Der Beitrag von STEPHAN GRIGAT untersucht verschiedene Formen des Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart der österreichischen Linken und arbeitet auf breiter Basis u. a. die mehr als bedenkliche Verbindung von Antiimperialismus und Antizionismus heraus.
I. Einleitung
Die Ideologie des Antisemitismus, die in der postnazistischen Welt ohne bekennende Antisemiten auskommt, ist für einige Linke schon deswegen attraktiv, weil sie sich den Anschein des Rebellischen gibt. Hannah Arendt wusste schon in den 1950er-Jahren, dass es sich bei der Annahme, Antisemitismus sei ausschließlich ein Phänomen der politischen Rechten, um ein hartnäckiges Vorurteil handelt. Besonders deutlich wird das bei zahlreichen linken Positionierungen gegenüber Israel.
Im Antizionismus der Linken wird jenes binäre, dichotomische antiimperialistische Schema, das jahrzehntelang die vorherrschende linksradikale Sicht auf globale Herrschaftsverhältnisse geprägt hat, auf die Situation im Nahen Osten angewendet. Ideologiekritische Ansätze können zeigen, inwiefern der Antisemitismus die Biologisierung und Personalisierung des real Abstrakten kapitalakkumulierender Ökonomie betreibt. In Anknüpung an solch ein Antisemitismusverständnis in der Tradition der Kritischen Theorie können sie auch deutlich machen, inwiefern der Antizionismus in nahezu all seinen Ausprägungen eine geopolitische Reproduktion des Antisemitismus darstellt. Dabei geht es nicht in erster Linie um den Antizionismus vor dem Nationalsozialismus, der sich gerade als linksradikaler mit dem Verweis auf die (vermeintlich) anstehende allgemeine Emanzipation, die auch den Antisemitismus aus der Welt schaffen würde, noch halbwegs legitimieren konnte, sondern um den postnazistischen, dessen Kern es ist, Juden mit welcher Begründung auch immer, das Recht auf einen eigenen Nationalstaat selbst noch nach der Shoah, nach dem Scheitern nicht nur des bürgerlichen Gleichheitsversprechens, sondern auch der kommunistischen Emanzipationserwartung zu verwehren.
Der Antisemitismus als ökonomische Seite des Judenhasses konstruiert sich das Bild des „Shylock-Juden“ und spaltet darin jene notwendigerweise zum Kapital gehörigen, aber als bedrohlich, unmoralisch, illegitim, volksfremd, zersetzend und zerstörend empfundenen Elemente des ökonomischen Prozesses ab. Dieses schon für den vormodernen Antisemitismus charakteristische und in linken Globalisierungsdebatten häufig reproduzierte Bild wird in der antizionistischen Propaganda ergänzt durch das Bild des „Rambo-Juden“, dessen sinnbildliche Verkörperung der israelische Soldat sein soll. So wie sich der Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus nicht gegen die tatsächlich oder vermeintlich Unterlegenen richtet, sondern gegen die als überlegen Wahrgenommenen, so richtet sich der Antizionismus ähnlich wie der Antiamerikanismus nicht gegen die Loser-Staaten in der internationalen Konkurrenz der Souveräne, sondern gegen jene, denen ihr Erfolg verübelt wird. Schon dadurch kann sich der Antizionismus ganz ähnlich wie der Antiamerikanismus den Schein des Rebellischen und die Aura moralischer Dignität geben, was ihn für Teile der Linken interessant macht.
Wenn von einem spezifisch linken Antisemitismus die Rede ist, lassen sich fünf Punkte unterscheiden, die in der Literatur behandelt werden: Erstens die marxistischen Klassiker, ihr Umgang mit Antisemitismus und ihr Verhältnis zum Judentum; zweitens die sich auf diese Klassiker berufende traditionelle Arbeiterbewegung, der Realsozialismus des untergegangenen Ostblocks, zu dem Teile der österreichischen Linken enge Beziehungen unterhielten, sowie die inzwischen selbst historische Neue Linke; drittens die Affinitäten falscher linker Kapitalismuskritik zu antisemitischen Ressentiments; viertens spezifisch linke Formen der Schuldabwehr – insbesondere, aber nicht ausschließlich in den postnazistischen Gesellschaften; und fünftens das Verhältnis der Linken zum israelischen Staat und zum Zionismus. All diese Punkte spielen in der historischen und gegenwärtigen Linken in Österreich, in der die Aufarbeitung des Antisemitismus in den eigenen Reihen im Vergleich zu Deutschland mit einer gewissen Verzögerung eingesetzt hat, eine Rolle. Seit etwa 20 Jahren ist die Kritik am linken Antisemitismus allerdings auch in Österreich nicht nur Gegenstand innerlinker Debatten, sondern eine etablierte Disziplin sowohl der historisch als auch der theoretisch orientierten Antisemitismusforschung geworden: Mittlerweile liegen empirische Aufarbeitungen insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zu Israel vor, und auch theoriegeleitete Kritiken bestimmter Ausformungen der Kapitalismuskritik wurden in Österreich diskutiert bzw. anhand österreichischer Beispiele formuliert.
II. Historisches Erbe aus der Ersten Republik
In der Zwischenkriegszeit war der Vorwurf, eine Partei fungiere als „Judenschutztruppe“, nahezu Allgemeingut und wurde von fast allen politischen Lagern gegen die jeweiligen Konkurrenten erhoben. Als spezifische Form eines sozialistischen Antisemitismus kann die Agitation gegen den „reichen Juden“, gegen die „jüdische Großbourgeoisie“ und den „jüdischen Kapitalismus“ gelten. In der österreichischen Arbeiterbewegung der Ersten Republik war man bemüht, den Antisemitismus der Massen zu bedienen, was sich unter anderem darin äußerte, dass die Personifikationen des Kapitals auf den Plakaten der Wiener Sozialdemokratie nicht selten eine Physiognomie aufwiesen, die Antisemiten für Jüdinnen und Juden reserviert haben. In einer Reihe von sozialistischen Publikationen fanden sich Begriffe wie „Bankjuden“ oder „Börsejuden“, und in der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit erfolgten Rückgriffe auf antisemitische Ressentiments deutlich häufiger als etwa in der SPD der Weimarer Republik.
Dass die Rothschilds zeitweise im Zentrum der Kritik der österreichischen Sozialdemokraten standen, hatte keineswegs nur mit dem realen Einfluss der Bankiersfamilie zu tun, sondern resultierte aus den mitunter strukturell antisemitischen Prämissen bestimmter Ausprägungen der Kapitalismuskritik. Der radikale Antisemit Georg von Schönerer, der sich über Jahre mit demagogischen Angriffen gegen die Rothschilds hervortat, konnte sich gewisser Sympathien bei Teilen der Sozialdemokratie erfreuen. Die Agitation der Sozialdemokraten beschränkte sich aber keineswegs darauf, gegen „jüdische Kapitalisten“ zu wettern. Es gab ebenso massive Angriffe gegen das orthodoxe Judentum und gegen die mehrheitlich zu den unterprivilegiertesten Schichten gehörenden Jüdinnen und Juden aus Osteuropa.
Die 1918 gegründete Kommunistische Partei Österreichs, die in den 1920er-Jahren im Schatten der austromarxistischen SPÖ vor sich hin dümpelte und sich erst nach der Niederlage der Sozialisten gegen die Austrofaschisten 1934 und der Kapitulation der Sozialdemokratie vor dem Nationalsozialismus zu einer Massenpartei entwickelte, unterschied sich in der Ersten Republik diesbezüglich nicht maßgeblich von der SPÖ. Für die 1930er-Jahre wird das Problem des Antisemitismus bei den Anhängern der KPÖ vom ehemaligen Parteivorsitzenden Walter Baier deutlich thematisiert: In seiner Geschichte der KPÖ zitiert er Hilde Koplenig, die Frau des damaligen Vorsitzenden, mit ihrer Einschätzung eines „latenten Antisemitismus, der wohl in allen unteren Organisationen beider Arbeiterparteien herrschte“, und verweist auf die aus Deutschland als Parteiinstrukteurin nach Wien geschickte Grete Wilde, die eine deutliche Stellungnahme gegen den Antisemitismus forderte, „den sie in der Organisation vorfand“, insbesondere bei den in die Partei strömenden enttäuschten Sozialdemokraten. Baier konstatiert, dass der Antisemitismus in der Arbeiterbewegung zum einen dem Nationalsozialismus Vorschub leistete, und zum anderen einen Grundstein für anhaltende Konflikte in der KPÖ legte, der ab 1934 einerseits sozialdemokratische Arbeiter, andererseits jüdische Intellektuelle beitraten.
Bezüglich der Agitation gegen den Zionismus hat Olaf Kistenmacher gezeigt, dass die ressentimenthafte Ablehnung des jüdischen Staatsgründungsprogramms in Teilen der Linken schon lange vor 1948 existierte: Die antizionistischen Positionen, die in der westeuropäischen Linken nach dem Sechstagekrieg und in der osteuropäischen Staatslinken nach einer kurzen prozionistischen Phase seit Beginn der 1950er-Jahre vertreten wurden, mussten „nicht erst 1967 oder nach 1945 erfunden werden.“ Kistenmacher legt anhand der Roten Fahne der Kommunistischen Partei Deutschlands dar, dass die Annahme, der linke Antizionismus habe erst nach 1945 seine antisemitische Aufladung erhalten, nicht haltbar ist. Die Bewertung des Zionismus durch die KPD „nach ganz anderen Maßstäben als andere nationale Bewegungen“ muss als Vorläufer der „späteren Dämonisierung und Delegitimierung Israels“ begriffen werden. Selbst die Gleichsetzung des Zionismus mit dem Nationalsozialismus wurde von der KPD bereits Anfang der 1930er-Jahre praktiziert.
Betrachtet man die Rote Fahne in Österreich, die als Zentralorgan der Kommunistischen Partei Oesterreichs erschien, fällt das Urteil nicht ganz so deutlich aus, weil hier der Zionismus zumindest nicht als „faschistisch“ qualifiziert wurde. Dennoch finden sich auch bei der KPÖ in der Ersten Republik Äußerungen zum Zionismus, die deutlich über die gängige, wenn auch häufig selektive linke Kritik am Nationalismus hinausgingen. 1925 diffamierte die KPÖ den Zionistenkongress in Wien als „Kongreß der englischen Fremdenlegionäre“. Als es 1929 zu pogromartigen Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden im Mandatsgebiet Palästina mit zahlreichen Toten kam, wurden Hinweise auf die antisemitisch motivierten Morde als „niederträchtigste Geschichtsfälschung, die überhaupt denkbar ist“ bezeichnet, und der Zionismus auf der Titelseite der Roten Fahne als „künstlich aufgezogene jüdische Nationalbewegung“ attackiert. Diesem wurde der scheinbar naturwüchsige und schon deshalb zu unterstützende arabische Nationalismus entgegengestellt, dem ein „antiimperialistischer Charakter“ attestiert wurde. Diese Entgegensetzung eines als verwerflich charakterisierten „künstlichen“ jüdischen Staatsgründungsprogramms einerseits und eines positiv konnotierten, scheinbar organischen Staatsprojekts andererseits, teilt der linke antisemitische Antizionismus bis in die Gegenwart mit dem panarabischen, dem nationalsozialistischen und dem islamistischen Antizionismus.
III. Kontinuität und Transformation im Postnazismus
Nach ihrer zentralen Rolle im Widerstand gegen die Nazis vereinte die KPÖ 1945 über 100.000 Mitglieder, gehörte zu den Mitbegründerinnen der Zweiten Republik und war zeitweilig in der Regierung sowie bis 1959 im Nationalrat vertreten. Auch wenn der Antisemitismus in allen anderen österreichischen Parteien bedeutend stärker verbreitet war, agierten bereits in der Nachkriegszeit auch KPÖ-Funktionäre in einer Art, die Antisemitismus ignorierte, antisemitische Ressentiments in der österreichischen Bevölkerung forcierte und zum Teil selbst als antisemitisch bezeichnet werden muss.
1947 kam es in Bad Ischl wegen einer Streichung der Milchration für Kinder zu einer Demonstration, die sich nicht gegen die für diese Maßnahme Verantwortlichen richtete, sondern gegen die in der Stadt untergebrachten jüdischen displaced persons. In Braunau fanden von Kommunisten angeführte Hungerdemonstrationen statt, auf denen gefordert wurde, die jüdischen DPs aus dem Lager Ranshofen zu deportieren. Kurze Zeit später zerstörten unbekannte Täter die im DP-Lager befindliche Synagoge. Im Verlauf der Demonstration in Bad Ischl, an der auch ortsbekannte Nazis teilnahmen, zog eine von KP-Funktionären aufgepeitschte Menge zur Unterbringung jüdischer DPs und skandierte dort Parolen wie „Schlagt die Juden tot!“. Wenige Tage danach wurden sechs Personen verhaftet und zu hohen Strafen verurteilt, die später deutlich herabgesetzt wurden. Während der Unterstützungskampagne für die Verhafteten bestärkte die KPÖ das ohnehin in der Bevölkerung vorhandene Bild von den jüdischen DPs als „Schleichhändler“, deren Vergehen nicht geahndet, sondern mit zusätzlichen Privilegien belohnt würden. Obwohl die jüdischen DPs nicht mit österreichischen Steuergeldern, sondern von den US-Alliierten finanziert wurden, stellte die damals als Tageszeitung der KPÖ erscheinende Volksstimme Berechnungen an, die den Österreicher*innen aus der Nazi-Zeit bekannt vorgekommen sein müssen: „600.000 DP kosten uns über 100 Millionen Schilling“, „460 Tageskalorien des Arbeiters essen die DP.“ In der Kampagne gegen die strafrechtliche Verfolgung der kommunistischen Einpeitscher*innen mobilisierte die KPÖ zentrale Elemente eines Schuldabwehrantisemitismus, der nach 1945 auch in Teilen der SPÖ existierte: Innenminister Oskar Helmer beschuldigte „österreichische Juden“, sie würden „Propaganda gegen Österreich“ betreiben, gegen die man sich „zur Wehr setzen“ müsse; Bundespräsident Theodor Körner sah es 1947 als seine Aufgabe, dem „Märchen vom Antisemitismus“ entgegenzutreten, qualifizierte Berichte über antisemitische Angriffe als „Schauergeschichten“ und sprach von „Brunnenvergiftung“ und „Rufmord an der Heimat“.
Auf Grund ihres engen Verhältnisses zur KPdSU begriff es die KPÖ in den 1950er-Jahren als ihre Pflicht, der antizionistischen Propaganda in der Sowjetunion und in den anderen Ostblockstaaten zu bescheinigen, dass diese nichts mit Antisemitismus zu tun habe. Selbst noch die antisemitischen Schauprozesse in den 1950er-Jahren wurden legitimiert. In der Volksstimme und im Theorieorgan Weg und Ziel wurde das Vorgehen im Slánský-Prozess in der Tschechoslowakei verteidigt. Auch der Ärzte-Prozess in der Sowjetunion wurde gerechtfertigt. Die Volksstimme konnte in den Angeklagten keine Opfer einer antisemitischen Kampagne erkennen, sondern erblickte in den Ärzten die Inkarnation des Bösen: „Bestien in Menschengestalt“.
Die Schauprozesse im Realsozialismus waren von vornherein als antisemitische Tribunale konzipiert. Der ehemalige KPÖ-Vorsitzende Baier hat die Konsequenz des Leugnens des Antisemitismus bei der stalinistischen Gleichschaltung Osteuropas seitens seiner Partei in einem wenig bekannten Bereich herausgearbeitet: 1946 gewann die KPÖ die Wahlen zur Vertretung der Israelitischen Kultusgemeinde, und der Kommunist David Brill wurde ihr erster Präsident. Durch ihre Leugnung des stalinistischen Antisemitismus verlor die Partei jedoch in kurzer Zeit „in der jüdischen Öffentlichkeit einen großen Teil der Autorität, die sie sich im Widerstand und nach der Befreiung erworben hatte“.
Als 1968 Aktionen gegen Jüdinnen und Juden in Polen begannen, gab es innerhalb der KPÖ Diskussionen über eine angemessene Reaktion. Mit über einem Jahr Verspätung führten diese zu einer Erklärung, in der Besorgnis über die Ereignisse zum Ausdruck gebracht, der Antisemitismus in der eigenen Partei thematisiert und neben dem Nationalismus Israels auch jener der Araber verurteilt wurde. Zuvor jedoch veröffentlichte die Volksstimme die Rechtfertigungsversuche der polnischen KP-Führung für ihr Vorgehen gegen Jüdinnen und Juden.
IV. 1968 und Neue Linke
Parteimitglieder, die Kritik am Antisemitismus im Realsozialismus und in der eigenen Partei formulierten, traten später größtenteils aus der KPÖ aus oder wurden ausgeschlossen. Seit 1968 forcierte die KPÖ ihre Kritik an Israel, und durch ihre enge Kooperation mit den Ostblock-Staaten hatte sie Anteil am Krieg und Terror gegen den jüdischen Staat, die in den 1970er- und 1980er-Jahren von den arabischen Staaten mit massiver Unterstützung der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten betrieben wurden.
Zunehmend wichtig wurde in dieser Zeit der Antizionismus von Gruppierungen der Neuen Linken, die weitgehend aus der Studierendenbewegung der 1960er-Jahre entstanden. Im Vergleich zur bundesdeutschen Entwicklung kann in Österreich von einer Verzögerung der Transformation zu einem hegemonialen Antizionismus in der Linken nach dem Sechstagekrieg gesprochen werden, die in den 1970er-Jahren aber dennoch stattfand.
Bezüglich Österreich von „den 68ern“ zu sprechen, ist eine Übertreibung. Während deutsche Student*innen und Lehrlinge eine weltweit wahrnehmbare Bewegung konstituierten, wurden die Proteste, die Ende der 1960er-Jahre von den österreichischen Universitäten ausgingen, treffend als „zahme Revolution“ oder „heiße Viertelstunde“ charakterisiert. Dieser Unterschied resultiert aus den ungleichen Entwicklungen der postnazistischen Gesellschaften in Deutschland und Österreich.
In Deutschland erzwang die Reeducation zumindest eine oberflächliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Sie vermittelte ein westlich-demokratisches Ideal, an dem die Protestbewegung der 1960er-Jahre die Realität sowohl der bundesrepublikanischen Gesellschaft als auch der US-amerikanischen Außen- und Innenpolitik messen konnte. Das fast vollständige Fehlen solch einer Reeducation erschwerte in Österreich die Herausbildung einer breiten Bewegung, die sich einerseits an den Idealen der US-amerikanischen demokratischen Siegermacht orientieren und andererseits diese Ideale kritisch gegen die Politik der USA in den 1960er-Jahren hätte richten können.
Dennoch lassen sich Ähnlichkeiten in der Entwicklung der deutschen und österreichischen Linken aufzeigen. Auch in Österreich forcierte die Linke seit 1967 ihre Kritik an Israel, während die Kritik am Antisemitismus, die in den frühen 1960er-Jahren noch ein zentrales Motiv für die sich politisierenden Studierenden gewesen war, nur mehr eine untergeordnete Rolle spielte. Zugleich etablierte sich eine Form des Antiamerikanismus, die für die postnazistischen Gesellschaften charakteristisch ist: Die Kritik an den USA wurde mittels ihrer Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus betrieben, etwa 1972 beim Besuch Richard Nixons in Salzburg, bei dem eines der bekanntesten Bilder der österreichischen Protestgeschichte entstand: Günther Nenning, Peter Kreisky und andere prominente 68er halten Plakate, auf denen steht: „Schreibtisch-Mörder zu Gast: Nixon“, wobei das „x“ als großes Hakenkreuz gezeichnet war.
Anfang der 1970er-Jahre sah die KPÖ nicht nur die Staaten des Realsozialismus Angriffen durch eine scheinbar weltumspannende zionistische Lobby ausgesetzt, sondern erblickte, passend zu ihrer nationalen Orientierung, auch in Österreich das „Opfer einer zionistischen Kampagne“. Den Anlass dafür bot die internationale Kritik an der Entscheidung der österreichischen Bundesregierung, das Durchgangslager für sowjetische Jüdinnen und Juden in Schönau zu schließen.
Österreich hatte der Jewish Agency Transitlager zur Verfügung gestellt, über die zehntausende Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion nach Israel ausreisen konnten. 1973 nahmen zwei Mitglieder der pro-syrischen Gruppe Adler der palästinensischen Revolution drei jüdische Emigranten und einen Zöllner in Österreich als Geiseln und forderten die Beendigung der Einwanderung osteuropäischer Jüdinnen und Juden nach Israel. Nach Verhandlungen mit der Kreisky-Administration kamen die Geiseln frei. Die Gegenleistung der österreichischen Regierung bestand in der Schließung des Durchgangslagers Schönau, was die KPÖ als das Ende einer „zionistischen Menschenschmugglerzentrale“ begrüßte. Der maoistische Kommunistische Bund Wien feierte die Erschwerung der jüdischen Emigration zwar als Etappensieg, stieß sich aber an der angeblich fortbestehenden „protozionistischen Haltung der österreichischen Regierung“. (Tatsächlich hat die Kreisky-Regierung schnell Ersatz für das Transitlager geschaffen.)
Aus der 68er-Bewegung ist auch in Österreich in den 1970er-Jahren ein linkes und linksradikales Milieu entstanden, dem zahlreiche der heute einflussreichen Meinungsmacher der Republik entstammen, die ein mindestens problematisches Verhältnis zu Israel und den USA haben – beispielsweise Georg Hoffmann-Ostenhof, der langjährige Außenpolitikchef des Nachrichtenmagazins profil, der sich durch Verharmlosungen des iranischen Antisemitismus hervortut, oder Peter Pilz, langjähriger Spitzenpolitiker der Grünen, der 2014 der israelischen Regierung „Massenmord an der palästinensischen Zivilbevölkerung“ vorwarf und „Sanktionen“ gegen den jüdischen Staat forderte.
Die aus der österreichischen 68er-Bewegung hervorgegangenen K-Gruppen betrieben eine aggressive Hetze gegen Israel. Der Kommunistische Bund schrieb 1973 in Bezug auf Israel: „Dieser Staat ist aggressiv und expansionistisch, er beruht auf Rassenhaß“. Der KB betrieb eine spezifische Form linker Vergangenheitsbewältigung und behauptete, durch die israelische Repression würden „die gleichen Praktiken von den zionistischen Machthabern gegen das palästinensische Volk“ angewendet, wie sie die Nazis gegen die Juden angewendet haben. Den Beweis für die Existenz von israelischen Lagern, in denen eine bürokratisch organisierte und industriell betriebene Massenvernichtung von Menschen stattfindet, blieben sie verständlicherweise schuldig. John Bunzl, in den 1990er- und 2000er-Jahren einer der meistinterviewten Nahostexperten in Österreich, erklärte 1973 die Position der trotzkistischen Gruppe Revolutionärer Marxisten, der auch Pilz und Hoffmann-Ostenhof angehörten. Es gehe um die „Beseitigung des Zionismus, des zionistischen Staates, der zionistischen Strukturen.“ Dass der Weg von der 68er-Revolte hin zur Hetze gegen die USA und Israel kein zwangsläufiger war, zeigen der Schriftsteller Robert Schindel, der nach seiner Zeit im KB mehrfach den Antizionismus seiner Ex-Genossen scharf attackiert und regelmäßig mit pro-israelischen Linken kooperiert hat, oder die Filmemacherin Ruth Beckermann, die sich schon 1982 bei Demonstrationen gegen den Libanonkrieg gegen Parolen wie „Nazis raus aus dem Libanon“ gewehrt hat. Bunzl hingegen fordert heute die Einbeziehung der offen antisemitischen Hamas in Friedensgespräche, verharmlost den islamischen Antisemitismus als Ausdruck legitimer Israelkritik, gibt Medien des iranischen Regimes bereitwillig Interviews und schreibt Solidaritätserklärungen für die Antiimperialistische Koordination (AIK), wenn dieser Antisemitismus vorgeworfen wird.
V. Israel-Diskussionen seit der Zweiten Intifada
Die AIK ist in Österreich seit zwei Jahrzehnten die aggressivste Vertreterin eines Antiimperialismus, der explizit das Bündnis zwischen linken und dschihadistischen Kräften anstrebt. 2006 plakatierte sie das Konterfei von Hassan Nasrallah in Wien. Sie ruft zur Unterstützung von Hamas und Hisbollah auf, unterstützte den „irakischen Widerstand“ und wird von der im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands beheimateten Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich als antisemitisch eingestuft. In den letzten Jahren haben Aktivisten der AIK am Quds-Marsch in Wien teilgenommen, bei dem jährlich zum Ende des Ramadan Anhänger des iranischen Regimes und der Hisbollah für die Vernichtung Israels demonstrieren. Führende Kader der AIK sind bei Kundgebungen des Quds-Marschs als Redner aufgetreten.
In den 2000er-Jahren wurde ein radikaler Antizionismus neben der AIK von weiteren sich selbst als „antiimperialistisch“ begreifenden Kleingruppen vertreten, beispielsweise der trotzkistischen Linkswende oder dem trotzkistischen ArbeiterInnenstandpunkt, der seit 2007 unter dem Namen Liga der sozialistischen Revolution firmierte. Aus letzterer ging die bis heute aktive Revolutionär-Kommunistische Organisation zur Befreiung hervor, auf deren Kundgebungen ganz offen die Auslöschung und Zerstörung Israels gefordert wird. Sowohl die AIK als auch die RKOB solidarisierten sich mit Mohamed Mahmoud, der später als IS-Terrorist mörderische Berühmtheit erlangte. Derartige Positionen stoßen bei anderen Gruppierungen wie der Sozialistischen Linkspartei oder der Revolutionär Sozialistischen Organisation zwar auf Kritik, dennoch teilen all diese Gruppierungen den antizionistischen Konsens des Trotzkismus.
In den 2000er-Jahren kam es in Wien zu gewalttätigen Übergriffen auf pro-israelische Linke: 2001 versuchten antizionistische Linke, eine proisraelische Diskussionsveranstaltung an der Universität zu sprengen, 2005 kam es zu einem gewaltsamen Angriff auf eine von pro-israelischen Linken organisierte Diskussionsveranstaltung, bei der über den Antisemitismus des iranischen Regimes hätte diskutiert werden sollen. An dem Angriff waren Aktivist*innen fast aller sich als „antiimperialistisch“ verstehenden Gruppierungen der Wiener Linken beteiligt. Ein damals führender Kader des ArbeiterInnenstandpunkt wurde in der Folge wegen Körperverletzung verurteilt. Auch in den letzten Jahren kam es zu Auseinandersetzungen zwischen pro- und antiisraelischen Linken, beispielsweise bei einer Anti-Abschiebungsdemonstration im November 2016 in Wien.
Bereits 2003 war es zu einem versuchten Angriff eines teilweise mit Palästinensertüchern vermummten, von der Gruppe Sedunia angeführten Mobs auf eine Gedenkkundgebung zum 9. November gekommen, die von der Israelitischen Kultusgemeinde in enger Kooperation mit pro-israelischen Linken vor der ehemaligen Synagoge in der Wiener Zirkusgasse veranstaltet wurde. Aus der Gruppe Sedunia ging laut dem DÖW die Organisation Dar al Janub hervor. Das ist insofern relevant, als Aktivist*innen von Dar al Janub, die als Protagonist*innen eines postkolonialen Antirassismus auftreten, heute zentrale Akteur*innen des österreichischen Zweigs der Israelboykott-Bewegung BDS sind.
Es stimmt, dass es sich bei den offen antiisraelischen Organisationen der österreichischen Linken um Splittergruppen handelt. Ihre Relevanz und ihre partielle Gefährlichkeit resultieren aus ihren sowohl nationalen als auch internationalen Kooperationen. Die AIK ist mit zahlreichen „bewaffnet kämpfenden“ antiimperialistischen Gruppierungen rund um den Globus vernetzt. Die Linkswende ist Teil der International Socialist Tendency, zu der in Deutschland die Gruppe Linksruck gehört, die seit 2007 als marx21 fungiert und über die Parteiströmung Sozialistische Linke mit einem klassischen Konzept des Entrismus massiv Einfluss auf die Partei Die Linke nimmt: Die 2021 gewählte Co-Vorsitzende Janine Wissler stammt ebenso aus der Gruppierung wie das Bundesvorstandsmitglied Christine Buchholz, die für Die Linke im Verteidigungsausschuss des Bundestags saß und sich 2006 auf der Seite der Hisbollah verortet hat.
VI. Antiimperialismus als Antisemitismus
In Österreich kooperieren antiimperialistische Linke vor allem mit Gruppierungen des politischen Islam, was zu einer beachtlichen Mobilisierungskraft führen kann: 2010 bis 2014 fanden in Wien antiisraelische Demonstrationen mit bis zu 30.000 Teilnehmer*innen statt, zu denen linke antiimperialistische Gruppen, islamische Organisationen und türkische Nationalisten teils gemeinsam aufriefen, und die auch von Sozialdemokrat*innen unterstützt wurden. Auf der Demonstration nach den Vorfällen rund um die Hamas-Solidaritätsflotte 2010 peitschte der SPÖ-Gemeinderat Omar Al-Rawi die Menge weiter auf und versicherte, man werde den Kampf der auf der Mavi Marmara Getöteten fortführen.
Auch Sozialdemokraten wie Fritz Edlinger, Vorsitzender der Österreichisch-Arabischen Gesellschaft und neben Ex-Innenminister Karl Blecha seit Jahrzehnten eine der lautesten antiisraelischen Stimmen in der SPÖ, spielen weiterhin eine Rolle in der Partei: So konnte Edlinger, der schon in den 1980er-Jahren als Vorsitzender der Jungen Generation durch Attacken auf Israel und die Israelitische Kultusgemeinde aufgefallen war, und der im Promedia-Verlag eine Hetzschrift herausgegeben hat, deren französische Ausgabe auf Grund ihres offenen Antisemitismus verboten wurde, seine neueste Anti-Israel-Anthologie 2018 im parteieigenen Renner-Institut präsentieren.
Blecha und der spätere Außenminister Erwin Lanc waren in der insbesondere vom linken Parteiflügel unterstützten Algerien-Solidarität der 1950er- und 60er-Jahre aktiv. Blecha bezeichnet die (nahezu kritiklose) Unterstützung des Front de Libération Nationale (FLN) als „Trägerrakete des Antiimperialismus“. In der Tat hat die frühe und vom rechten SPÖ-Flügel kritisierte Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus in arabisch-antikolonialen Bewegungen den Grundstein für die Nahostpolitik Kreiskys gelegt oder den Besuch von Lanc beim Khomeini-Regime als erster westlicher Außenminister 1984 ermöglicht.
Dass der Rückgriff auf antisemitische Klischees bei der Betrachtung des Nahost-Konflikts in der SPÖ kein Problem vergangener Jahrzehnte ist, demonstrierte 2014 Bundespräsident Heinz Fischer, als er mit Verweis auf den „alttestamentarischen Grundsatz Auge um Auge“ und einer angeblichen Radikalisierung dieses Grundsatzes durch das israelische Vorgehen gegen Terrorgruppen wie die Hamas im Gaza-Streifen meinte, etwas zur Diskussion über den Nahen Osten beitragen zu können.
Zentraler Protagonist eines linken Antizionismus in Österreich ist heute die 2014 gegründete österreichische Sektion der internationalen Boykottkampagne BDS, die seit 2015 jährlich eine Israel Apartheid Week durchführt und jedes nur erdenkliche Kriterium eines israelbezogenen Antisemitismus erfüllt. Auch bei der BDS-Bewegung ist wichtig zu betonen, dass die österreichische Sektion alleine kaum Relevanz hat und ihre Bedeutung durch ihr Agieren als Bestandteil einer global angelegten Kampagne erhält.
VII. Prozionismus in der Linken
Gerade an der BDS-Bewegung zeigt sich, dass der Hass auf Israel in der österreichischen Linken keineswegs hegemonial ist. Spätestens seit der Zweiten Intifada hat auch in der österreichischen Linken eine Auseinandersetzung über Antisemitismus, Zionismus und Israel eingesetzt, die zu einem Ausdifferenzierungsprozess geführt hat – und so existiert heute in Österreich nicht nur die BDS-Kampagne, sondern auch das gegen BDS gerichtete Bündnis Boycott Antisemitism, dem neben jüdischen Organisationen linke oder aus der Linken stammende Gruppierungen angehören. Neben den Free Gaza-Parolen auf den einschlägigen Demonstrationen existiert auch das aus linken Gruppierungen hervorgegangene Bündnis Free Gaza from Hamas. Die Proteste gegen den jährlich in Wien stattfindenden Quds-Marsch von Anhänger*innen des iranischen Regimes und der Hisbollah werden unter anderem von linken Gruppierungen organisiert, und 2017 waren es maßgeblich Aktivist*innen der Autonomen Antifa, die den Quds-Marsch auf der Wiener Burggasse erfolgreich blockierten. Auch im Mai 2021 waren es angesichts der erneuten Eskalation des Raketenterrors aus Gaza durch die vom iranischen Regime aufgerüsteten Gruppen Hamas und Islamischer Jihad vor allem linke Gruppen, die gemeinsam mit den Jüdischen Österreichischen Hochschüler:innen in Wien unter dem Titel „Gegen jeden Antisemitismus“ eine Kundgebung gegen die obligatorischen antiisraelischen Aufmärsche veranstalteten, bei denen erneut die AIK und BDS Austria eine führende Rolle spielten. Im Vergleich zu ähnlichen Kundgebungen während der Gaza-Kriege 2009, 2012 und 2014 war auffällig, dass im Aufruf zwar der Antisemitismus auf den antiisraelischen Demonstrationen thematisiert, aber nicht explizit „Solidarität mit Israel“ gefordert wurde – was intern zu scharfer Kritik von jenen proisraelischen Linken geführt hat, die in den letzten zwei Dekaden maßgeblich an der Stärkung prozionistischer Positionen in der österreichischen Linken beteiligt waren.
1994 zog Charlotte Kohn-Ley aus ihrer Beschäftigung mit dem Antisemitismus in der linken Frauenbewegung noch das bittere Fazit: „Es ist für eine jüdische Frau unmöglich, sich ohne Selbstverleugnung feministischen Gruppierungen in Deutschland und Österreich anzuschließen.“
Doch auch im linken Feminismus in Österreich ist es zu einer Ausdifferenzierung gekommen: Einerseits west der dichotomische Antiimperialismus mit seinen antizionistischen Implikationen in Teilen der autonomen Frauenbewegung fort, andererseits existieren mittlerweile theoretische Versuche, auch die Kritik an israelbezogenem Antisemitismus in ein feministisches Konzept einer „Intersektionalität von Ideologien“ zu integrieren und die antizionistische Schlagseite anderer intersektionaler Ansätze in den Fokus der Kritik zu rücken.
In den 2000er-Jahren wurde die Kritik am linken Antizionismus maßgeblich von der Gruppe Café Critique initiiert und betrieben, an der auch der Autor dieses Beitrags beteiligt war. In dem Versuch einer Darstellung der Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich von Robert Foltin wird dieser Kritik „eine zentrale Rolle beim Zerfall des radikalen, antistaatlichen Flügels der neuen Protestbewegungen“ attestiert; sie würde auch „den Mainstream der Protestbewegungen“ beeinflussen.
Dass diese Kritik tatsächlich nicht gänzlich auf fruchtlosen Boden gefallen ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass 2017 ein Beschluss der offiziellen Studierendenvertretung der Universität Wien, der unter dem Titel Gegen jeden Antisemitismus die BDS-Kampagne ins Visier nimmt, von den linken Fraktionen Verband Sozialistischer Student_innen, Grüne & Alternative Student_innen und Kommunistischer StudentInnenverband-Linke Liste eingebracht und verabschiedet wurde.
Wie notwendig dieser Beschluss war, zeigte sich zuletzt im Sommer 2020, als BDS Austria den Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen „Rassismus“ vorwarf und sie mit den rechtsradikalen türkischen Grauen Wölfen verglich. Anhänger der BDS-Kampagne störten in Wien die Rede einer JöH-Vertreterin bei einer Kundgebung zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau, marschierten mit Palästinaflaggen direkt vor der Kundgebungsbühne auf und erhoben erneut Rassismus-Vorwürfe – was eine deutliche Stellungnahme des aus der JöH stammenden Präsidenten der European Union of Jewish Students nach sich zog:
„Seit Jahren versucht BDS, linke Strukturen zu unterwandern, und schreckt nicht davor zurück, Gedenkveranstaltungen zu missbrauchen … Wer – wie BDS – jüdische Organisationen mit faschistischen Organisationen vergleicht und versucht, jüdische Vertreter von antirassistischen Kundgebungen auszuschließen, ist antisemitisch.“
Beim linken Antizionismus wäre es heute wichtig, Verschiebungen bei den theoretischen Bezügen in den Blick zu nehmen. Während in den Jahrzehnten des Kalten Krieges ein auf den Marxismus-Leninismus rekurrierender „Befreiungsnationalismus“ der zentrale Bezugspunkt war, haben sich in den letzten zwei Dekaden ein abstrakter Antinationalismus und ein unhistorischer Universalismus zur maßgeblichen Legitimation des Antizionismus entwickelt. Die Verschiebung hin zu poststrukturalistischen und postkolonialen Ansätzen in der akademischen Linken hat sich zuletzt in der Debatte über Achille Mbembe gezeigt, die auch im österreichischen Feuilleton aufgegriffen wurde, allerdings ohne sich auf die gravierenden Vorwürfe gegenüber Mbembe ernsthaft einzulassen. In den Schriften des postkolonialen Starautors finden sich nicht nur eine jeder Realität im Nahen Osten spottende Dämonisierung und Delegitimierung Israels, dessen „globale Isolation“ Mbembe fordert, sondern auch Formulierungen, die sich des Fundus des klassischen christlichen Antisemitismus bedienen. Doch auch hier ist bemerkenswert, dass die deutlichste Kritik an Mbembes Auslassungen in einer österreichischen Zeitschrift sans phrase erschienen ist, die sich explizit auf die Kritik der politischen Ökonomie und die Kritische Theorie, also auf linke Theorietraditionen beruft.
VIII. Ausblick
In der Mbembe-Debatte wurde deutlich, wie wichtig eine Arbeitsdefinition für Antisemitismus wie jene der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) insbesondere für Diskussionen über linke Argumentationen ist, da sie explizit Formen des israelbezogenen Antisemitismus anführt. Die gegen die IHRA-Definition gerichtete, im März 2021 veröffentlichte Jerusalem Declaration on Antisemitism hingegen, die von Nachrichtenagenturen des iranischen Regimes freudig begrüßt und auch von linksorientierten Akademiker*innen in Österreich unterzeichnet wurde, zielt auf die Legitimierung des linken Antizionismus sowie die Exkulpierung der BDS-Kampagne und anderer antiisraelischer Organisationen vom Antisemitismusvorwurf.
So sehr im akademischen Kontext gerade vor dem Hintergrund einer Kritischen Theorie der Gesellschaft und des Antisemitismus die Darstellung eines Gegenstandes durch seine ideologiekritische Durchdringung einer festgezurrten und notwendigerweise komplexitätsreduzierenden Definition vorzuziehen wäre, so notwendig ist eine Arbeitsdefinition wie jene von IHRA, um antisemitismuskritische Standards insbesondere hinsichtlich des israelbezogenen Antisemitismus festzulegen. Diese werden auch für die weitere Diskussion über das Verhältnis der österreichischen Linken zu Israel notwendig sein, und diese Diskussion wird voraussichtlich weiterhin als Ferment beim Ausdifferenzierungsprozess der Linken in Österreich fungieren.
(Eine Langfassung dieses Beitrags mit zahlreichen Literaturhinweisen erscheint in Grimm, Marc/Hainzl, Christina (Hg.) (2022): Antisemitismus in Österreich nach 1945, Leipzig: Hentrich & Hentrich)
STEPHAN GRIGAT ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und der Universität Passau, Research Fellow an der Universität Haifa und hat zur Marxschen Fetischkritik und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert promoviert. Er ist u. v. a. Autor von Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung (Konkret 2014) und Herausgeber von Iran – Israel – Deutschland: Antisemitismus, Außenhandel & Atomprogramm (Hentrich & Hentrich 2017).