Wir sind diejenigen … Mahnwache für Johanna Dohnal. Rede am 14.02.2024 am Wiener Zentralfriedhof – VON GERTRAUD KLEMM

Was Johanna Dohnal für dieses Land und seine Bewohner*innen geleistet hat, wissen wir. Auch wissen wir, dass wir uns besser um unsere Rechte kümmern sollten. Dass wir lästig bleiben oder es wieder werden sollen! Und dass wir uns mit den frauenpolitischen Krümeln der neoliberalen Politik nicht zufriedengeben sollen.

Kranzniederlegung am Grab von Johanna Dohnal © Viktoria Kriehebauer

Aber wer ist wir und gibt es dieses Wir?

Wir sind jene Gruppe, die die statistische Mehrheit stellt, und zwar auf der ganzen Welt.

Wir sind die, die in diesem Land weniger als die statistische Minderheit, also Männer, verdienen, und zwar um fast 20 % für die gleiche Arbeit.

Wir sind die Systemrelevanten, ohne die nichts geht und die sich für diese unbezahlbare, aber leider wenig bezahlte Leistung beklatschen lassen haben müssen.

Wir sind aber auch diejenigen, die nicht einmal beklatscht wurden; denen die unbezahlbare, unbezahlte Arbeit einfach abverlangt wird, wenn wir uns um Kinder, Kranke und Alte kümmern. Die Arbeit, die wir machen, weil sie sonst niemand macht, die wir aber gern machen, natürlich. Weil wir sie nicht nicht machen können. Bedingungslose Liebe nennen wir das, was wir angeblich ganz besonders gut können, wir Ehefrauen, Freundinnen, Töchter, Mamas, Omas, Schwiegermütter- und -töchter … da sind wir einfach kompetenter und zwar qua Geburt, am besten unser ganzes Leben lang. 63 % der unbezahlten Carearbeit geht auf unsere Kosten, rund 4 Stunden gehen dafür pro Tag drauf. Und weil ein Tag nur 24 Stunden hat, bleibt uns für die bezahlte Arbeit oft nur die Teilzeit und damit die Altersarmut, die jede vierte von uns betrifft, denn: als Frauen sind wir anständig genug, nicht zurückzuerwarten, was wir so fürsorglich gegeben haben. Wenn Frauen zu kurz kommen, nennt man das in neoliberalen Kreisen gern „Wahlfreiheit“, und manche Partei erfrecht sich, uns das als Köder zu verkaufen, der viel zu oft geschluckt wird.

Wir sind die, die mehrheitlich von sexueller Gewalt betroffen sind, wir sind die, die für die Verhütung zuständig sind und uns schickt man durch das ganze Land, um ungewollte Schwangerschaften zu beenden, aus Rücksicht auf ein paar Katholiken, die es stört, dass wir medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Unsere Unterleiber und Oberleiber sind für dieses Land obendrein ein ziemlich einträgliches Geschäft, nicht nur, was die gynäkologischen und schwangerschaftsverhütenden Leistungen betrifft, sondern auch in Form von Pink Taxes, die der Staat mit unseren Hygieneartikeln einnimmt.

Gertraud Klemm während ihrer Rede am 14.02.2024 am Wiener Zentralfriedhof © Viktoria Kriehebauer

Wir sind monetär marginalisiert, parlamentarisch untervertreten, wir sind medizinisch unterversorgt und unbeforscht, und ohne unsere Einmischung läuft es super in den Aufsichtsräten, Vorstandsetagen, auf den Golfplätzen, herrschaftlichen Jagdschlössern und Staatsbanketts.

Wir gründen keine Parteien, Standesvertretung haben wir nicht, Kammer brauchen wir keine, auch keine Gewerkschaften, Lobbys und Interessensvertretungen, denn wir sind doch eh schon gleichberechtigt, und eine Ministerin haben wir ja theoretisch auch, oder?

Wir … wären wir ein Wir, dann könnte das Patriarchat nicht so unbekümmert auf uns herumtrampeln. Dann könnten wir Mehrheiten stellen und als demokratisches oder gesellschaftliches Korrektiv gezielt Hebel ansetzen. Dann könnten wir mit einer Stimme sprechen, fordern, Druck machen und streiken – bis diese Ungeheuerlichkeiten, die uns als Normalität verkauft werden, Geschichte sind, so wie andere Ungeheuerlichkeiten auch Geschichte geworden sind – dank der Politik von Johanna Dohnal.

Wir haben aber sichtlich Wichtigeres zu tun. Wir müssen uns streiten, ob wir mit Sternchen oder Binnen-I gendern und darüber, ob wir Flinta, Frau oder gebärende Person genannt werden wollen. Wir müssen uns in den sozialen Medien ereifern, wir müssen uns in akademischen Disputen solidarisieren oder entsolidarisieren, jedenfalls gilt es, unbedingt digitale Haltung zu zeigen in Konflikten, die wir weder verstehen noch beeinflussen können.

Wir müssen einander in den Rücken fallen oder uns aneinander messen, wer die bessere Mutti ist und wer sein Körperfett am vorteilhaftesten verteilt hat. Wir müssen uns darum kümmern, dass wir funktionieren, wir müssen noch ein Schäuferl nachlegen, weil es hinten und vorne nicht reicht. Und vielleicht fehlen uns einfach die Ressourcen, um dort weiterzumachen, wo Johanna Dohnal aufhören musste. So oder so: dass wir uns nicht als Kollektiv begreifen, ist, um es gelinde zu sagen, jammerschade.

Johanna schau oba! Mahnwache am Grab von Johanna Dohnal © Viktoria Kriehebauer

Wir könnten doch ein Kollektiv sein, was haben wir gemeinsam? Was wollen „wir Frauen“? Wir wollen eine ordentliche Gesundheitsversorgung, die im 21. Jahrhundert angekommen ist, und wir wollen nicht die ganze unbezahlte Arbeit machen. Wir lassen uns nicht gern sagen, dass wir Kinder kriegen sollen, und wir mögen es nicht, wenn man sich ungefragt in unsere Unterleibsangelegenheiten einmischt. Wir wollen weder begrapscht noch vergewaltigt, sondern respektvoll behandelt werden – auch im Alter. Wir wollen leistbar verhüten, würdevoll gebären und nicht schikaniert und bevormundet werden, wenn wir eine Schwangerschaft beenden. Sie wollen Bildung, gerecht entlohnte Arbeit, und unseren Kindern und älteren Angehörigen soll es gut gehen. Nicht weniger als all das haben wir alle gemeinsam. Das könnte in einem politischen Parteiprogramm stehen. Das könnten wir fordern.

Wir sind diejenigen … Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen – sie bekommen nichts – das hat Simone de Beauvoir einmal gesagt. Johanna Dohnal hat bis zuletzt gefordert. Machen wir uns nichts vor: wir brauchen wieder eine (oder einen) wie sie in der Politik. Irgendwo muss doch eine zu finden sein, die klug genug ist, die Prinzipien von Ursache und Wirkung zu verstehen. Irgendeine Partei muss es doch geben, die Frauen als politisches Potenzial begreift.

Wir brauchen wieder den Zusammenhalt an der Basis; denn eine Politik mit den Frauen kann nur gemacht werden, wenn Frauen geeint Forderungen stellen. Aber zuerst müssen wir uns wieder formieren …

als ein Wir.

Ein Wir Frauen.

Danke.

GERTRAUD KLEMM
geb. 1971 in Wien, aufgewachsen in Baden bei Wien, ist österreichische Autorin. Sie ist Biologin und hat bis 2005 als hygienische Gutachterin gearbeitet. Viele ihrer Texte wurden mit Auszeichnungen gewürdigt. So wurde ihr u. a. 2020 der Outstanding Artist Award zuerkannt, 2021 der Ernst-Toller-Preis oder 2022 der Anton Wildgans Preis. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Niederösterreich. Romane: Aberland (Droschl 2015), Muttergehäuse (Kremayr & Scheriau 2016), Erbsenzählen (Droschl 2017), Hippocampus (Kremayr & Scheriau 2019), Einzeller (Kremayr & Scheriau 2023).

Nähere Informationen online unter: https://sites.google.com/view/gertraudklemm/.