Der Beitrag von Lena Wiesenfarth arbeitet präzise heraus, wie die neoliberalen Taktungen unserer Arbeits- und Lebenswelten uns in einen Zustand der kollektiven Schlaflosigkeit geführt haben. Finden wir angesichts verschiedener Beschleunigungen eigentlich noch zu Ruhe und Entspannung?
- The Power of Sleep
Beginnen wir einmal mit einem Sprung ins 19. Jahrhundert. Beginnen wir mit einem Protagonisten, der in dieser Zeit das Licht als Hauptfigur eines weltberühmten Klassikers erblickt, indem er als tagträumerischer Faulpelz in der Weltgeschichte herumtaumelt, hie und da seine Geige hervorzieht, Liedchen summt, auf Wiesen herumliegt und gerne Nickerchen hält. Dessen Vater, ein fleißiger Müller, erkennt in seinem Sohn nichts weiter als einen faulen, herumliegenden Nichtsnutz. „Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun.“ Die Rede ist von Joseph Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826). Während die Schläfrigkeit und das unproduktive Nichtstun des Sohnes vom Vater nicht länger akzeptiert werden und dieser ihn kurzerhand vor die Tür setzt, erkennt jener Taugenichts im Müßiggang noch einen Wert, der mit Beginn der Industrialisierung schleichend abhandenkam.
Knappe 200 Jahre später ist keine Spur mehr davon zu sehen. Und vermutlich kennen wir das selbst: Die Langeweile, das Herumsitzen oder Herumliegen, das verschwenderische Vergeuden von Zeit weicht immer mehr einem Produktivitätsmodus. Beim Nichtstun fühlen wir uns beinah schuldig. Nutzlos. Unser Tun muss einen Sinn haben, und vor allem: Unser Tun muss Aktivität aufweisen. Insbesondere der Schlaf, denn im Schlaf tun wir ja nichts, ist damit einer Welt zuteil geworden, in welcher er mehr zur Option verkehrt, als ihn in seiner Notwendigkeit im herkömmlichen Sinne anzunehmen. Jener Schlaf, die Basis unserer Existenz, wird in seiner Voraussetzung für Gesundheit, für Leistungsvermögen und Ausdauer und zugleich in seiner natürlichen Zweckfreiheit verkannt. Und so wird er aufgrund seines passiven Zustands, seiner scheinbar tiefen Nutzlosigkeit zum lästigen Übel deklariert.
Dabei ist der Schlaf ein echtes Wundermittel. Wäre Schlaf ein Medikament, das vor Übergewicht und Herzinfarkt schützt, das Herz-Kreislauf-System kontrolliert, den Blutdruck reguliert, das Immunsystem boostet und damit lebensverlängernd wirkt, dann würde es mit Sicherheit jeder nehmen. Doch damit nicht genug: Jede Nacht, wenn wir zu Bett gehen, leitet der Schlaf die Reinigung des Gehirns ein, unterstützt die Verknüpfung von Gehirnzellen, fördert die Gedächtnisleistung und reguliert zudem unsere Emotionen. Im Schlaf finden zudem nicht nur rhythmisch klar strukturierte Erholungs-, sondern auch Lernprozesse statt. Neue Eindrücke, die wir durch den Tag sammeln, werden erst in der Nacht richtig verarbeitet. Das Gehirn braucht also dringend den Schlaf, um arbeiten zu können. Und ähnlich wie unsere Muskeln, so muss auch das Gehirn sich regelmäßig erholen. In der sogenannten REM-Phase (rapid eye movement) ist unser Gehirn beinah genauso aktiv wie im Wachzustand. Und somit ist Schlaf alles andere als ein unproduktiver Zustand zwischen den Wachzuständen, sondern sicherlich eines der faszinierendsten Phänomene des Menschen.
Keine andere Tätigkeit nimmt dabei so viel Zeit in Anspruch wie der Schlaf. Rund ein Drittel unseres Lebens verschlafen wir wortwörtlich. Inzwischen schlafen wir jedoch weniger als je zuvor in der Geschichte. Schliefen die Deutschen beispielsweise Anfang des 20. Jahrhunderts durchschnittlich noch 8 bis 9 Stunden, sind es jetzt nur noch knappe 7. Der Schlaf ist dabei zwar keineswegs vollständig wegzudenken, dennoch sind wir in der Lage, die Schlafdauer zu verringern und exakt zu timen. Manchmal schlafen wir vor oder wir holen den Schlaf nach, manchmal gewöhnen wir uns an dauerhaft kurze Nächte oder wir bedienen uns Schlaftabletten, um über den gewünschten Zeitraum schlafen zu können. Oder das Gegenteil: um wachzubleiben. Wachmacher wie Koffein oder Aufputschmittel, mit denen man die Nächte durcharbeiten und leistungsfähig bleiben kann, sind längst keine Seltenheit mehr. Mit solchen künstlichen Mitteln verfügen wir über eine Kontrollfunktion über unseren eigenen Körper und damit auch über den nicht beeinflussbar geglaubten Schlaf. So sind wir imstande, in Schichtdiensten zu jeder Tages- oder Nachtzeit zu arbeiten oder 20-Stunden-Bereitschaftsdienste zu übernehmen, wo wir doch eigentlich schlafen sollten. Die meisten Menschen schlafen dabei nicht nur zu wenig, vielmehr haben sie vergessen, wie es sich anfühlt, erholt aufzuwachen. Was immer schwerer zu fassen ist: eine intensive Nacht voll natürlich tiefem Schlaf.
Dass die kapitalistische Arbeitsethik jeglichen Müßiggang zu aller Laster Anfang erklärt, ist nicht neu. Im globalen Zeitalter jedoch spitzt sich diese These zu: Schlaf scheint nur etwas für Verlierer zu sein. Durch gewisse Wettbewerbskriterien, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einrahmen, konstituiert sich dabei ein gängiges Prinzip: der Schnellere gewinnt. Nicht überraschend also, dass wir in Sachen Schlaf inzwischen erfolgreiche Minimalisten sind. Auch Redewendungen wie man solle nicht sein Leben verschlafen oder doch endlich aufwachen zeigen die Position des Schlafs in der heutigen Welt ganz klar: Schlafen ist out. Doch weshalb, so stellt sich die Frage, ist das so? Was ist es, was gerade den süßen Schlaf so aus dem gesellschaftlichen Blickfeld drängt und ihm die Signifikanz nimmt? Eichendorffs Novelle über den Taugenichts offenbart dabei schon ein Problem, das sich als Phänomen gerade in der heutigen Zeit so deutlich herauskristallisiert, dass es sogar inzwischen einen eigenen Begriff dafür gibt: Nonstop-Gesellschaft. Oder auch: 24/7.
JONATHAN CRARY
24/7 – SCHLAFLOS IM SPÄTKAPITALISMUS
Berlin: Wagenbach
112 Seiten | € 27,88
ISBN: 978-3803136534
Erscheinungstermin: September 2014
- Das Wunder der Beschleunigung
Jonathan Crary, Kunstkritiker, Essayist und Professor für moderne Kunst und Theorie an der Columbia University in New York, veröffentlichte 2013 in englischer Originalausgabe eine Abhandlung unter dem Titel 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep. Mit dem Begriff des 24/7 führt Jonathan Crary ein Sujet der Moderne ein, das eine Zeit ohne Zeit meint, eine dauerhafte Abfolge unaufhörlicher, reibungsloser Operationen. Es beschreibt die Diskrepanz und Unvereinbarkeit des Menschen mit seinen Bedürfnissen in einer permanent eingeschalteten Welt. Mit dem gegenwärtigen, beschleunigten und an die Umwelt angepassten Lebensstil bestimmt nun nicht mehr unser Körper, unsere innere Uhr, wann und wie lange wir schlafen. Äußere Einflüsse und Gegebenheiten regulieren inzwischen, man möchte sogar sagen bestimmen unseren Schlaf- und Wachrhythmus. Der Schlaf wird einem anderen Rhythmus unterworfen: der produktiven Uhr des Kapitalismus.
Was im Zuge der aufkommenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts nun, im Zeitalter von Rund-um-die-Uhr-Betrieben in einer zeitlosen digitalen Welt mit pausenloser globaler Kommunikation, ununterbrochenen Konsum- und Einkaufsmöglichkeiten und fortwährendem Informationsaustausch, einer Kultur mit Schichtarbeit und Pendelfahrten, langen Arbeitszeiten, hoher Arbeitsverdichtung und zugleich einer 24-Stunden-Verfügbarkeit seinen Höhepunkt erreicht, zeichnet eine Gesellschaft, die nicht zum Stillstand kommt. Der allgemeine Drang, mithalten oder up-to-date sein zu müssen, wird stets begleitet von der Angst, Dinge zu verschlafen. Die durchkommerzialisierte Alltags- und Schlafpraktik des ‚Müssens‘ lassen Ruhe- und Erholungszeiten kaum mehr zu. Sie sind einfach zu kostspielig geworden.
Schlaf – wie alle weiteren Aktivitäten, die nicht zum Arbeitsbereich gehören –, zählt inzwischen zur Kategorie Freizeit. Doch auch hier scheint der Schlaf keinen festen Platz zu finden. Vielmehr stellt er gerade für die Freizeit- und Kulturindustrie ein Hindernis dar, nutzt diese doch jegliche freie Zeit aus, die längst keine Freizeit mehr ist, sondern begehrte Ressource für allerlei Industriezweige, um unsere quality time mit möglichst viel Sinn und Nutzen zu erfüllen. So werden selbst Entspannung und Erholung zur Aufgabe, zur Arbeit gemacht. „Die größte Herausforderung für unser Geschäft ist das menschliche Bedürfnis nach Schlaf“, gestand Netflix-Chef Reed Hastings vor ein paar Jahren. Denn, so sehr wir den Schlaf auch reduzieren, ganz wegzurationalisieren ist er nicht. Er gehört in seiner notwendigen Wiederholung zu den nicht vollständig unterdrückbaren Alltagsresten, die nirgendwo mehr eine Berechtigung finden. Der Erlebnisgesellschaft ist damit auch der Schlaf zuwider – besteht dessen einziger Erlebnisgehalt doch aus beliebigen Träumen, die nicht von Netflix oder Amazon geliefert werden. Somit findet sich der Schlaf im Wettbewerb zur Arbeit als auch zur Freizeit. Reduziert wird er nicht selten zugunsten beider. Kein Wunder also, dass die Menschen müde sind.
- Der Zeitgeist der Arbeit
Das 24/7-Modell greift zwar in alle Lebensbereiche ein, es scheint jedoch gerade oder insbesondere die Arbeitswelt zu dominieren. So erfordert das Rund-um-die-Uhr-Konsumieren auch eine Rund-um-die-Uhr-Arbeit. Was im Laufe der Jahre zwar scheinbar zu einer Verbesserung führte – optimierte Arbeitsbedingungen sowie eine Verknappung der Arbeitsstunden – weist in unserer beschleunigten Welt ein neues Problem auf. Getaktete Zeiträume wie der Achtstundentag oder Montag bis Freitag werden abgelöst von jenem 24/7-Denken, das unabhängig vom Tag- oder Nachtrhythmus der Idee eines unaufhörlichen Produktionsvorgangs folgt: einer profitbringenden Arbeit rund um die Uhr.
Dabei verschwinden die Grenzen auch zwischen beruflicher und privater Zeit. Die freie zur Verfügung stehende Zeit außerhalb der Arbeit wird nicht mehr unbedingt zur Erfüllung eigener Wünsche oder einer persönlichen, erfüllenden Lebensgestaltung genutzt, sondern vorwiegend zur versuchten körperlichen und mentalen Erholung, um wieder fit und energiereich arbeiten zu können. Die Arbeit wirkt damit in den privaten Raum nach und eröffnet den Weg in einen Zustand eines andauernden Übergangs. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Tag und Nacht, Ruhe und Aktivität, Arbeit und Freizeit immer durchlässiger werden und teilweise kaum noch zu unterscheiden sind.
Begreift man Arbeit als Kulturphänomen, lässt sich feststellen, dass der Wert der Arbeit in der westlichen Welt ein anderer ist als noch im 18. Jahrhundert. Arbeit gleicht inzwischen einem Lifestyle, der nicht mehr nur als Mittel der ökonomischen Lebenssicherung, sondern auch als Symbolwert fungiert. Arbeit wird zu einer notwendigen Tätigkeit, zu einem modernen Gesellschaftsmaßstab, an welchem der Mensch sich misst und zugleich anhand seiner Arbeitsleistung selbst gemessen wird. Zeitliche Lücken im Lebenslauf, Arbeitslosigkeit und Untätigkeit jeglicher Art bremsen die geforderte 24/7-Verausgabung erheblich. So finden sich die Menschen restlos eingespannt in Kontrollmechanismen, die dem Menschen nämlich erst, indem er sich nützlich macht, einen Platz innerhalb der Gesellschaft zusichern. Arbeit, so macht Dr. Claudia Lillge in ihrer Publikation zum Phänomen der Arbeit in der Literatur- und Mediengeschichte Großbritanniens deutlich, funktioniert damit als ein passport to society, als Eintritts- und Berechtigungskarte, um in die bestehende Gemeinschaft überhaupt eintreten zu können. Wer nicht arbeitet, gilt als faul, er produziert oder leistet nichts – und wird automatisch zum Taugenichts. Die moderne Arbeitswelt erklärt den Schlaf damit zur puren Zeitverschwendung, zum Inbegriff der Nichtsnutzigkeit.
- Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß …
Dieser durch den Wandel der Arbeitsverhältnisse bedingte Konflikt zwischen Schlaf und Arbeit, zwischen biologischer und kapitalistischer Uhr, koppelt den Schlaf auf einmal an ein System, welches ihn nicht nur von der Arbeit, von einer Leistungserbringung abhängig macht, sondern ausschließlich in der Erfüllung jener Arbeitsleistung legitimiert. Insbesondere an Japans Arbeitsphilosophie zeigt sich ein kontroverses Beispiel. Einerseits etablieren sich gerade dort zahlreiche Alternativen zu einem zeitlich eng bemessenen Arbeitstag in Form von Schlafmöglichkeiten und Ruhezonen am Arbeitsplatz, andererseits sind zwölf bis 13 Stunden Arbeit pro Tag im Büro die Norm. Hinter unzähligen Überstunden, exzessivem Schlafmangel und wenig Urlaubstagen verbirgt sich die problematische Position des Schlafs und damit auch des Menschen: Schlaf muss man sich redlich verdienen. Für ihn gilt es zu arbeiten. Das zeigt sich auch am japanischen Anwesenheitsschlaf Inemuri – ein kurzes Schläfchen in der Öffentlichkeit, das keine Seltenheit darstellt. Im Arbeitskontext versteht sich das wohlverdiente Schläfchen als Ausdruck von Fleiß und verdienter Müdigkeit.
Dieses meritokratische Prinzip findet sich schon in der Bibel, wo es heißt: Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß. Fakt ist dabei eher: Wer (zu) lange arbeitet, muss manchmal auf einen großen Teil des süßen Schlafs verzichten oder leidet unter Schlafstörungen, die allzu häufig gesundheitliche Folgen mit sich ziehen. Die Annahme, dass nur die Arbeitszeit gleichbedeutend zur Produktivität stehe (Zeit ist gleich Geld), hält sich weiterhin bissfest. Das Ganze ist dabei nicht nur ein Irrtum, sondern vor allen Dingen kostspielig, wie eine Studie an vier amerikanischen Großunternehmen zeigt. Rund 2.000 US-Dollar pro Mitarbeiter*in und Jahr verzeichneten die Unternehmen an Produktivitätsverlust aufgrund unzureichenden Schlafs der Mitarbeiter*innen. Die globale wirtschaftliche Verlustsumme in den USA beläuft sich somit auf 411 Milliarden US-Dollar, in Deutschland im Vergleich dazu auf 60 Milliarden US-Dollar. Eingeforderte Höchstleistung oder Ausdauer sind ohne genügend Schlaf schlichtweg nicht möglich. Unausgeschlafen, ermüdet und alles andere als leistungsfähig sitzen wir also am Arbeitsplatz und könnten im Rahmen unserer heutigen Arbeitsgesellschaft durchaus behaupten: Wer schläft, dem ist die Arbeit süß.
- Nichtstun. Und was sich daraus machen lässt
Insbesondere Figuren in Kunst und Literatur, wie der Müßiggänger, der Nichtstuer oder der Faulenzer, trotzen ihrer gesellschaftlichen Umwelt und fordern einen berechtigten Platz für sich ein. Sie verweigern sich, indem sie den Müßiggang, das Nichtstun oder das Faulenzen als Widerstandsmittel gegen die kapitalistische Arbeitswelt ausrichten, und erkennen ihre Haltung zugleich als das rettende Potenzial der Gesellschaft vor ihrer eigenen Zerstörung. Dass auch der Schlaf als Mittel für dergleichen Einsatz findet, zeigt der 2018 aus dem Amerikanischen übersetzte Roman My Year of Rest and Relaxation.
OTTESSA MOSHFEGH
MEIN JAHR DER RUHE UND ENTSPANNUNG
München: Liebeskind
320 Seiten | € 22,00
ISBN: 978-3954380923
Erscheinungstermin: September 2018
„She is very into sleeping“, so beschreibt die Autorin Ottessa Moshfegh in einer Lesung ihre Protagonistin, eine sechsundzwanzigjährige New Yorkerin, die sich vornimmt, eine Auszeit zu nehmen: „Ich werde ein Jahr schlafen.“ Gegen jene Nonstop-Bewegung und permanente Wachheit, stellt sich hier eine Figur, die das tut, was keiner heute mehr tut: schlafen, sonst nichts. Die Protagonistin unternimmt ein ungeheures Projekt inmitten einer schlaflosen Großstadt, von der schon Frank Sinatra singt: New York New York, I want to wake up in a city that never sleeps.
Der Schlaf besteht bei der Protagonistin dabei nicht nur als ein seelisches Überwintern, als Versuch eines Neustarts ohne Altlasten, eines remake-Prozesses in einer durchkommerzialisierten Welt, sondern entpuppt sich als müßige Opposition gegen Nützlichkeits- und Arbeitsideologien. Mit dem Schlaf hält die Protagonistin der 24/7-Welt einen gewaltigen Stillstand entgegen. Im Roman wird damit eine Sehnsucht nach der Rückkehr in eine Idylle formuliert, die es in einer Welt, wie wir sie kennen, gar nicht mehr geben kann. In der Figur eines postmodernen Taugenichts erlebt insbesondere die Romantik hier ein Comeback, und damit auch der allseits bekannte Müßiggang. Öffnet Eichendorffs Taugenichts mit seiner romantisch-verweigernden Lebensform und seiner ästhetischen Selbstkennzeichnung schon den Blick in die Moderne, zeigt sich in abgewandelter, aggressiverer, nun ad absurdum gedrehter Form nun an Ottessa Moshfeghs schlafender Protagonistin. Die zeitgenössische Aktualität des Romans zeigt sich dabei durch seine zeitliche Einbettung um die Jahrtausendwende – in einer Zeit, in der Arbeit und Schlaf nicht problematischer in ihrem Verhältnis zueinanderstehen könnten. In der Verhandlung der gegenwärtigen Lebens- und Arbeitswelten werden jene im Roman dabei gleichermaßen aufgeladen und verdreht. Und zwar so weit, dass die Protagonistin mit ihrem Nicht(s)tun gleich zweierlei tut: zum einen drastisch provoziert, indem sie sich durch ihren exzessiven Schlafkonsum jeglichen gesellschaftlichen Verpflichtungen vollständig entzieht, zum andern, indem sie selbst mit jener Tätigkeit und jenem Konsum der Arbeits- und Konsumverwertungsmaschinerie erliegt, welcher sie versucht Widerstand zu leisten. Wird mit dem Schlaf zwar eine Abkehr der gesellschaftlichen Gegebenheiten gerade dort versucht, wo die Gesellschaft scheitert – ein Jahr der Ruhe und Entspannung –, erweist sich genau dieses Jahr, welches die Protagonistin schlafend verbringt, weder als ruhend noch entspannend.
Und so entwickelt sich das anstrengende und zeitaufwendige Schlafprojekt im Verlauf des Romans einerseits hin zu einem Projekt, das in mehrerlei Hinsicht der nützlichkeitsaffinen Arbeitswelt gleichkommt: „Schlafen kam mir äußerst produktiv vor.“ Diese Nivellierung der Arbeit und des Schlafs gleichermaßen zeigt sich durch einen nonstop-mode, der die Protagonistin schließlich „in Vollzeit“ schlafend somit das verrichten lässt, was andere arbeiten. Ein permanenter Kreislauf beginnt, ein Nonstop, der keinen Ausgang findet. Andererseits misslingt auch der letzte Rettungsversuch einer ideologischen Positionierung des Schlafs, wenn die Protagonistin sich selbst und ihr Schlafprojekt nach Maßgabe romantisch-künstlerischer Ideale zur Kunst erklärt. Denn auch die Kunst ist längst eingespannt in den Kreislauf einer Ökonomie, die die Dinge fast so schnell, wie sie in der Welt erscheinen, auch wieder verschwinden lässt. Der Eskapismus ist spätestens hier und von sich selbst erschöpft.
Doch was kennzeichnet diesen Roman, dessen Wirklichkeitsgehalt den Schlaf nicht als Idylle, sondern vielmehr als Utopie entlarvt? Das Schlafprojekt zeigt sich nunmehr als ein Verschlafen einer von Arbeit, Wachstum und Konsum durchtränkten ökonomischen Wirklichkeit, in welcher Stillstand, Ruhe und Entspannung nicht mehr möglich sind. Der Schlaf eckt somit in all seinen möglichen Gehaltsformen an. Er stößt, indem er als müßige Verweigerung oder Rebellion gegen vorherrschende Gesellschaftskonzepte und selbst als künstlerische Form misslingt, an Grenzen, die vom modernen Kapitalismus längst errichtet wurden. Und so ist auch das Bild, welches die Protagonistin von der Gesellschaft zeichnet, zuletzt einer bissigen Ironie geschuldet. Doch diese Ironie, die im Roman versucht wird, bleibt den Leser*innen regelrecht im Hals stecken. Gegen Ende des Romans wachen auch wir auf und müssen feststellen, dass der Schluss uns mit einem Schlag wachrüttelt. Wir erkennen, dass der müßige Oppositionsversuch der Protagonistin gegen jene Nützlichkeits- und Arbeitsideologien, der sie sich entgegenzustellen versucht, längst nicht mehr zu trennen ist von jener Realität, die wir vollständig verleugnen. Dem Schlaf unterliegt somit automatisch die Notwendigkeit des Erwachens. Ottessa Moshfeghs Protagonistin verharrt dabei, statt nach einem Jahr der Ruhe und Entspannung wieder zu sich zu kommen, vielmehr im Zustand eines Halbschlafs, der zwischen Wachzustand und Schlaf, zwischen Realität und Trance stagniert. Warten wir Leser*innen noch auf das finale Erwachen der Protagonistin oder den großen Supergau, stellt man am Ende ernüchtert fest: nichts passiert.
Der Soziologe Hartmut Rosa kommt in seiner Abhandlung zur systematischen Theorie von Beschleunigung und Entfremdung der Frage nach dem guten Leben nach – und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben haben. So geht er davon aus, dass unser persönliches und gesellschaftliches Leben dringend reformbedürftig ist. Der Notwendigkeit einer aktualisierten Überlegung zum Verhältnis von Arbeit und Müßiggang unserer aktuellen Arbeitswelt unterliegen bereits Ideen und Alternativvorschläge, wie beispielsweise Überlegungen einer Vier-Tage-Arbeitswoche, einer Lockerung der Arbeitszeit zugunsten der Freizeit oder die Einführung einer Work-Life-Sleep-Balance, wie es das schwedische Möbelgeschäft IKEA bereits anpreist. Dennoch scheint der Schlaf in unserer Wahrnehmung noch immer ein blinder Fleck.
Doch wenngleich der Schlaf in seiner zeitgenössischen Position nicht zündend wirkt, so hält er sich nach wie vor als Ventil für Widerstand gegen Ökonomisierung und Kommerzialisierung und zeigt sich in seinen kurzen Momenten eines Aufscheinens als die rettende Essenz einer arbeits- und konsumverfallenen 24/7-Gesellschaft. Umso dringender kehrt unser romantisch-verträumter, herumtaumelnder, auf Blumenwiesen liegender Taugenichts in aktuellen Diskussionen der modernen Arbeitswelt wieder – vermag jener noch zu leisten, was unter den gegenwärtigen Bedingungen heute nicht mehr möglich scheint: eine Verzauberung des Stillstands in einer Welt, die keinen Ausschaltknopf mehr kennt.
Literatur
Crary Jonathan (2014): 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin: Wagenbach.
Ecker, Gisela/Lillge, Claudia (2011): Kulturen der Arbeit, München: Wilhelm Fink.
Fuest, Leonhard (2008): Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, München: Wilhelm Fink.
Lockley, Steven W./Foster, Russell G. (2012): Sleep. A very short introduction, New York: Oxford University Press.
Lillge, Claudia (2016): Arbeit. Eine Literatur- und Mediengeschichte Großbritanniens, München: Wilhelm Fink.
Moshfegh, Ottessa (2018): Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger, München: Liebeskind.
RAND Corporation. Eine länderübergreifende vergleichende Analyse zu den wirtschaftlichen Kosten von unzureichendem Schlaf, online unter: https://www.rand.org/news/press/2016/11/30/index1.html (letzter Zugriff: 01.11.2020).
Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entftremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin: Suhrkamp.
Walker, Matthew (2017): Why We Sleep. The new Science of Sleep and Dreams, New York: CT Print.
LENA WIESENFARTH hat Germanistik und Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert, wo sie zum Verhältnis von Schlaf und Arbeit forschte.