoben. Redest du manchmal mit ihr?“
Mein Vater klingt klein und verletzlich und ich beobachte, wie der Fernsehbildschirm eine Familie beim Strudelessen zeigt. Das Kind grabscht mit klebrigen Fingern nach der Mutter, die lacht und ausweicht. Der Vater schaut zu, ebenfalls lächelnd. Im Hintergrund spielt es Werbungsmusik, fröhliche, leichte Musik. „Luftige Lieder“ hat meine Mutter das genannt.
Ich drehe mich zur Leiche neben mir, schaue in die Löcher, die einmal Augen waren. Augenhöhlen, denke ich.
„Ja, fast täglich. Sie ruft oft an. Sie ist jetzt im elften, Simmering. Wir reden lang. Ich hab sie noch nicht besucht, aber ihr Freund soll ganz nett sein. Die neue Wohnung auch.“
Die Leiche, das Skelett, nickt und wendet sich wieder dem Fernseher zu. Mein Kopf rutscht von den Schulterknochen und ich setze mich auf, halte Abstand von dem Gerüst aus Knochen und Staub neben mir.
Die Mikrowelle piepst und ich hole das Popcorn aus der Küche, sehe zu, wie mein Vater in die Schüssel greift. Seine Haut ist trocken und ich denke an die Cremes im Bad, die nicht mehr da sind. Vielleicht sollte ich nach Simmering fahren, eine holen gehen. Den Freund kennenlernen, die Wohnung besichtigen. Schauen, wie es sich so unter den Lebenden lebt.
Der Film endet und mein Vater schläft auf der Couch, Mund offen. Sein Haar fällt ihm ins Gesicht und ich streiche die Strähnen weg, presse einen sanften Kuss auf seine Stirn. Seine Haut ist weich.
Ich gehe in mein Zimmer, krieche ins Bett, liege am Rücken, die Augen offen. Meine Lippen brennen und ich trage Labello auf, spiele mit dem Gedanken, meine Mutter anzurufen, oder eine Freundin vielleicht. Das Wochenende dauert noch einen Tag und ich sehne mich jetzt schon nach menschlichem Kontakt.
Die Wohnung ist leer, als ich aufstehe, mein Vater bei der Arbeit. Ich mache mein Bett, staubsauge, öffne jedes Fenster. Ich suche im Bad nach den Spuren meiner Mutter und entdecke eine Flasche Nagellack und einen Socken. Ich stecke beides in ein Kuvert, schreibe „Simmering“ drauf und werfe es in meine Tasche.
Mein altes Zimmer ist kleiner, als ich es in Erinnerung hatte und ich werfe die Decke gegen die Wand. Das offene Fenster scheint zu spotten, lockt mich mit einem schönen Frühlingstag nach draußen, mit Menschen in Cafés und Restaurants, mit Parks und Spaziergängen. Ich ziehe die Vorhänge vor und beginne, zu lernen.
Mein Vater kommt am Abend, steckt die Schlüssel in das Schloss und sperrt auf, schließt die Tür hinter sich, steckt die Schlüssel von der anderen Seite in das Schloss und sperrt zu. Ein Tanz, den ich seit Jahren kenne, eine Symphonie, die ich seit Jahren höre.
Das Parfum meiner Mutter liegt auf einmal in der Luft, schwer und voller alter Versprechen, und ich reiße die Vorhänge weg und mein Fenster weiter auf. Ein Vogel zwitschert und ich gehe meinen Vater begrüßen.
Er lächelt, als er mich sieht, kein Schädel dieses Mal, nur ein Mensch, und ich lächele zurück, nehme ihm die Einkäufe ab. Er hat wenig gekauft, aber ich sage nichts, räume die Sachen ein, während er sich die Hände wäscht.
Er erzählt mir von der Arbeit während wir kochen und obwohl ich nicht zuhöre, genieße ich den Klang seiner Stimme, das menschliche daran. Das Essen ist schnell fertig, und auch wenn wir vielleicht keine Strudel-Familie sind, mein Vater und ich, auch wenn keine pickigen Hände nach irgendjemandes Haar grabschen, schmeckt es.
Von draußen kommt immer noch Licht rein und ich wasche ab, während mein Vater und sein unendlicher Blick aus dem Fenster starren. Ich kann die Knochen wieder durch seine Haut schimmern sehen. Das Spülmittel macht meine Hände rutschig. Ein Teller fällt aus meiner Hand zurück in das Spülbecken und ich fluche, tauche meine Hand in das schäumende Wasser, hole den Teller wieder hoch.
Mein Vater steht neben mir, ich habe ihn nicht kommen hören und zucke zusammen, als ich seinen Atem höre, durch seinen Körper rasselnd und zwischen seinen freigelegten Rippen entweichend.
„Soll ich dir helfen?“ fragt das Skelett neben mir und ich schüttele den Kopf, sehe zu, wie es sich mit seinem Hüftknochen gegen die Spüle lehnt.
„Deine Mutter wollte auch nie Hilfe. Wie geht es dir beim Lernen?“
„Ganz gut so. Was hast du morgen so vor?“
Mein Vater beginnt von dem neuen Projekt in der Arbeit zu erzählen und ich lasse meine Gedanken schweifen, während ich die Teller abtrockne. Als ich mich zu ihm umdrehe, lächelt er, die Haut um seine Augen schlägt Falten.
„Es ist schön, dass du wieder hier bist.“
Ich lächle zurück, denke an das Nagellackfläschchen im Bad und an den Schaum im Waschbecken, gehe und umarme meinen Vater. Er riecht nach Staub und leicht nach Schweiß, aber als ich zurücktrete und ihn anschaue, spannt sich immer noch Haut über seinen Schädel, und er sieht schon fast aus wie ein Mensch.
Er geht ins Wohnzimmer und ich zum Kühlschrank, werfe den abgelaufenen Orangensaft weg, nachdem ich noch einen Schluck genommen habe.
Mein Vater schaut die Nachrichten und ich schreibe mit einer alten Freundin, erzähle ihr von meinem Wochenende, sie mir von ihrem Freund. Auch sie ist gerade bei ihren Eltern, aber anders als ich bei beiden gleichzeitig. Ich denke wieder an Simmering und den Geruch von Parfum in der Luft, an Nagellack und kleine Falten um leere Augenhöhlen herum.
Nach den Nachrichten spielen mein Vater und ich Karten am Küchentisch, allein und nur mit dem Licht der Stehlampe. Früher hat mein Vater meine Mutter immer besiegt und ich dann ihn, aber jetzt hat mein Vater niemanden, den er übertreffen kann und ich sehe zu, wie eine Rippe sich aus seinem Brustkorb löst, als ich ihn besiege. Sie fällt klappernd auf den Küchenboden und bleibt dort liegen, weiß und fragil. Die Küche riecht nach Staub und die Leiche mit aschiger Haut, die mir gegenübersitzt, lächelt, als sie die Karten zusammenpackt.
Sie geht vor mir ins Bett, während ich noch die Küche lüfte, eine Freundin anrufe, aus dem Fenster starre. Es tut gut, eine andere Stimme zu hören und ich schließe die Augen, sperre die Welt aus, konzentriere mich nur auf ihre Worte. Bald werden wir uns wieder in der Uni sehen und ich denke jetzt schon darüber nach, was ich ihr erzählen könnte, darüber, was ich am Wochenende getan habe.
Mein Zimmer ist kalt, als ich schlafen gehe, das Fenster immer noch offen. Es sieht aus wie eine einzige, leere Augenhöhle, die Vorhänge wie Runzeln und Falten rundherum. Das Auge blickt nicht freundlich drein, und ich mache das Fenster zu, lasse es schlafen. Mein Bett ist kalt und es braucht lange, bis ich einschlafe, der Geruch von Parfum und Staub schwer in der Luft.
Am nächsten Morgen piepst die Mikrowelle und ich stelle mich davor, denke an die Mikrowellenstrahlung, wie ein eigenes kleines Solarium. Meine Haut ist blass, fast schon fahl. Mein Vater schläft noch und ich nehme mein Essen aus der Mikrowelle, setze mich an den Küchentisch. Mit einer Hand esse ich, mit der anderen tippe ich langsam am Computer, bis mein Handy klingelt, laut und plötzlich.
Es ist meine Mutter, aus Simmering ruft sie an, schnell erreichbar, aber gleichzeitig eine Reise, die Jahre dauern würde. Ich hebe ab.
„Hallo, Liebling! Ich dachte mir, ich ruf dich mal an, nachdem du dich gestern nicht gemeldet hast.“
Ich nuschele etwas, stecke mir einen Bissen in den Mund, kaue langsam. Ich habe das Bedürfnis, das Fenster zu öffnen, rauszuspucken, schauen, ob ich bis nach Simmering spucken kann, vielleicht.
„Wie gehts dir so? Du bist bei deinem Vater, oder? Wie gehts ihm – hat er sich wieder etwas eingekriegt, gehts ihm gut, hat er sich unter Kontrolle?“
„Gut gehts mir“, sage ich, „ja, ich bin bei ihm, ihm gehts auch gut. Er ist gestorben, weißt du?“
Meine Mutter lacht und redet weiter, als hätte ich nichts gesagt. Kalt ist es in der neuen Wohnung anscheinend, aber schön sei sie, so groß und hell, gar nicht wie die alte, und oh Liebling, du kommst uns doch eh mal besuchen, oder? Der Freund würde sich so freuen dich kennenzulernen, und ich würde mich doch auch freuen. Die neue Wohnung muss man mal gesehen haben, so groß und schön, so hell und modern. Du kommst doch mal Liebling, oder?
Simmering ist Jahre entfernt, Lichtjahre sogar, und obwohl ich hinspucken kann, kann ich niemals hinreisen. Ich sage trotzdem zu, meine Mutter lacht wieder und erzählt dann weiter von ihrem Freund. Ich erwähne fast den Socken und das Nagellackfläschchen, schweige dann aber doch, weil mein Vater in die Küche kommt. Er lächelt, als er mich sieht, diesmal keine Knochen unter seiner Haut, und ich drehe mich um und gehe aus der Küche, meine Mutter immer noch ans Ohr gehalten.
Zwanzig Minuten später ist sie fertig und mein Vater trinkt Kaffee in der Küche, blättert durch die Zeitung.
„Eine Unikollegin?“, fragt er, lächelt mich wieder an.
Ich denke an Nagellack, Parfum und Staub in der Luft, leere, schwarze Augenhöhlen; sogar in meinem Zimmer. Ich denke an Kartenspielen und Strudelessen, brechende Rippen und weiße Totenschädel.
„Eine alte Bekannte“, sage ich, setze mich zu der Leiche an den Tisch, „aus Simmering.“
SOPHIE FELSINGER
wurde 2001 in Wien geboren. Sie studiert an der Karl-Franzens-Universität Transkulturelle Kommunikation. 2018 hat sie den zweiten Platz bei dem edition exil-Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen.
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