100 Jahre Bildung für Wien. Gemeinwohl, Gerechtigkeit und Gesellschaft – VON HEINRICH HIMMER UND KURT SCHOLZ

Im Gespräch mit KURT SCHOLZ diskutiert HEINRICH HIMMER, Bildungsdirektor für Wien, grundlegende Probleme der österreichischen Schule und zeigt – im Rückgriff auf die Konzepte von Otto Glöckel – warum sozialdemokratische Positionen im Sinne von Gemeinwohl und Gerechtigkeit gerade angesichts eines selektiven Bildungssystems nach wie vor gesellschaftspolitisch notwendig und mehr als aktuell sind.

Kurt Scholz: Wenn man als sozialdemokratischer Bildungspolitiker den Begriff „Klasse“ hört – woran denkt man da?

Heinrich Himmer: Das Spannende ist die grundsätzliche Parallele zwischen Klassen in Schule und Gesellschaft. Schulklassen sind nicht homogen zusammengesetzt. Unterschiedliche Interessensgruppen, Vorstellungen, kulturelle Diversifikation nimmt zu. Das Ideal von Otto Glöckel war, dass Bildungseinrichtungen nicht nach Arm oder Reich oder nach Glaubensbekenntnissen getrennt werden sollen. Diese Forderung ist bis heute aktuell. Die Perspektive hat sich erweitert. Es braucht die konkrete Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit. Ich komme aus Simmering. Dort hatten sozialdemokratischer Politiker wie Hans Hatzl einen starken Bezug zur Geschichte und den Wurzeln der Arbeiter*innenbewegung. Er lebte auch danach. Auch heute stellt sich für die Sozialdemokratie die Klassenfrage, die Frage nach Gerechtigkeit und gleichen Chancen.

K. S.: In einer Wahlkampfrede aus dem Jahr 1927, die auch als Tondokument (vgl. das Transkript am Ende dieses Beitrags) vorliegt, sagte Otto Glöckel, es sei – wörtlich – „ein Verbrechen“, wenn Kinder aus hart arbeitenden, aber armen Familien von höherer Bildung ausgeschlossen sind, weil sich ihre Eltern das nicht leisten können. Besteht diese Grundproblematik nicht heute noch?

H. H.: Glöckel spricht hier eine der großen Ungerechtigkeiten seiner Zeit an. Durch sein politisches Wirken und das vieler anderer ist es gelungen, für Kinder und Familien viel zu erreichen. Es macht mich traurig, wenn ich an sein Schicksal denke. Er hat für seinen Kampf um eine gerechte Schule einen hohen, nein: den höchsten Preis bezahlt. Sieben Jahre nach den erfolgreichen Wahlen 1927 – die Wiener Sozialdemokratie erreichte mit Bürgermeister Karl Seitz fast 60 % der Stimmen – wurde Glöckel im Februar 1934 als demokratisch gewählter Abgeordneter verhaftet und interniert. Das führte letztlich zu seinem viel zu frühen Tod. Man muss das erwähnen, wenn man über Glöckel spricht.

K. S.: Wenn man böse ist, kann man sagen: Die Verehrung von Glöckel ist in sozialdemokratischen Organisationen zur Routine geworden. Nun gibt es Rituale, bei denen sich die Gläubigen nicht mehr viel denken. Man verweist mit Erinnerungsverklärung auf die heroischen Zeiten bis 1934 und vergisst darüber Errungenschaften der Zweiten Republik. Die dauert immerhin schon fast sechs Mal so lang wie die Erste Republik. Empfinden nicht gerade Sozialdemokrat*innen die Leistungen der Zweiten Republik als Selbstverständlichkeit und ideologisch zweitrangig? Als kompromisshaft und Verwässerung der reinen Lehre?

H. H.: Nach 1945 konnten bundesweit viele Reformideen von Otto Glöckel nicht umgesetzt werden. Der Zwang der Zweidrittelmehrheit bei Schulgesetzen verhinderte das. Aber es gab in den Jahren unter Kreisky eine Aufbruchsstimmung. Die Wiener Bürgermeister haben dazu entscheidend beigetragen, weit über das Bildungswesen hinaus: Man denke etwa an den Wohnbau, die Sozial- und Gesundheitspolitik, aber auch das Wiener Schulwesen. Da wurden Ideen umgesetzt, die nicht selbstverständlich waren. Es gab plötzlich einen offenen Diskurs mit Eltern und Schüler*innen, politische Bildung, Mitbestimmung, Maßnahmen wie die Inklusion, eine Ausweitung der Ganztagsschule, den Zugang zu Bildungsabschlüssen auch in der Erwachsenenbildung usw. Vielleicht wird man diesen Reformschub erst in ein, zwei Generationen richtig würdigen. Alle diese Neuerungen mussten gegen große Widerstände erkämpft werden. Das vergisst man zu sehr.

K. S.: Wenn man es zynisch formuliert, dann hatte Glöckel das „Glück“, dass vor ihm die Monarchie war, nach ihm das Dollfuß-Schuschnigg-Regime und die Diktatur des Nationalsozialismus. Zwischen diesen Perioden steht er natürlich als Lichtgestalt. Nach 1945 war der Neuanfang mühsam, man fror in den Klassenzimmern. Dann ist Schulwesen unspektakulär Schritt für Schritt, Jahr für Jahr besser geworden. Aber der Mensch gewöhnt sich rasch an Verbesserungen und empfindet sie als selbstverständlich. Irgendwann steigt damit auch die Unzufriedenheit.

H. H.: Erreichtes ist leider nie für alle Zeiten gesichert. In der Zweiten Republik wurden im Vergleich zur Ersten für mehr und mehr Kinder und Jugendliche höhere Bildungsabschlüsse möglich. Ab einem gewissen Punkt fragten sich viele, ob das sozialdemokratische Beharren auf mehr Bildung wirklich noch so dringlich sei. Man habe doch ohnehin schon viel erreicht. In Wirklichkeit sind grundlegende Erneuerungen heute notwendiger denn je. Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Wir leben in einer schwierigen, von Gegensätzen geprägten Welt. Es gibt existenzielle Herausforderungen. Viele grundlegende Lösungen liegen in einer sozialdemokratischen Bildungspolitik. Auch die Einordnung von Lehre und Matura als gleichwertige Ausbildungswege muss man stärker diskutieren.

K. S.: Bleiben wir bei den sozialdemokratischen Ideen. Der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci sagte einmal, dass die Vorbedingung für erfolgreiche Wahlen in der Erringung einer „kulturellen Hegemonie“ bestehe – also in dem Werben um die Hoffnungen, Sorgen und Gedanken der Menschen. Hat die Sozialdemokratie noch Ideen, die die Menschen unmittelbar ansprechen, sie überzeugen und für Wahlbewegungen begeistern kann?

H. H.: Ja, die Ideen sind da. Und es ist viel umgesetzt worden. Denken wir an die Ganztagsschulen in Wien. Die bringen nicht nur bessere Bildungsmöglichkeiten, sondern tragen auch wesentlich zu einer fortschrittlichen Arbeitsmarkt- und Frauenpolitik bei. Die Stadt Wien finanziert die Kostenfreiheit der verschränkten Ganztagsschulen. Das passiert ja nicht zufällig, sondern nur, weil die Stadt dafür einsteht, dass Bildung ein wesentlicher Teil der Freiheit des Menschen und seiner Entwicklung darstellt. Wenn Gramsci in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts von kultureller Hegemonie sprach, muss sich die Sozialdemokratie heute die Frage stellen: Wo stehen wir in der Bildungsdebatte? Was sind unsere Antworten für unsere Zeit? Wie gehen wir auf die aktuellen Fragen der Menschen ein? Die Antwort der Sozialdemokratie war immer, auf die Sorgen und Nöte der Menschen einzugehen – und das durchaus global. Man hat Wege für den Wunsch der Menschen nach einem Leben in Freiheit und Würde gesucht und gefunden. Wir müssen uns heute genau überlegen, wie wir das im 21. Jahrhundert erreichen.

K. S.: Da kommen wir zur Kommunikationsfrage. Aus meiner Sicht war die Sozialdemokratie in der Bildungsdiskussion immer dann erfolgreich, wenn – von Glöckel an bis 1992 – der Stadtschulratspräsident Nationalratsabgeordneter und Bildungssprecher der SPÖ, bei den Kinderfreunden und in Lehrerorganisationen verankert war und aus einer starken Position heraus Schulgesetze verhandelt hat. Man kann eine solche Machtkonzentration kritisieren. Sie verlieh aber auch bildungspolitisches Gewicht.

H. H.: Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Man hat versucht, eine Entpolitisierung der Bildungspolitik zu erreichen. Damit hat man einen Zustand gefestigt, der gerade aus sozialdemokratischer Sicht nicht perfekt ist. Wir haben im internationalen Vergleich ein sehr selektives Schulsystem mit unglaublichen Systembrüchen. Das überfordert nicht nur Kinder und Eltern, sondern auch Pädagog*innen. Um „allen alles zu lehren“, wie Comenius forderte, muss man Hürden beseitigen, viele Bereiche öffnen und Neues schaffen. Neues Denken, etwa in Form der wertschätzenden Beteiligung von allen. Neues Handeln auch in der Leistbarkeit von Bildung. Von der Verwirklichung dieses Ideals sind wir durchaus noch entfernt. Bildungspolitik muss klare Inhalte definieren. Dazu gehört Mut. Helmut Zilk ist dafür ein Beispiel. Er hat 1983 als Unterrichtsminister noch recht drastisch gesagt, dass ihn die Parteibuchwirtschaft ankotzt. Die Arbeit mit Kindern ist grundsätzlich keine Indoktrinierung. Sie darf nicht zu einem ideologischen Glaubenszwang führen. Dennoch sind Bildungsentscheidungen immer parteiliche Entscheidungen, etwa bei den Fragen „Will ich eine Ganztagsschule?“ oder „Will ich, dass es allen möglich ist, auf Nachhilfe zu verzichten?“ … oder will ich es nicht. Darüber muss in politischen Gremien gesprochen werden. Dazu muss man Brücken schlagen, vor allem zu jenen, die Gesetze in den parlamentarischen Gremien andenken, beschließen und in der Schulverwaltung umsetzen können.

K. S.: Steht man in diesem Diskurs nicht einer Denunziationslawine gegenüber? Sozialdemokrat*innen bekennen sich zu einer kindgerechten Schule und ernten dafür den Vorwurf der „Kuschelpädagogik“. Man tritt für ganztägige Betreuungsformen ein und wird einer „Zwangstagsschule“ beschuldigt. Die Beispiele ließen sich nach Belieben fortsetzen. Man denke nur an die „Eintopfschule“, das „Wegwerfschulbuch“, den „Sexkoffer“ etc. Der große deutsche Arbeiterführer Ferdinand Lassalle hat einmal gesagt, man müsse den „Becher der Verleumdung bis zur Neige trinken“, wenn man für die Interessen der arbeitenden Menschen eintritt.

H. H.: Hier wird in der Diskussion bewusst ein „Reframing“ gesetzt. Begriffspolemiken fördern keine positiven Ansätze, im Gegenteil. Sie werten das Schulsystem als Ganzes ab. Ziehen es nach unten. Aus sozialdemokratischer Sicht bedeutet eine gute Schule größere Bildungsräume ohne künstliche Fragmentierungen, ohne Fallstricke, ohne gläserne Decken. Mit einer Abwertungswortwahl will man den Eltern einreden: Je stärker wir die Schulformen getrennt halten – vor allem bei den 10 bis 14jährigen – desto größer sind die Chancen eurer Kinder. Sie sollen möglichst wenig mit anderen durch dasselbe Schultor gehen. Genau diese Ideologie zersplittert auch unsere Gesellschaft.

K. S.: Gibt es da nicht eine recht zynische Aufgabenteilung? Nach dem Muster: Schon gut, soll halt die Sozialdemokratie für Schwache, Arme, Migrant*innen eintreten, wenn sie das unbedingt will. Gottlob gibt es aber uns, die konservativen Lordsiegelbewahrer. Wir sind die Eliten! Dass das Vererbungs- und nicht immer Leistungseliten sind, sagen wir besser nicht. Aber wir versprechen euch für eure Kinder eine soziale Exklusivität, in der Schule und dann im Leben. Um die Mühsamen und Beladenen, die Benachteiligten, die „Deplorables“, sollen sich ruhig die Sozialdemokrat*innen kümmern.

H. H.: Das ist das Grundthema jeder konservativen Diskussion. Sie ist allerdings nicht nur auf bestimmte Parteien beschränkt. Auch bei der Diskussion um eine Erbschafts- oder Vermögensabgabe fühlen sich jene am stärksten betroffen, die sich mit viel Mühe und Arbeit ein Einfamilienhaus gebaut haben und keinesfalls Superreiche sind. In der Schule ist es ähnlich. Familien mit Kindern fürchten sich vor Reformen. Sie haben Angst, dass es für das eigene Kind schlechter wird, wenn man für andere etwas besser macht. Mit diesen Ängsten wird gespielt. Das zementiert ein selektives Schulsystem und damit die Vererbung der Bildungsabschlüsse. Es führt weit weg von den Idealen eines Otto Glöckel. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der ja auch ein wesentlicher Bildungspolitiker im besten Sinn ist, und Politik für die Menschen macht, trägt viel dazu bei, diese Gegensätze zu überwinden. Das dies gelingt, beweisen die vielen Auszeichnungen für Wien. Ganz zu schweigen von den Spitzenplatzierungen als lebenswerteste Stadt der Welt. In Ballungszentren gibt es viele Gegensätze, daher muss man umso mehr das Gemeinsame suchen. Jeden Tag, auch jeden Schultag. Das ist vielleicht die mühsamste und unbedankteste Aufgabe der Pädagog*innen. Die Gesellschaft darf sich nicht auflösen in „Die da oben“ und „Die da unten“. Ab einem gewissen Punkt gibt es dann nämlich kein Zurück mehr.

K. S.: Gerade konservative Politiker*innen behaupten immer: Nur wir garantieren Vielfalt! Nun sieht man aber im Vergleich des gesamten Landes Österreich, dass gerade die Wiener Schulen die größte Vielfalt aufweisen. Man denke nur an das Musikgymnasium, die Höhere Graphische Lehranstalt, die Abendschulen für Berufstätige, das Volkshochschulangebot, das ja gerade Bürgermeister Ludwig so gefördert hat, oder an die jüdischen Schulen oder die Sir-Karl-Popper-Schule, an deren Gründung der Stadtschulrat ja nicht unbeteiligt gewesen ist. Wenn man Vielfalt im Bildungswesen sucht, findet man sie in Wien!

H. H.: Genau das ist ja gelebte Begabungsförderung für alle! Genau die ist ein sozialdemokratisches Anliegen.

K. S.: Und vermitteln wir das auch? Glaubt uns das jemand?

H. H.: Zur Frage der Vielfalt muss ich etwas Grundsätzliches sagen. Gerade die Wiener Lehrer*innen stehen vor Herausforderungen, die kaum eine andere Region Österreichs kennt. Unsere Schulklassen sind größer und bunter. Das ist so. In den österreichischen Gesetzen gibt es dafür aber keine Rücksicht. In weiten Teilen unseres Landes ist die Bevölkerung und damit die Klassenzusammensetzung relativ homogen. In Wien unterrichten die Pädagog*innen in einer Welt unterschiedlichster kultureller, religiöser, sprachlicher Zugänge. Da stellen sich andere Fragen und es gibt unglaublichen Diskussionsbedarf. In diesem Zusammenhang fehlen bundesgesetzliche Antworten, die die unterschiedlichen Voraussetzungen besser berücksichtigen. Reformpädagogische Lösungsansätze sind da und werden gelebt, aber zu wenig finanziert. Sie müssten gerade in der heutigen Zeit von der Bundespolitik mit energischen Schritten gefördert werden. Den Mut sehe ich aber nicht.

K. S.: Gerade in den konservativen Parteiprogrammen heißt es immer: Das Geld gehört dorthin, wo etwas geleistet wird. Kommt im Schulwesen das Geld dorthin, wo Migrant*innen und Flüchtlingskinder sind, wo tagtäglich das Gespräch mit anderen Kulturkreisen gesucht und geholfen wird? Wo Lehrer*innen unendlich viel für ein friedliches Miteinander leisten.

H. H.: Da kommen wir zu einem Begriff, der so emotional besetzt ist, nämlich „Was heißt Leistung?“. Wir messen Leistung in sehr verschiedener Weise. Das ist gerade in einem sehr heterogenen Schulsystem eine große offene Frage. Was im Wiener Schulwesen geleistet wird, ist österreichweit einmalig, aber auch international vorbildlich. Etwa 60 % der Wiener Schulkinder haben eine andere Erstsprache als Deutsch. Sie sprechen Deutsch, aber auch eine andere Sprache. Die Situation ist mit jener in der Monarchie vergleichbar. Das Zusammenleben war fraglos schwierig, aber letztlich hat es, denken wir an das „Wien um 1900“, zu einem enormen Potenzial an Kreativität und Innovation geführt. Diese Entwicklung hat Wien zu einem spannenden Lebensort gemacht. Wien ist deshalb auch heute eine der angesehensten Städte der Welt, weil wir es immer noch schaffen, diese Herausforderungen der Vielfalt gemeinsam zu lösen. Das Budget des Bundes nimmt darauf nur keinerlei Rücksicht.

K. S.: Wien hat mehr ukrainische Kinder als die anderen Bundesländer in die Schule aufgenommen. Bekommt Wien dafür auch mehr Mittel als alle anderen Bundesländer zusammengenommen?

H. H.: Es gilt im Grunde das Gießkannenprinzip. Ressourcen werden von der Landgemeinde bis zum Ballungszentrum identisch verteilt. Hier fehlt die Zentrierung auf die jeweiligen spezifischen Herausforderungen. Es gibt schon eine Reihe von evidenzbasierten Alternativen der Mittelverteilung. Hier braucht es dringend eine Neuausrichtung in der Bildungspolitik. Gerade durch die Pandemie leiden viele Kinder enorm. Durch die Schulschließungen haben Familien und besonders Kinder schwer gelitten. Wir tun alles, um diese Defizite aufzuholen. Die Bundesregierung hat darauf bisher keine Antwort gegeben. Vom Slogan „Koste es, was es wolle“ merke ich hier wenig.

K. S.: Gerade die Pandemie zeigt doch, wie zentral die Rolle der Schule ist. Sie muss Wissen vermitteln, soll aber auch ein „melting pot“ sein. Kinder und Familien, die schon bisher benachteiligt waren, haben ohne eigenes Verschulden unverhältnismäßig stark gelitten. Gerade die Schule sollte das zentrifugale Auseinanderdriften der Gesellschaft nach Möglichkeit verhindern. Der Individualpsychologe Alfred Adler hat gesagt „Es gibt keine absolute Wahrheit, aber was ihr am nächsten kommt, ist die Gemeinschaft“. Kann die Schule die gerade in Krisen rasch wachsenden Gegensätze noch abfedern?

H. H.: Die Bildungsdiskussion konzentriert sich sehr stark auf den Lehrplan, die Inhalte der Gegenstände, die Anzahl an Testungen oder wie die Leistungsbeurteilung aussehen soll. Es gibt sehr formalistische Zugänge im Schulsystem nach der simplen Logik: Jedem Input soll ein messbarer Output folgen. Nur funktioniert Erwachsenwerden, Gemeinschaft und Zukunft so nicht. Dazu gibt es im Alltag wie in der Schule zu viele Variablen. Ich denke da immer an Adornos Satz „Vielleicht ist nach der Nazi-Diktatur das einzige Bildungsziel, dass es nie wieder Auschwitz gibt“. Das klingt sehr apodiktisch, sehr hart. Wenn wir aber einen Blick auf die heutige Welt werfen, dann geht es doch darum, die Freiheit im Denken, die Freiheit im Handeln und unsere Gesellschaft gemeinsam weiterzuentwickeln. Das ist die verantwortungsvollste Aufgabe von Schule, die einzige, die am Ende des Tages zählt. Es nützt uns nichts, wenn wir Millionen hervorragend ausgebildeter Fachleute haben, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Unsere Gesellschaft hat sich aus guten Gründen für eine allgemeine Schulpflicht entschieden. Sie soll demokratische Einstellungen fördern und, um Kreisky zu zitieren, mehr Demokratie wagen. Das bedeutet auch die Gleichberechtigung aller Schulpartner*innen. Ein demokratisches Bildungswesen muss das Gemeinsame pflegen und fördern. Dem Individuum Kind sollen Chancen, Lebensmöglichkeiten, demokratische Einstellungen vermittelt werden, kurz: ein Weltbild entwickeln helfen, das uns zu einer besseren Welt führt.

K. S.: Auch, wenn es furchtbar abstrakt klingt: Die Aufgabe der Schule ist die Humanisierung der Gesellschaft.

H. H.: Die Schule ist ein humanistischer Ort! Jede Schule soll das sein, ohne Einschränkung. Unsere Verfassung sagt, dass das Recht vom Volk ausgeht. Das schließt eine Schule „von oben herab“ aus. Schule muss von den Schüler*innen ausgehen. Lernen und Lachen, Kinder, die begeistert sind und von Erwachsenen, den Eltern und Pädagog*innen begleitet werden, das ist das Ziel. Damit sind die Pädagog*innen eine der zentralsten Berufsgruppen in einem Land. Sie prägen das Urvertrauen der Kinder. Jede Pädagogin, jeder Pädagoge bringt Urvertrauen ein, das Vertrauen in die eigene Kraft, das eigene Wissen und auch das Gefühl, dass die Erwachsenen es gut mit der jungen Generation meinen.

K. S.: Schließen wir mit einem „Wordrap“. Was fällt dem Wiener Bildungsdirektor zu folgenden Begriffen ein?

Kinder„Unsere Zukunft.“
Lesen„Heute anders. Hat sich geändert, verschoben, aber nicht aufgehört.“
Gewerkschaft„Unentbehrlich.“
Religionsgemeinschaften„Im besten Sinn: Hilfe für das Leben. Hoffnung für viele.“
Wirtschaft„Dann am besten, wenn sie den Menschen dient.“
Sport„Rapid!“
Musik„Gibt in guten wie in schlechten Zeiten das Gefühl einer Heimat.“
Familie„Wichtig. Auch die Schule kann Familie sein.“
Optimismus„Lebensgrundlage – Grundlage für jedes Bildungssystem.“

Otto Glöckel, Rede zur Nationalratswahl am 9. November 1930

In dieser letzten Nationalratswahl vor dem austrofaschistischen Staatsstreich am 4. März 1933 wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs mit 41,1 % der Stimmen und 72 Mandaten die stimmen- und mandatsstärkste Partei.

Der so genannte Glöckel-Erlass, der den starken Einfluss der römisch-katholischen Kirche auf das Schulsystem einschränkte, war dabei ein Hauptthema im Wahlkampf der Christlichsozialen.

„Nach schweren, opferreichen Kämpfen haben die Sozialdemokraten das gleiche politische Recht für Männer und Frauen erobert. Zu diesem bedeutungsvollen Fortschritt muss als unerlässliche Ergänzung das gleiche Recht auf Anteil an den Kulturgütern für alle erobert werden.

Darum wollen wir, dass jedem Kinde, ob arm oder reich, die Möglichkeit geboten wird, sich seinen Anlagen und Fähigkeiten entsprechend auszubilden. Dies liegt auch im Interesse des gesamten Staates. Es ist ein Verbrechen, Talente in dieser Zeit der schweren Kämpfe ungenützt verkümmern zu lassen. Es ist unerträglich, dass tüchtige, leistungsfähige Kinder nur darum von der höheren Ausbildung ausgeschlossen bleiben, weil ihre Eltern trotz fleißiger Arbeit nicht imstande sind, die notwendigen Mittel aufzubringen.

Es ist das Verdienst der Sozialdemokraten, dass es in den österreichischen Schulen anders und besser geworden ist. An die Stelle des zwangsmäßigen Stillsitzens, des geisttötenden Drills, der mechanischen Gedächtnisarbeit wurden Lehrweisen eingeführt, die dem Kinde das Lernen zur Freude, die es mit der wirklichen Welt bekannt machen und es daran gewöhnen, sich in eine geordnete Arbeitsgemeinschaft einzufügen. Die geistige Kraft des Kindes wird geübt. Das Kind wird dazu angeregt, selbständig an die Lösung von Aufgaben heranzutreten, damit es sich einst im Leben auf seine Kraft verlassen kann und nicht das gedankenlose Opfer gewissenloser Menschen wird.“

HEINRICH HIMMER obliegt als Direktor die Leitung der Bildungsdirektion Wien. Er trägt Verantwortung für die kontinuierliche Verbesserung und Weiterentwicklung des Wiener Schulwesens. Weitere Informationen online unter: https://klassehimmer.jimdo.com/

KURT SCHOLZ ist Lehrer und Beamter. Seit 1975 ist er als Referatsleiter für Zeitgeschichte und Politische Bildung im Bundesministerium für Unterricht und Kunst tätig gewesen und gehörte u. a. zum Stab von Bürgermeister Helmut Zilk. Weitere Informationen online unter: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Kurt_Scholz