Der Beitrag von INGRID NOWOTNY befasst sich eingehend mit der Geschichte und Gegenwart der österreichischen Sozialpartnerschaft und liefert so eine luzide Erinnerung an diese singuläre Institution, die auch auf europäischer Ebene als demokratiepolitscher Minimalkonsens durchdiskutiert und umgesetzt werden sollte.
I. 100 Jahre Arbeiterkammern – mehr als ein Dokumentarfilm
„Für die Vielen“ – berührend, ruhig, ohne Aggression, zu einem Thema, das sehr wohl Emotion und Zorn über unglaubliche Zustände hervorrufen könnte. Kein Film wie jeder andere: Er zwingt zum Innehalten und Nachdenken, mit Bedacht und in Ruhe. Nicht, dass es nur um Denkanstöße ginge, um Anregungen, es geht um mehr, es geht um Gerechtigkeit, nicht um sie abstrakt zu denken, sondern sie konkret durchzusetzen. Ja, es werden Einzelfälle geschildert, aber jeder Einzelfall steht für „die Vielen“.
Der Film zeigt subtil, aber deutlich, dass es nicht nur des Willens und der Regeln bedarf, um Menschen gerecht zu behandeln, sondern dass ein starkes institutionelles Fundament dahinterstehen muss – keine Selbstverständlichkeit, denn die bestehende effiziente Struktur zur Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer*innen hat – ohne Übertreibung – Alleinstellungsmerkmal in Europa. Aber nicht nur: Ihre Akzeptanz beruht auf zäher Überzeugungsarbeit – Akzeptanz ist wichtig, denn ständig „im Kampf zu stehen“ bindet Kräfte.
Maßnahmen des Arbeitskampfes wie Streik, Aussperrung, Boykott etc. sind wir als Massenphänomene nicht mehr gewohnt. Man kann sagen, dass andere Länder mit Neid und Bewunderung auf unser System der Sozialpartnerschaft zur Regelung der Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen blicken – wenn wir diese Diktion mangels einer treffenderen der Einfachheit halber beibehalten.
Ein Blick nach Frankreich zeigt die Unterschiede: Das Mittel der Demonstration auf der Straße scheint das einzige zu sein, um Arbeitnehmer*inneninteressen durchsetzen zu können, und das auch nur mit mäßigem bis gar keinem Erfolg, vom Ausmaß und den Folgen der Streiks und sonstigen Arbeitskampfmaßnahmen gar nicht zu reden.
Auch Deutschland ist schon anders: In Österreich sind 98 % der Arbeitsverträge durch Kollektivvertrag abgedeckt, in Deutschland ist es knapp die Hälfte davon. Die Zustände im Vereinigten Königreich geben ein Bild der Folgen des Wirtschaftsliberalismus – weit entfernt von einer stabilen Basis der Arbeitsbeziehungen. Margareth Thatcher wirkt noch lange nach.
100 Jahre Arbeiterkammern mag ein simpler Slogan sein, doch das Datum der Entstehung und der Zeitraum der Geltung (mit Corona-Verzögerung) sind nicht inhaltsleer: 1920, die Zeit der sozialen Neuordnung, aber auch der Armut und des Elends kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs und 100 Jahre Geltung, nicht nur ein bloßes Überdauern eines langen Zeitraums, sondern das Überstehen tiefgreifender sozialer und wirtschaftlicher Brüche zeugen von der Bedeutung dieses Regelungswerkes. Es ist Ermahnung und Erinnerung genug, sich seines besonderen Wertes bewusst zu werden, nicht nur der Institution der Arbeiterkammern, sondern des Systems der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft überhaupt.
II. 75 Jahre Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft
Eine Koinzidenz: 75 Jahre Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft – ein Anlass für einen Blick zurück, aber auch sich der Erfolgsgeschichte des österreichischen Weges der Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital bis in die Gegenwart bewusst zu werden. Aus Sicht der Arbeitnehmer*innen war ursprünglich der Begriff „Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft“ zentral, um zu verdeutlichen, dass im wirtschaftlichen Bereich Zusammenarbeit notwendig ist, im sozialen jedoch Interessengegensätze bestehen.
1947 war das Jahr des ersten Lohn- und Preisankommens. Die Folgen des Krieges waren noch schmerzhaft präsent, hinzu kam noch die Bedrohung durch eine Inflation in hohem Ausmaß. Der – kurzsichtige – Weg, einseitig mit Mitteln des Arbeitskampfes Löhne in der Höhe der Preissteigerungen zu erzwingen, hätte die ohnehin noch schwache Wirtschaft tief getroffen, den sozialen Frieden gefährdet und letztlich die Abdeckung der Bedürfnisse der Menschen nicht gesichert. Die maßgeblichen Vertretungen von Arbeit und Wirtschaft erkannten, dass offen ausgetragene Konflikte die Lage nur erschwerten und die Lösung nur durch gemeinsames Vorgehen zu erzielen ist. Der vier Sozialpartner, der österreichische Gewerkschaftsbund, die Bundeswirtschaftskammer, die Arbeiterkammer und die Landwirtschaftskammern einigten sich ab 1947 auf insgesamt fünf Lohn-Preis-Abkommen – eine Besonderheit: Die Sozialpartner haben klar erkannt, dass Lohnpolitik als Teil der allgemeinen Wirtschaftspolitik zu verstehen ist und Löhne nicht von der Preisentwicklung zu trennen sind. Eine gewisse Dämpfung der Einkommen wurde bewusst in Kauf genommen, um die Wirtschaft nicht einer ruinösen Inflation auszuliefern.
Der Erfolg dieser Abkommen führte zu einer Fortsetzung der Zusammenarbeit: 1957 wurde die Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen eingesetzt – auf der Basis der Freiwilligkeit, ohne gesetzliche Grundlage und ohne jede Rechtspersönlichkeit. Den Vorsitz führte der Bundekanzler, die jeweils zuständigen Bundesminister wurden zugezogen, Stimmrecht kam nur den Sozialpartnern zu. Die Kommission nahm – immer auf der Basis der Freiwilligkeit und der Konsensorientierung – Einfluss auf die allgemeine wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung. Informelle Besprechungen im Vorfeld nahmen so manchem potenziellen Konflikt die Spitze.
Die Hochblüte der Sozialpartnerschaft lag in den 1980er-Jahren. Kaum eine wichtige politische Entscheidung erfolgte ohne die beiden Präsidenten Sallinger und Benya; Alleinregierung der SPÖ, verstaatlichte Industrie und gute Konjunkturlage begünstigten diese Entwicklung.
Erste Brüche traten allerdings mit der ersten Ölkrise im Jahr 1975 auf. Stimmen wurden laut, die die Sozialpartnerschaft als „Nebenregierung“ außerhalb der Verfassung als intransparent und demokratiepolitisch bedenklich kritisierten. Die fortschreitende Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft änderte die Rahmenbedingungen, neue Regelwerke und außerhalb Österreichs liegende Entscheidungsmechanismen gewannen zusätzlich an Einfluss. Mit den Marktöffnungen und der Auslagerung von Produktionen waren Preisregelungen nicht mehr durchsetzbar – die Preise werden nunmehr woanders bestimmt. Die auf den engen Bereich Österreichs zugeschnittenen informellen Strukturen hatten ausgedient. Der Beitritt zur Europäischen Union 1995 tat sein Übriges.
Die Paritätische Kommission trat zum letzten Mal 1998 zusammen. Konsensorientierung und Sozialpartnerschaft waren in der Alleinregierung Schüssel 2000 kein Wert mehr, noch weniger im Kabinett Schüssel II in der kleinen Koalition mit den Freiheitlichen. Der Tiefpunkt dieser Regierung war 2006 erreicht: In diesem Jahr kam die Antwort mit dem Wahlsieg Gusenbauers und der Großen Koalition.
In den Folgejahren konnte selbstverständlich – auch in den Regierungen sozialdemokratischer Kanzler – das Rad der Zeit nicht mehr zurückgedreht werden. Die Rahmenbedingungen haben sich drastisch geändert: Politisch geben nicht mehr die im Wesentlichen durch die Großparteien repräsentierten Interessengegensätze allein den Kurs vor, es haben sich andere Schwerpunkte gebildet: Klimawandel und Energie haben der Wohlstandsvermehrung und der Einkommensverteilung den Rang abgelaufen. Wie lange allerdings diese Konstellation anhalten wird, ist mehr als ungewiss: Der Krieg in der Ukraine kann alles umkehren.
III. Was ist geblieben?
100 Jahre Arbeiterkammern und 75 Jahre Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft sind trotz aller realistischen Einschätzungen und kritischen Betrachtungen kein Grund, resignativ vom Ende einer Epoche zu sprechen.
Viel ist geblieben: Der Österreichische Gewerkschaftsbund ist die starke Organisation der unabhängigen Interessenvertretung und auch des Kampfes geblieben, die Arbeiterkammern hingegen erfüllen mehr denn je die Funktion der gesicherten Organisation der Beratung und Unterstützung der arbeitenden Menschen – und mehr als das: Die Arbeiterkammern sind der Think Tank für Wirtschaft und Politik, nicht nur soweit es um Eigeninteresse und die Positionierung der Arbeitnehmer*innen geht, sondern im gesamtstaatlichen Interesse.
Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen Inhalte dieser Positionierungen einzugehen, jedoch an die tragenden Säulen zu erinnern, auf denen diese Stellung beruht: Die Arbeiterkammern sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und somit im staatsrechtlichen Sinne abgesichert; die Pflichtmitgliedschaft berechtigt alle Arbeitnehmer*innen, das breite Angebot der Arbeiterkammern in Anspruch zu nehmen – hier hat der Film gezeigt, wie die Menschen mit der größten Selbstverständlichkeit Rat und Unterstützung auf dem Niveau höchster Professionalität bekommen. Die Pflichtmitgliedschaft erübrigt Fragen nach Zugehörigkeit, Beitragszahlung etc. Sie sichert auch – und das ist ein großer Wert – die finanzielle Basis der Kammern. Müssten die Kammern etwa bei Austritten von Mitgliedern darum fürchten, wäre ein unbelastetes kontinuierliches Arbeiten und die Sicherstellung ihrer Funktionen im politischen Leben nicht möglich.
IV. Die Geschichte der Arbeiterkammern
Ein Blick in die Historie der Entstehung der Arbeiterkammern schärft das Verständnis für ihren hohen Wert. Wurden die Wirtschafts- und Handelskammern im 19. Jahrhundert mit mehr oder weniger Selbstverständlichkeit akzeptiert, so steht hinter der Schaffung von Arbeiterkammern ein langer Kampf, der im Folgenden dargestellt werden soll:
IV.I 1848 und danach
Die Revolution – getragen von heterogenen Kräften, von Bürgertum, Studentenschaft, Bauern, Bildungsschichten und nur zu einem kleinen Teil von Arbeiter*innen – wandte sich in erster Linie gegen den Absolutismus von Kaiserhaus und Feudalaristokratie. Das Eigeninteresse von Industrie und Gewerbe nach Befreiung von wirtschaftlichen Hemmnissen stand im Vordergrund, ebenso die Forderung der bäuerlichen Bevölkerung nach Grundentlastung und Befreiung der Bauernschaft. Die Formierung der Arbeiterbewegung blieb noch in ihren Anfängen; die Einigung auf gemeinsame Standpunkte und der Aufbau einer schlagkräftigen Organisation musste noch ihren Weg gehen.
Die Revolution wurde brutal niedergeschlagen, das Auf- und Ab der Verfassungen zwischen Oktroi und mehr als zaghaften Liberalisierungen, verbaute vor dem Hintergrund eines aufkeimenden fanatischen Nationalismus den Weg zu einem demokratischen Rechtsstaat. Das Parlament, der Reichsrat, blieb eine Kurienvertretung; die lohnabhängige Arbeiterschaft hatte erst um die Jahrhundertwende eine minimale Vertretung in der „Allgemeinen Kurie“. Die herrschenden Klüngel haben Chancen vertan, das Beharren der reaktionären Kräfte führte absehbar zum Zerfall und zum bitteren Ende der Monarchie.
Für die Arbeiterschaft ist also wenig geblieben von den progressiven Forderungen der Revolution 1848.
Profitiert hat die Unternehmerschaft: Das liberale Bürgertum hatte zur Erstarkung von Industrie und Gewerbe seinen direkten Einfluss auf die staatliche Wirtschaftspolitik durchgesetzt, und zwar in Form der selbstverwalteten Handels- und Gewerbekammern – ein effizientes Gegengewicht zur staatlichen Regulierung. Ihnen kam nicht nur ein gewichtiges Wort bei der Gesetzesbegutachtung zu, sondern sie konnten auch 1868 Delegierte in die Unternehmerkurie des Reichsrates entenden.
Es liegt auf der Hand, dass die damals an Bedeutung gewinnenden Gewerkschaftsbewegungen auf dasselbe Recht für die Lohnabhängigen pochten. Die Arbeiterschaft forderte – sehr fortschrittlich – für sich eine ähnliche Struktur wie für die Vertretung der Unternehmerschaft, was natürlich chancenlos blieb. Bemerkenswert ist jedoch die Idee einer gemeinsamen Vertretung aller Lohnabhängigen, eingebettet in die staatliche Verwaltung.
1872 richteten die ersten Gewerkschaftsvereine ein Memorandum an den Reichsrat, ein Pendant zu den Kammern der Wirtschaft mit eigenständiger Gesetzesbegutachtung und Erstellung statistischer Entscheidungsgrundlagen zu schaffen sowie ein „Sozialministerium“ einzurichten. Man verstieg sich sogar zur Forderung einer eigenen Arbeitnehmerkurie im Reichsrat.
Das Scheitern am feudal-monarchischen System war vorprogrammiert; allerdings gab es auch internes Zögern, die Kehrseite war offensichtlich: Der Gegenseite war die „Kammer“ nicht so ungelegen, denn sie konnte leicht als Argument zur Abwehr des gleichen Wahlrechts zum Reichsrat herangezogen werden. Die Arbeiterschaft wollte sich nicht mit kleinen Zugeständnissen abspeisen lassen und verfolgte beharrlich die viel gewichtigere Forderung nach einem gerechten Wahlrecht.
Spätestens 1907 war die Befürchtung des „Abspeisens“ mit der Abschaffung des diskriminierenden Kurienwahlrechts und durch die Einführung des allgemeinen gleichen und geheimen Wahlrechts der Männer zum Reichsrat obsolet; dennoch war in dieser Monarchie selbst an eine moderate direkte Teilhabe der Arbeiterbewegung an staatlichen Aufgaben nicht zu denken.
Ein kleines Zugeständnis war 1898 die Einrichtung eines „Arbeitsstatistischen Amtes“ mit einem „Ständigen Arbeitsbeirat“ unter Mitwirkung von Gewerkschaftsvertretern gewesen: Immerhin konnte die Arbeiterschaft durch eigenständige Darstellung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage objektivere Grundlagen für Gesetzgebung und Verwaltung liefern.
Die Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die christliche Arbeiterschaft ließen nicht ab von ihrer gemeinsamen Forderung nach einer eigenen Kammer.
IV.II 1914–1918
Hatte die Kriegsdiktatur die Mitsprache der Arbeiterschaft als Belastung noch strikt abgelehnt, so besann sich die Staatsführung zumindest vor dem sich abzeichnenden Zusammenbruch endlich darauf, dass es des Zusammenhalts aller Kräfte bedarf. Ohne Mitsprache der Gewerkschaften wären die drastischen kriegswirtschaftlichen Not- und Lenkungsmaßnahmen nicht durchsetzbar gewesen. Die Einrichtung von „Beschwerdekommissionen“ war ein bescheidener Erfolg. Nach dem Zusammentritt des Reichsrates 1917 war die Forderung der Gewerkschaften – auch der christlichen – nach einer Kammer wieder mit Nachdruck auf dem Tapet.
IV.III 1920
Nach Ende des Krieges setzte mit der sozialdemokratisch-christlich-sozialen Koalitionsregierung unter Karl Renner die kurze Periode einer beispiellosen fortschrittlichen Sozialgesetzgebung ein, und zwar unter Miteinbeziehung aller maßgeblichen Kräfte von Arbeit und Kapital. Die führende Gestalt war der Gewerkschafter und Sozialminister Ferdinand Hanusch.
Motivierend für den Konsens war die kluge Einsicht, dass der Neuaufbau eines so tiefgreifend zerstörten wirtschaftlichen und sozialen Systems nicht noch zusätzlich durch die Austragung von Konflikten aufgrund von Interessengegensätzen erschwert oder unmöglich gemacht werden darf. Auch mag die panische Angst vor ähnlichen Entwicklungen wie der bolschewistischen Revolution in Russland oder der Räteregime in Bayern oder in Ungarn mitgespielt haben.
Am 26.02.1020 wurde in der Konstituierenden Nationalversammlung der Beschluss über das „Gesetz über die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern)“ beschlossen und mit StGBl. Nr. 100/1920 kundgemacht – ein Jahrhundertwerk.
Der Gesetzesbeschluss wurde von allen tragenden politischen Kräften unterstützt – Konsens war ein wesentliches Merkmal der Politik nach 1918. Anders wäre es nie zu der bahnbrechenden Sozialgesetzgebung gekommen.
Die Zeit war allerdings kurz, denn schon 1920 zerbrach die Koalition von Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen und damit die Kraft zu weiteren fortschrittlichen Gesetzeswerken. Bemerkenswert ist, dass der Wille zum Konsens so stark war, dass auch der Beschluss der konstituierenden Nationalversammlung über die Bundesverfassung 1920 noch in der Zeit zwischen dem Bruch der Koalition und den Neuwahlen gefasst wurde; hätte man verschoben, wäre das Schicksal dieses unter der Leitung des genialen Verfassungsjuristen Hans Kelsen erarbeiteten Entwurfs höchst ungewiss gewesen.
Hatten die Handelskammern zuvor beträchtlichen Einfluss auf die Wirtschaftsgesetzgebung genommen, so war mit den Arbeiterkammern die Chance für ein echtes Gegengewicht gegeben. Allerdings blieb das Ziel der Balance eine Idealvorstellung und konnte in der Zwischenkriegszeit ihr Potenzial nicht voll entwickeln.
Die Diktatur 1934 machte dem Konsensgedanken ein Ende; das Konzept der ständischen Organisation stand einem Ausgleich der Kräfte diametral entgegen. Der Griff des Nationalsozialismus nach Österreich und damit das Ende der Hoffnung auf ein geordnetes demokratisches Staatswesen war damit besiegelt.
IV.IV Das Arbeiterkammergesetz 1920, StGBl. Nr. 100
Schon am Anfang ist das Programm deutlich vorgezeichnet:
„§1. Zur Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der im Gewerbe, in der Industrie, im Handel, Verkehr und im Bergbau tätigen Arbeiter und Angestellten und zur Förderung der auf die Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiter und Angestellten abzielenden Bestrebungen werden Kammern für Arbeiter und Angestellte (Arbeiterkammern) errichtet“.
Der weitere Gesetzesauftrag (§2.) ist bemerkenswert:
„§2. Die Kammern für Arbeiter und Angestellte sind berufen, die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu vertreten und zu fördern.“
In diesem Sinne haben die Arbeiterkammern Rechte – und nicht bloß die Gelegenheit oder gar die Gnade wie einst – der Mitsprache in Angelegenheiten, die ihr unmittelbares auch mittelbares Interesse berühren: Gesetzesbegutachtung, Erstellung von Entwürfen, Gutachten und empirische Entscheidungsgrundlagen wie Statistiken und volkswirtschaftliche Beurteilungen, nicht nur in arbeitsrechtlichen Belangen, sondern auch in Angelegenheiten der Förderung der Wirtschaft und der sozialen Lage allgemein, Mitsprache bei der Wirtschaftsverwaltung sowie Vertretung und Entsendungsrechte in andere Körperschaften – ein Katalog der umfassenden und verantwortungsvollen Teilhabe am zuvor den Wirtschaftskammern vorbehaltenen politischen Einfluss.
Schon damals wurde die Grundlage für das bis heute bedeutsame österreichische Spezifikum gelegt: die Selbstverwaltung mit eigenem und von der staatlichen Verwaltung übertragenen Wirkungsbereich, mit internem demokratischem Wahlrecht und repräsentativ legitimierten Strukturen – sie als Korporatismus oder als Mittel zur Durchsetzung von Partikularinteressen abzutun ist nicht angebracht, es ist ein Instrument der ausgewogenen Teilhabe am demokratischen Rechtsstaat.
Das Arbeiterkammergesetz hätte nach dieser Grundstruktur wohl eine große Chance zu sozialem Fortschritt und zu innerem Frieden für die neue Republik geboten, sie wurde aber in der Zeit bis 1934 nur wenig genutzt – die Arbeiterbewegung konnte der reaktionären politischen Führung nicht die volle Kraft entgegensetzen, Verbot, Hass und Gewalt bekam die Oberhand.
IV.V Nach 1945
Die Chance wurde nach 1945 umso mehr ergriffen: Es entwickelte sich das österreichische Modell der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft. Eine völlig zerstörte Wirtschaft wieder aufzubauen erforderte große Opfer, die nur mit dem Willen zur Zusammenarbeit aufgebracht werden konnten. An mehreren Fronten war zu kämpfen: Die völkischen Ideen der NS-Ideologie waren noch nicht ausgelöscht, anderseits sahen viele im Klassenkampf der Kommunisten, unterstützt von der sowjetischen Besatzungsmacht, den Weg in die Zukunft, die anderen Besatzungsmächte setzten auf freie Marktwirtschaft, möglichst unter ihrer Kontrolle.
Unter diesem Druck konstituierten sich – nach schon in der NS-Zeit geknüpften verbotenen Kontakten – die politischen Parteien neu, in der tiefsten Überzeugung, dass sie die ideologischen Kämpfe der Vorkriegszeit nicht mehr weiterführen wollen. Der Österreichische Gewerkschaftsbund wurde im April 1945 neu gegründet, und zwar als überparteiliche österreichische Einheitsgewerkschaft, gemeinsam von sozialdemokratischen, christlich-sozialen und kommunistischen Gewerkschaftern unter der Führung des unter der NS-Herrschaft inhaftierten Baugewerkschafters und sozialdemokratischen politischen Mandatars Johann Böhm.
Der Preis für die Konsolidierung der Wirtschaft waren Kompromisse, die nicht immer von klarem Vorteil für die Arbeiterschaft waren. Moderate Abschlüsse von Kollektivverträgen und fünf Lohn- und Preisabkommen dämpften die Wünsche nach effizienteren gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen, waren aber im Ergebnis hilfreich für den notwendigen und auch rasch fortschreitenden Wiederaufbau der Wirtschaft, für die Währungsreform im Jahr 1947 und für die notwendigen sozialpolitischen Maßnahmen. Auf lange Sicht hat sich die kooperative Grundhaltung gelohnt und die Opfer wurden kompensiert.
Die Provisorische Staatsregierung knüpfte an das Arbeiterkammergesetz 1920 an und beschloss am 20. Juli 1945 das Gesetz über die Wiedererrichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte – Arbeiterkammergesetz 1945, StGBl. Nr. 95/1945. Weitere Anpassungen des Gesetzes erfolgten 1954 und 1992. Die nunmehr geltende Grundfassung ist das Arbeiterkammergesetz 1992, BGBl. Nr.626/1991, mit einer Reihe von Novellierungen.
V. Conclusio
Es ist müßig, darüber zu räsonnieren, ob die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft die problematische Funktion einer Nebenregierung habe und daher demokratiepolitisch bedenklich sei. Die Mechanismen der Realverfassung mögen durchschlagen, auch mögen politische Programme, ja Entscheidungen außerhalb, vor oder neben verfassungsmäßig legitimierten Institutionen formuliert werden: Demokratiepolitisch ist die Sozialpartnerschaft dennoch ein hoher Wert – sie ist per se Träger der Mitsprache und des Interessenausgleichs. Zunächst intern, denn ihre demokratisch legitimierten Organe garantieren, dass allfällige Richtungsgegensätze geklärt werden, bevor sie nach außen vertreten werden. Der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird zwischen den Sozialpartnern ausgetragen, Löhne- und Arbeitsbedingungen, aber auch arbeitsrechtliche Regelungen werden nach einem mehr oder weniger mühevollen Ritual ausgehandelt, an dessen Ende in der Regel eine Einigung steht – eine tragfähige Einigung, zu der die Partner umso mehr stehen, wenn sie sie selbst miteinbezogen waren.
Diese Art der Entscheidungsfindung ist jedenfalls dem bedenklichen und unkontrollierbaren Lobbyismus vorzuziehen, wo bezahlte und von wem auch immer namhaft gemachte „Experten“ Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Lobbyismus ist intransparent und weit entfernt von demokratischer Legitimation. Keine noch so ausgeklügelten Regeln und Einschränkungen können diesen Fehlentwicklungen Einhalt gebieten. Es bleibt nur zu fordern, dass sich auch die internationale Ebene mehr mit dem österreichischen Modell befasst.
Ein weiterer Vorteil der Sozialpartnerschaft ist die Autonomie: Kollektivverträge werden autonom von den Sozialpartnern geschlossen. Diese Autonomie darf nicht durch kurzsichtige Überlegungen wie gesetzlicher Mindestlohn etc. auf die politischen Institutionen abgeschoben werden. Es ist keine schöne Perspektive, Lohndebatten dem Parlament zu überlassen.
Wichtiges Element der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft ist auch die Teilhabe an Entscheidungsprozessen in Beiräten und Gremien innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Selbstverständlich sind hier Verfassungsgrundsätze einzuhalten: Träger einer hoheitlichen Entscheidung muss immer das Verwaltungsorgan bleiben, einfacher gesagt, die Behörde kann sich nichts diktieren lassen. Das ist gut so, wenngleich nicht immer einfach nachvollziehbar, wenn es um den subtilen Prozess der Miteinbeziehung von betroffenen Gruppen in Form der sozialpartnerschaftlichen Vertretung durch Beiräte geht. Als Beispiel mögen hier die seit den 1920er-Jahren eingerichteten paritätisch besetzten Ausschüsse in der Arbeitslosenversicherung gelten. Sie sind fixer und stabiler Bestandteil der Entscheidungsstruktur der Arbeitslosenversicherung und nicht mehr wegzudenken.
Es ist überflüssig zu sagen, dass sich die Sozialpartnerschaft gerade in Krisenzeiten bewährt. Hier sind Entscheidungen zu treffen, die Opfer verlangen. Konsensuale Lösungen sind tragfähiger als einseitige Anordnungen. Selbst die türkise Regierung musste einsehen, dass es ein Fehler war, die Arbeitnehmervertretungen auszuschalten; in krisenhaften Situationen wird sehr wohl wieder auf deren Mitwirkung und Unterstützung zurückgegriffen werden müssen, denn die Austragung von Konflikten außerhalb der institutionalisierten Interessenvertretungen ist entbehrlich – siehe die Bemerkungen eingangs über die französische Situation. Es ist zu hoffen, dass das Potenzial unseres Modells der Sozialpartnerschaft gerade in Zeiten des wirtschaftlichen und sozialen Drucks voll zum Tragen kommt.
INGRID NOWOTNY
ist Juristin und war nach ihrer Zeit als Universitätsassistentin an der Universität Linz in Wien im Arbeits- und Sozialministerium im Bereich Arbeitsmarktpolitik in leitender Funktion für Legistik, Arbeitslosenversicherung und Ausländerbeschäftigung tätig. Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende der SPÖ-Bildungsorganisation des Bezirks Wien-Hietzing.