Für viele waren die letzten Jahre und Jahrzehnte geprägt von einer Fülle neuer Möglichkeiten und einem gesellschaftlichen Trend, der sich immer stärker in Richtung Offenheit, Vielfalt und Akzeptanz entwickelt hat. An kaum einem Beispiel lässt sich diese Entwicklung besser verfolgen als an der Geschichte der LGBTIQ-Community. Trotz vieler noch immer bestehender Diskriminierungen erleben Schwule, Lesben, Bisexuelle, intergeschlechtliche, transidente und queere Personen (LGBTIQ) heute ein nie gesehenes Maß an persönlichen Freiheiten und öffentlichem Interesse. Dass genau dieser Weg zu gesellschaftlicher Emanzipation zeitgleich zur Umgestaltung Europas durch den Neoliberalismus geschah ist kein Zufall … und genau das stellt progressive Bewegungen vor ein Dilemma. Während die einen Offenheit und Vielfalt als Grundsteine einer modernen Gesellschaft begreifen, sehen die anderen darin reine „Identitätspolitik“, die von den echten Problemen sozialer Ungleichheit und massiver Ungerechtigkeiten im neoliberalen System ablenkt. Die vorliegende Ausgabe 05/2021 der ZUKUNFT geht einen anderen Weg: Unsere Autor*innen argumentieren aus verschiedensten Sichtweisen heraus, dass Vielfalt und Offenheit nur als soziale Fragen erfolgreich sein können – statt einem Entweder-Oder argumentieren sie für eine bedingungslose Verbindung von gesellschaftlichen Kämpfen auf allen Ebenen!
Ganz in diesem Sinne zeigt Mario Lindner mit seinem eröffnenden Beitrag zum Thema Identitätspolitik, warum Vielfalt für Linke immer eine soziale Frage sein muss. Er wendet sich dabei klar gegen die Übernahme rechter Diskurse durch progressive Kräfte sowie das Ausspielen von Kämpfen um gesellschaftliche Anerkennung und gegen soziale Ungleichheit. Der Autor kritisiert dabei das Abtun des Feminismus und der Kämpfe von Migrant*innen oder queeren Gruppen als „Orchideenthemen“, die in einen vermeintlichen Widerspruch zur sozialen Frage gestellt werden. Emanzipation und der Kampf gegen die individualisierenden Tendenzen des Neoliberalismus müssen stattdessen immer Hand in Hand gehen. Mit der Forderung nach einem Projekt radikaler Solidarität appelliert er daher für eine Politik, die Emanzipation und Gerechtigkeit als zwei Seiten einer Medaille betrachtet … und nur gemeinsam zu einem „guten Leben für ALLE“ führen kann.
Nurten Yilmaz stellt in der Folge die moderne sozialdemokratische Integrationspolitik in den Mittelpunkt ihres Beitrages. Sie sieht es bereits als Zeichen von Unsicherheit, dass Integration überhaupt zu einer Frage erklärt und nicht von einer Migrationsgesellschaft als Normalität ausgegangen wird. Die Autorin stellt das verbindende Element der sozialdemokratischen Integrations- und Interessenspolitik in den Vordergrund. Es geht unter anderem darum, gleiche soziale sowie politische Rechte zu schaffen und eine allgemeine Teilhabe zu ermöglichen. Diese „ermächtigende Integrationspolitik“ meint im Bildungssektor beispielsweise die Einrichtung und den Ausbau von (sozialen und demokratischen) Bildungseinrichtungen. Es geht um Integration von Anfang an und das Schaffen von öffentlichen Strukturen, die dies ermöglichen. Eine Politik, wie Yilmaz sie skizziert, bringt die diversen Menschen und Arbeitnehmer*innen zusammen – während andere nach Herkunft und Sprachen spalten, stärkt diese Integrationspolitik das Gemeinsame.
Auch innerhalb des Feminismus gibt es, wie Tatjana Gabrielli zeigt, Ausgrenzung, Rassismus, Transphobie und Homophobie, Diskriminierung wegen Einkommen, Herkunft und Klasse – all das betrifft auch die feministischen Kämpfe. Was es daher braucht, ist ein Feminismus für ALLE Menschen. Gabrielli leitet diesen Anspruch aus den historischen Kämpfen um Gleichstellung und Gerechtigkeit ab und zeigt an historischen Beispielen, wie feministische Intersektionalität funktionieren kann. Die Herausforderungen eines inklusiven Feminismus finden sich aber nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart: Strömungen wie der transexklusive Feminismus (TERF), der Transfrauen aus feministischen Kämpfen und Räumen ausschließen will, laufen genau dieser Vision eines Feminismus für ALLE zuwider. Die Bewegung für Gleichberechtigung und Solidarität müsse daher auch heute inklusiv sein, die Lebensrealitäten und Herkünfte aller Frauen beachten und – natürlich – zu jedem Zeitpunkt die soziale Frage stellen.
1971 wurde Homosexualität im Zuge der Kleinen Strafrechtsreform entkriminalisiert. Wie lang der Weg bis dorthin war, skizziert dann Sebastian Pay in seinem Beitrag über den langen Weg zum legalen L(i)eben. Die Verfolgung und Bestrafung Homosexueller während des Nationalsozialismus war mit dessen Ende 1945 noch längst nicht vorbei. Verurteilungen und Zeiten in Konzentrationslagern blieben auch nach 1945 als Vorstrafen bestehen. Wie Pay deutlich macht, muss in dieser Hinsicht von einer Rechts- und Alltagskontinuität zwischen dem NS-System und der Zweiten Republik ausgegangen werden. Österreich gehörte nach Kriegsende zu jenen Ländern, welche die gerichtliche Verfolgung am konsequentesten weiterführten. Erst durch den Einsatz zahlreicher Aktivist*innen und die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie konnte der Kampf um legales L(i)eben vor genau 50 Jahren gewonnen werden – heute muss diese Geschichte ein Vorbild für die aktuellen Kämpfe um Gleichstellung, Solidarität und Gerechtigkeit sein.
Während gerade die Gleichstellung von Schwulen, Lesben und Bisexuellen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Aufmerksamkeit bekommen hat, bleiben andere Diskriminierungen leider noch viel zu oft unter der öffentlichen Wahrnehmungsgrenze: Gerade transidente, intergeschlechtliche und non-binäre Menschen werden in unserer Gesellschaft noch immer unsichtbar gemacht, ausgegrenzt und sind viel zu oft mit Unverständnis, Hass oder sogar Gewalt konfrontiert. Als eine der wenigen gewählten Transpolitiker*innen in Österreich beschreibt Dominique Mras in ihrem Beitrag die Herausforderungen, vor die vielfältige Geschlechtsidentitäten unsere Gesellschaft stellen – und wie sie auf Basis von Selbstbestimmung, Anerkennung und Sichtbarmachung gelöst werden können. Mras zeigt anhand historischer Beispiele aus der Geschichte von Transpersonen in Österreich, welche Hürden und Blockaden (oft unbemerkt vom Rest der Gesellschaft) gegen die Selbstbestimmung dieser Gruppe aufgebaut wurden und werden.
Soziale und gesellschaftliche Auseinandersetzungen geschehen in Österreich natürlich nicht abgekapselt vom Rest der Welt. In ganz Europa ist in den letzten Jahren ein Backlash spürbar, der Sozial- und Demokratieabbau unter dem Deckmantel von Angriffen gegen Minderheiten durchsetzt. Ungarn und Polen sind wohl die dramatischsten Beispiele für die massiven Attacken gegen LGBTIQ-Personen, Frauen oder auch Roma und Sinti. Camila Garfias, die Präsidentin des europäischen Gleichstellungsnetzwerks Rainbow Rose, zeigt in ihrem Beitrag, nach welchen Mustern die politischen Kämpfe in unseren Nachbarstaaten verlaufen und was dagegen auf europäischer Ebene getan wird … und wie auch Menschen in Österreich auf Basis internationaler Solidarität einen Beitrag zum Kampf für gleiche Rechte und Gerechtigkeit leisten können.
Mit einer Vorreiterstudie zeigte auch die Arbeiterkammer Wien im Jahr 2017, wie die Felder von Identität und Arbeitswelt zusammentreffen. Von Schlechterstellung bis Mobbing, von Gehaltsproblemen bis zur Kündigung reichen die Konsequenzen, mit denen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität auch in Österreich immer noch in ihrem Job konfrontiert werden. Das führt, wie die Studienautor*innen Daniel Schönherr und Martina Zandonella zeigen, dazu, dass viele ihre Identität am Arbeitsplatz verheimlichen, andere Rollen spielen und damit enormen psychischen Stress auf sich ziehen. Klar macht diese Studie damit auch, wie eng die soziale Frage und unsere gesellschaftliche Vielfalt nicht nur in politischen Kämpfen, sondern im ganz banalen Alltag miteinander verknüpft sind – und warum genau deshalb die Forderung nach gesellschaftlicher Akzeptanz immer Hand in Hand mit dem Kampf um gute Löhne und gerechte Arbeitsbedingungen gehen muss.
Unter der provokanten Überschrift Marx unter’m Regenbogen macht der langjährige Aktivist Hans-Peter Weingand einen Ausflug in die wechselhafte Geschichte von linken Zugängen zu (sexueller) Vielfalt. Das Spannungsverhältnis zwischen Fragen der Identität und dem Kampf für Umverteilung war nie ein Einfaches und sorgte, wie Weingand zeigt, in Zeiten von Marx und Engels genauso für Debatten, wie in der Frage der Aufarbeitung von NS-Verbrechen. In einem Streifzug vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart zieht der Autor, der selbst einer der ersten offen schwulen Aktivisten innerhalb der SPÖ war, Lehren für die Gegenwart: Insbesondere der Kampf gegen neoliberale Individualisierung müsse stets im Zentrum des Emanzipationskampfes sein – unter’m Regenbogen müssten Klassenkampf und Pride-Parade zusammengehören.
Dass eine Demokratie ihre eigene Entwicklung entlang von Sprache und Symbolen verhandelt, nimmt in der Folge Marty Huber zum Ausgangspunkt diesbezüglicher Überlegungen, die vor allem von den „diskursiven“ Problemzonen der LGBTIQ-Bewegung berichten. Denn, was in einer gegebenen Gesellschaft oder Kultur sagbar ist und was nicht, formiert auch, wie diese Gesellschaft sich ausrichtet, ob sie also Ausschlüsse stärkt oder Inklusivität anstrebt. In Österreich ist diese Auseinandersetzung eine Geschichte des „Sounds of Silence“, der auf vielen Ebenen das Tabuisierte und mithin die Sprache(n) der Minderheit(en) von der öffentlichen Aussprache trennt. In diesem Sinne nimmt der Beitrag den Fall einer gestohlenen Regenbogenfahne zum Anlass, die Bereiche der Toleranz, der Akzeptanz und des gemeinsamen Feierns auszuloten, um auch die diesbezügliche Doppelmoral der katholischen Kirche zu kritisieren.
Auch freut es die Redaktion in besonderem Maße, dass Offerus Ablinger uns eine zum Thema passende Bildstrecke mit dem Titel Trans/Masc zur Verfügung gestellt hat, die er auch am Ende dieser Ausgabe mit einem Beitrag erläutert. Dabei gibt er einen Einblick in seinen Produktionsprozess und macht gleichzeitig deutlich, wie Fragen der LGBTIQ-Bewegung auf unterschiedlichen Ebenen ästhetisch vor Augen geführt werden können.
Wir hoffen, dass wir unseren Leser*innen mit dieser Ausgabe der ZUKUNFT neue Blickwinkel auf die verschiedenen Arenen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bieten können. Unsere Autor*innen bieten mit ihren Analysen nicht nur Perspektiven auf die Herausforderungen einzelner Gruppen und spannende historische Ableitungen, sondern auch den Grundstein einer politischen Agenda, die langfristig die gewachsenen Gräben progressiver Politik überwinden kann. Wir grüßen unsere Leser*innen im Namen der Redaktion und in allen Farben des Regenbogens …
BIANCA BURGER ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert.
SEBASTIAN PAY ist Bundessekretär der sozialdemokratischen LGBTIQ-Organisation SoHo, studiert Geschichte und Soziologie und ist u.a. als parlamentarischer Mitarbeiter für die Themenbereiche Gleichbehandlung und Diversität tätig.
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT; Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
Inhalt
6 Vielfalt muss immer eine soziale Frage sein!
VON MARIO LINDNER
12 Hart und stabil: Sozialdemokratische
Integrationspolitik
VON NURTEN YILMAZ
16 Für einen Feminismus für ALLE
VON TATJANA GABRIELLI
20 Der lange Weg zum legalen L(i)eben
VON SEBASTIAN PAY
24 Geschlechtervielfalt in Österreich
VON DOMINIQUE MRAS
30 Der Kampf für Gleichberechtigung ist international
VON CAMILA GARFIAS
32 LSBTI und Arbeitswelt
VON DANIEL SCHÖNHERR UND MARTINA ZANDONELLA
36 Wenn das Wort Feuer wird …
VON MARTY HUBER
40 Karl Marx unter’m Regenbogen
VON HANS-PETER WEINGAND
46 Malerei, Installation, Performance und
bewegtes Bild
VON OFFERUS ABLINGER
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