„Von Sieger*innen lernen …“ VON WOLFGANG MARKYTAN

Die Darstellung der Europäischen Institutionen sowie die eher spärlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten Einzelner darin, tragen dazu bei, dass sich der Großteil der politischen Akteur*innen, gar nicht zu reden vom Hauptanteil der nicht ausschließlich politikinteressierten Bevölkerung, eher selten mit den Errungenschaften der EU auseinandersetzt. Angesichts der EU-Wahl 2024 diskutiert WOLFGANG MARKYTAN wichtige politische Lösungsansätze.

I. Einleitung

Im Wahlkampf zur Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2009 begann die Wiener SPÖ-Bildung mit politischen Bildungsreisen, um Politik vor Ort erlebbar zu machen. Mit legendären sechs Autobussen und 330 Teilnehmer*innen wurde das Angebot eines Tagesausfluges nach Budapest begonnen. Es folgten fünf Autobusse nach Prag und vier nach Bratislava. Ebenso 2009 wurde die erste politische Bildungsreise im Zuge von 20 Jahre Mauerfall nach Leipzig, Berlin und Dresden mit drei Autobussen sowie einem Begleitfahrzeug mit insgesamt 183 Teilnehmer*innen durchgeführt. Diese Angebots-Serie wurde Europa ErLeben genannt. Um diese Angebote auch in die andere Richtung zu ermöglichen, jedes Jahr kommen in etwa 25 Gruppen zu einem politischen Austausch nach Wien, wurde das Angebot der Besuche von politischen Institutionen um das Projekt Red Works ergänzt.

Wenn ich nun gefragt werde, was der ganze Austausch politisch bringen könne, antworte ich stets: „Von Sieger*innen lernen“, was vor allem aufgrund des intensiven Austausches mit den deutschen Genoss*innen meistens mit Überraschung bis hin zu Gelächter quittiert wird. Aber mein Ansatz ist eben genau der, hinzuschauen, wo Wahlauseinandersetzungen erfolgreich absolviert wurden, und überall zeigen sich Politiker*innen, die trotz der Niederlage im Umfeld herausragende Erfolge erzielen konnten. Auf diese Gespräche hin, habe ich eine Zusammenfassung erstellt.

II. Wahlen

Wer schon jemals an einer politischen Bildungsreise der Wiener SPÖ-Bildung, der Wiener Bildungsakademie beziehungsweise der SPÖ-Bildung teilgenommen hat, kann bestätigen, dass der Austausch mit Parteien, Funktionsträger*innen sowie Mandatsträger*innen immer im Vordergrund steht. Programme starten schon mal um sieben Uhr morgens und dauern auch schon mal bis nach Mitternacht. Die gemeinsame Zeit soll intensiv bildungstechnisch genutzt werden.

Aktuelle politische Herausforderungen werden von politischen Akteur*innen häufig als Schlüsselthema betrachtet, um Wähler*innen zu gewinnen. Dies geschieht oft durch eine Kombination aus der Betonung vergangener Erfolge und der Vorstellung positiver Zukunftsaussichten. Dabei können sowohl Ängste vor dem Unbekannten als auch die Versprechen einer besseren Zukunft mit der eigenen Partei genutzt werden, um Wähler*innen anzusprechen. Dieser Ansatz wird von verschiedenen politischen Parteien weltweit angewandt, um Wahlen zu gewinnen. Und ja, genau richtig gelesen, das gilt für alle Parteien.

Der ehemalige österreichische Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende Bruno Kreisky betonte einst, dass Dankbarkeit keine politische Kategorie sei. In meinen Gesprächen mit erfolgreichen Politiker*innen wurde deutlich, dass viele Wähler*innen ihre Wahlentscheidung danach treffen, wem sie zutrauen, ihre Ängste und Sorgen zu mindern. Selbst wenn Politiker*innen die richtigen Antworten auf wichtige Themen haben, werden sie nicht gewählt werden, wenn sie in einem anderen, vielleicht weniger offensichtlichen Bereich nicht als kompetent und authentisch wahrgenommen werden. Fortschrittliche Parteien neigen dazu, ihre Erfolge wie Fußballergebnisse zu betrachten („5:1 gewonnen“), aber es hat sich gezeigt, dass es nicht nur darum geht, wie viele Hoffnungen erfüllt wurden, sondern vor allem um deren Relevanz.

Seit vielen Jahren besuchen politische Gruppen aus dem In- und Ausland Wien, um die erfolgreichen Beispiele des „Neuen Wien“ und des „Roten Wien“ zu erkunden. Als Bildungsorganisation stehen wir bereit, Programme zu organisieren und Gesprächspartner*innen für die gewünschten Themen zu vermitteln. Das Thema „Wohnen“ steht dabei oft an erster Stelle, da es von größter Bedeutung ist. Viele Gruppen sind überrascht, zu erfahren, dass Wien über 220.000 Gemeindewohnungen besitzt, dass zwei Drittel der Wiener Bevölkerung im geförderten Wohnbau leben und dass Wien seit über zehn Jahren als die „lebenswerteste Stadt der Welt“ gilt. Gleichzeitig sind sie verwundert darüber, dass trotz dieser Erfolge und der sozialen Wohnbaupolitik der Sozialdemokratie nach den Wahlen von 2015 bis zum Jahr 2020 34 % der Abgeordneten im Wiener Rathaus von der FPÖ gestellt wurden, einschließlich eines Vizebürgermeisters.

III. Bedürfnishierarchie/Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow

Die Bedürfnishierarchie – auch Bedürfnispyramide genannt – wurde von Abraham Maslow in den 1940er-Jahren entwickelt und beschäftigt sich mit den verschiedenen Ebenen menschlicher Motivation. Sie bietet eine Taxonomie von Motiven und erklärt, wie diese das Verhalten beeinflussen. Maslow identifizierte fünf Hauptkategorien von Bedürfnissen, von den grundlegend physiologischen bis zu den hoch entwickelten humanen Bedürfnissen. Die Nichterfüllung bestimmter Bedürfnisse kann zu physischen oder psychischen Störungen führen, während z. B. Wachstumsbedürfnisse nie vollständig befriedigt werden können und ebenfalls psychische Störungen auslösen können. Handeln wird durch unbefriedigte Bedürfnisse aktiviert, wobei die motivierende Kraft mit zunehmender Befriedigung abnimmt, da das Bedürfnis nicht mehr aktiv das Handeln beeinflusst.

Maslow erkannte, dass einige Bedürfnisse eine höhere Priorität haben als andere. Zum Beispiel sind Luft und Wasser lebensnotwendig, während ein neues Auto weniger dringend benötigt wird. Maslow vermied jedoch den Versuch, eine konkrete Rangliste von Bedürfnissen zu erstellen, da er dies als nicht zielführend ansah. Stattdessen ordnete er Bedürfnisse in fünf Hauptkategorien ein, von den grundlegenden physischen bis hin zu den hoch entwickelten humanen Bedürfnissen: physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Bedürfnisse nach Wertschätzung und Selbstverwirklichungsbedürfnisse.

Abb. 1: Bedürfnispyramide nach Maslow © Wikimedia Commons

Die „klassischen“ fünf Ebenen der Bedürfnispyramide nach Maslow können wie folgt näher bestimmt werden:

  1. Physische Bedürfnisse: Diese umfassen Grundbedürfnisse wie Atmung, Nahrung, Wasser, Schlaf und physiologische Stabilität, die für das Überleben notwendig sind. Dadurch zählen zu dieser Kategorie auch die Mobilität und Sexualität.
  2. Sicherheitsbedürfnisse: Nachdem physische Bedürfnisse erfüllt sind, entstehen Sicherheitsbedürfnisse wie körperliche Sicherheit, finanzielle Stabilität, Arbeitsplatzsicherheit und ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit.
  3. Soziale Bedürfnisse: Wenn die ersten beiden Ebenen befriedigt sind, entsteht der Drang nach sozialen Beziehungen, Familie, Freundschaft, Zugehörigkeit, Liebe und gegenseitiger Unterstützung.
  4. Individualbedürfnisse: Dies umfasst den Wunsch nach Selbstachtung, Erfolg, Unabhängigkeit, Wertschätzung und die Erfüllung persönlicher Ziele und Träume.
  5. Selbstverwirklichung: Auf der höchsten Ebene strebt der Mensch danach, sein volles Potenzial zu entfalten, seine Talente zu nutzen, Kreativität auszudrücken und sein Leben mit Sinn zu erfüllen.

Basierend auf diesen Erwägungen können wir evaluieren, inwieweit diese Faktoren wahlentscheidende Relevanz besitzen. Bedauerlicherweise wird an vielen Orten mit Themen oder Argumentationslinien gearbeitet, die sich nicht auf die erste oder sogar die zweite Kategorie beziehen. Folglich bleiben viele Menschen, die im politischen Denken eigentlich mit uns übereinstimmen, von unserer eigenen politischen Überzeugung unbeeinflusst.

Ein typisches Phänomen besteht in der oft paternalistischen Herangehensweise von fortschrittlichen Bewegungen. Während Politiker*innen zweifellos die Verantwortung haben, progressive Ideen voranzutreiben und auch unbequeme Lösungsvorschläge zu unterbreiten, habe ich aus meinen Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass die meisten Menschen eher eine Vertretung ihrer individuellen Interessen und Sorgen wünschen. Unter Berücksichtigung meines Selbstverständnisses betrachte ich diesen Ansatz als „positivistischen Neo-Populismus“, der darauf abzielt, Probleme, die von betroffenen Gruppen in das politische System eingebracht werden, bestmöglich im Sinne dieser Betroffenen zu lösen. Persönlich sehe ich meine Rolle nicht darin, den Menschen die Welt zu erklären; vielmehr sehe ich mich darin bestärkt, von den Wähler*innen dazu ermächtigt zu werden, ihre Anliegen in das politische System zu übermitteln und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Bedauerlicherweise ist dieses Selbstverständnis bei den meisten Politiker*innen nicht präsent, da sie sich stattdessen eher in der Rolle des paternalistischen Erklärenden sehen.

Dies impliziert jedoch nicht, dass ausschließlich populistische Strategien angewendet werden sollten. Vielmehr ist es von Bedeutung, die Themen in der Bevölkerung zu platzieren. Die Fragestellung liegt jedoch darin, auf welcher Ebene der Bedürfnishierarchie die Diskussion angesiedelt ist und ob damit überhaupt jemand erreicht wird. Ein konkretes Beispiel ist eine kürzlich erlebte Initiative, bei der vier Anrainer des Leopold-Kunschak-Platzes darauf hingewiesen wurden, dass dieser nach einem Antisemiten benannt sei, und ob sie gegen eine Umbenennung wären. Dabei wurde jedoch nicht auf die potenziellen Kosten und Nachteile eingegangen, die für die Betroffenen von tatsächlicher Relevanz wären. Obwohl das Vorhaben mehr als unterstützenswert ist, verdeutlicht es die Realität: Paternalistische Politiker*innen versuchen, deren eigene Probleme auf andere Menschen zu projizieren und bieten entsprechende Lösungen an. Dies bedeutet, dass Funktionsträger*innen zu den Menschen kommen, deren Probleme umformulieren und auf deren Kosten Erfolg erzielen wollen. Die eigentlichen Probleme der Betroffenen bleiben jedoch unberührt. Politiker*innen erhalten zahlreiche Rückmeldungen dieser Art, doch leider hat sich bei den paternalistischen Parteien und Bewegungen nur wenig geändert.

Zusätzlich dazu haben wir alle Erfahrungen gemacht, Ratschläge und Rückmeldungen zu erhalten, die zwar inhaltlich korrekt sind, jedoch nicht mit unseren individuellen Lebensentwürfen übereinstimmen. Obwohl es vernünftig erscheinen mag, „weniger Süßes zu essen“, „abzunehmen“ oder „mehr zu sparen“, sind es oft nicht die Personen, denen wir dafür danken oder die wir sogar wählen würden. Niemand schätzt dauerhafte Besserwisser*innen oder Gouvernant*innen. In diesem Zusammenhang ist es für uns selbstverständlich, eine Position einzunehmen, die Verständnis zeigt und nicht paternalistisch vorgeht. Trotz der Anerkennung, dass die inhaltlichen Ratschläge vernünftig sind, verpuffen sie oft, da sie nicht mit unseren eigenen Lebenszielen übereinstimmen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, die physischen Bedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen und angemessene Antworten auf diese Probleme anzubieten. 

Dies führt uns zu Themen wie dem „ungezügelten Wirtschaftswachstum“ und der „Zuwanderung“, bei denen sich viele Menschen in ihrer Sicherheit bedroht fühlen und erkennen, dass die zunehmende Geschwindigkeit und Quantität zu einer Entfremdung von Vertrautem führen kann. Ebenfalls in diese Kategorie fallen Aspekte der Sexualität, was uns zu Diskussionen über Gendern und neue Geschlechtsformen führt. Sowohl für diejenigen, bei denen es zu den physischen Bedürfnissen gehört, als auch denen, die sich in der neuen Zusammenstellung nicht zu Recht finden, verstärkt sich ein Gefühl der Verbundenheit bis hin zur Radikalität. Wie bereits beschrieben, müssen diese Bedürfnisse zuerst erfüllt werden, bevor Menschen auf der Ebene der Sicherheitsbedürfnisse erreicht werden können. In diesem Bereich fühlen sich viele progressive Parteien eher zuhause, da sie menschenwürdige und vernünftige Lösungen in Bereichen wie körperlicher Sicherheit, finanzieller Stabilität, Arbeitsplatzsicherheit und einem Gefühl von Schutz und Geborgenheit anbieten können. All dies verdeutlicht, dass ohne die ernsthafte Berücksichtigung der physischen Bedürfnisse der Menschen keine effektiven Antworten auf ihre Sicherheitsbedürfnisse möglich sind.

IV. Die Frage nach den richtigen Themen

Es gestaltet sich gelegentlich als herausfordernd, die zuvor genannten Punkte zu akzeptieren und in unsere politische Praxis zu integrieren. Viele der Themen, die von fortschrittlichen Parteien gewählt werden, entspringen einem klaren Verständnis, das Richtige zu tun und es im Einklang mit den Bedürfnissen der Menschen voranzutreiben. Allerdings neigen wir oft dazu, auf einen falschen Pfad zu geraten und verbringen viele Jahre damit, vergeblich die richtigen Lösungen umzusetzen. Typische Beispiele hierfür sind einige der Grundforderungen der Sozialdemokratie, wie etwa die Forderung nach „gleichem Lohn für gleiche Arbeit“ oder einer „gerechten Vermögensbesteuerung“.

V. Einführung von Vermögenssteuern

Die Verteilung von Vermögen erweist sich insbesondere in Österreich als ungerecht, wie zahlreiche Studien verschiedener Institutionen belegen. In den vergangenen fünf Jahren wurden laut Angaben der Arbeiterkammer etwa 20 Studien und Umfragen durchgeführt, bei denen jeweils eine Zustimmung von mindestens 80 % für eine gerechte Vermögensbesteuerung erzielt wurde. Dennoch ist offensichtlich, dass Parteien, insbesondere progressive, die im Wahlkampf solche Forderungen vertreten, nicht mit einer Zustimmung von 80 % gewählt werden. Unter Berücksichtigung dieses Beispiels würde ich etwa 50 % der Sozialdemokratie zuschreiben, die sich seit Jahrzehnten ernsthaft für dieses Thema einsetzt. Dies verdeutlicht erneut, dass bestimmte Themen bei Wahlentscheidungen unterschiedlich gewichtet werden, und offenbar hat die Vermögensbesteuerung nicht die höchste Priorität.

Es stellt sich weiterhin die Frage, wie solche Zustimmungsraten in Umfragen zustande kommen, die deutlich von der tatsächlichen politischen Realität abweichen. Dies könnte auf die Art der Fragestellungen zurückzuführen sein, die offenbar sehr manipulativ gestaltet sind, um solche Ergebnisse zu erzielen. Wenn man das Thema tatsächlich umsetzen möchte, sollte man die Fragen aus der Perspektive der Gegner*innen der Maßnahme formulieren, um daraus Rückschlüsse für die eigene politische Arbeit zu ziehen. Denn die derzeitigen Antworten scheinen weit von der Lebensrealität der Menschen entfernt zu sein. Obwohl viele eine gerechte Vermögensverteilung befürworten, wollen sie sich selbst nicht davon betroffen sehen. Das Wort „Vermögen“ ist positiv konnotiert und soll dennoch negativ besteuert werden, obwohl der Großteil der Menschen auch selbst vermögend sein möchte. Dies wird durch die Tatsache untermauert, dass 42 % der Menschen in Österreich mindestens einmal im Jahr Lotto spielen, und weit über 80 % im Laufe ihres Lebens. Es ist unwahrscheinlich, dass alle auf einen Gewinn hoffen, der nur einen niedrigen Betrag abdeckt.

Schließlich ist auch die kommunikative Dimension zu berücksichtigen: Begriffe wie Vermögenssteuern, Reichensteuern, Millionär*innen-Steuer und teilweise sogar Erbschaftssteuer können dazu beitragen, dass die Akzeptanz dieser Maßnahmen nicht gesteigert wird. Jeder dieser Ausdrücke kann auch aus positiver Sicht gesehen werden und es käme auch niemand auf die Idee eine Urlaubssteuer oder Zufriedenheitssteuer einzufordern. Es bedarf einer grundlegenden Veränderung im Bereich der Bezeichnungen von Vermögenssteuern, um diese Maßnahmen für die Menschen attraktiver zu gestalten. Aus vielen Diskussionen zu diesem Thema habe ich den Begriff „Gier-Steuer“ aufgegriffen, der möglicherweise einen neuen Ansatzpunkt bietet. Ebenso unzufriedenstellend verhält es sich mit weiteren Themen, die zwar häufig diskutiert, jedoch nicht als gelöst angesehen werden können, wie zum Beispiel die „qualitative Zuwanderung“.

VI. Authentisch wahrgenommen werden

Im Jahr 2024 bieten sich herausragende Gelegenheiten, die zuvor genannten Beispiele in der Praxis zu erproben. Neben kommunalen Wahlen, die das ganze Jahr über stattfinden, stehen die Arbeiterkammer-Wahlen von Januar bis April, die Wahl zum Europäischen Parlament am 09. Juni und die Nationalratswahl im September an. In diesem Jahr haben wir die Chance, zu zeigen, dass die Sozialdemokratie sich neu positioniert hat und die richtigen Schlussfolgerungen aus den vergangenen Wahlniederlagen gezogen hat. Aus diesem Grund habe ich unter anderem das Gespräch mit den erfolgreichen Sieger*innen der Wahl in Salzburg gesucht, um zu verstehen, wie es ihnen gelungen ist, in einem überwiegend konservativen Umfeld dennoch erfolgreich zu sein.

Eine weitere herausragende Gelegenheit, um Einblicke zu gewinnen, boten mir die Fragen von erfahrenen und neuen Funktionär*innen sowie Mandatsträger*innen im Arbeiterkammer-Wahlkampf. Es stellt sich die Frage, warum es der Fraktion der Sozialdemokratischen Gewerkschafter*innen (FSG) gelingt, fast landesweit ein absolutes Mehrheits-Ergebnis zu erzielen. Bei den Arbeiterkammer-Wahlen sind alle Arbeitnehmer*innen wahlberechtigt, was eine breitere Wähler*innenbasis bedeutet. Es gibt Unterschiede zu einer Nationalratswahl, zum Beispiel dürfen bei den Arbeiterkammer-Wahlen auch Beschäftigte ohne österreichische Staatsbürgerschaft teilnehmen. Die Wahlwerbung findet größtenteils in den Betrieben statt und auch die Wahlmodalitäten unterscheiden sich.

Bei den letzten Arbeiterkammer-Wahlen im Jahr 2019 erzielte die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter*innen (FSG) österreichweit einen Zustimmungswert von 60,48 %, verglichen mit 57,16 % bei den vorangegangenen Wahlen im Jahr 2014. Im Gegensatz dazu erhielt die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) bei den Nationalratswahlen 2019, bei denen fast alle Kandidat*innen der FSG der Arbeiterkammer-Wahl ebenfalls antraten, lediglich einen Gesamtzustimmungswert von 21,2 % landesweit. Interessanterweise wies die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) trotz der turbulenten Ausgangsphase nach der Ibiza-Affäre laut Wahlstromanalyse bei den Arbeiter*innen einen Zustimmungswert von 48 % im Vergleich zu 23 % für die SPÖ auf und bei den Angestellten einen Zustimmungswert von 12 % im Vergleich zu 18 % für die SPÖ. Bei der Nationalratswahl 2017 erreichte die FPÖ sogar bei Arbeitnehmer*innen mit 60 % eine deutliche Mehrheit im Vergleich zur SPÖ. Im Jahr 2013 konnte die FPÖ ebenfalls gegenüber der SPÖ bei Arbeitnehmer*innen mit 33 % zu 24 % gewinnen und bei Angestellten mit 25 % zu 26 % fast gleichwertig reüssieren.

Ein weiterer bedeutender Aspekt zeigt sich in der Authentizität der politischen Vertreter*innen und wo diese wahrgenommen werden. Bei den Arbeiterkammer-Wahlen erfolgt die Bewerbung und Mobilisierung hauptsächlich über die Betriebe und die Vertrauenspersonen der wählenden Mitarbeiter*innen, insbesondere Betriebsrät*innen. Eine kontinuierliche Präsenz im Betrieb, das Engagement für die Arbeitnehmer*innen sowie die Aufnahme der von den Menschen vorgebrachten Anliegen sind neben einer attraktiven Spitzenkandidatur die entscheidenden Erfolgsfaktoren. Dies unterscheidet sich auch von den Nationalratswahlen, bei denen eine weit größere und vor allem anonymere Wähler*innenbasis erreicht werden muss. Es bleibt fraglich, ob die Parteistrukturen der SPÖ hier ausreichen. Aus diesem Grund sind die einzelnen Kandidat*innen auf allen Ebenen bei der Nationalratswahl wichtige Gründe für die Wahl einer bestimmten Partei. Insbesondere da die Zielgruppe „Alle“ in der Realität kaum erreichbar ist.

VII. Fazit

Wenn wir die zuvor erarbeiteten Aspekte betrachten, lässt sich zusammenfassen, dass Wahlentscheidungen in erster Linie von der Erwartung geprägt sind, dass eine bestimmte Partei oder eine bestimmte Politiker*in meine Ängste und Bedürfnisse am besten anspricht und bearbeitet. Dabei ist zu betonen, dass politische Entscheidungen nicht nach simplen Erfolgsprinzipien wie im Fußball funktionieren, das heißt, dass eine erfolgreiche Leistung in einem Bereich nicht zwangsläufig zu einer Wahlentscheidung führt.

Es ist wichtig, nicht die eigenen Probleme auf die Probleme anderer zu übertragen, sondern vielmehr eine authentische Vertretung der Bedürfnisse der Bevölkerung zu sein, anstatt eine paternalistische Haltung einzunehmen. Im Sinne des von mir definierten „positivistischen Neo-Populismus“ plädiere ich dafür, sich vielmehr als Sprachrohr der Bevölkerung zu sehen, als die Rolle der paternalistischen Welterklärer*in einzunehmen. Menschen schätzen es nicht, wenn ihnen vorgeschrieben wird, was sie zu tun haben, und es ist unangenehm, als jemand wahrgenommen zu werden, der ständig andere mit den eigenen Bedürfnissen belästigt, selbst wenn diese Ratschläge richtig wären, wie zum Beispiel in den Bereichen Gewichtsabnahme, mehr Bewegung oder Sparsamkeit.

Die Auswahl der richtigen Themen, die Stellung der richtigen Fragen und die Kommunikation der richtigen Antworten sind auch im Blick auf die EU-Wahl 2024 entscheidende Herausforderungen. Oftmals fällt es schwer, diese Aspekte zu akzeptieren und in die politische Praxis zu integrieren. Viele Themen, die von progressiven Parteien gewählt werden, entspringen einem klaren Verständnis des Richtigen, jedoch besteht die Gefahr, dass man auf einen falschen Weg gerät und Jahre damit verbringt, die richtigen Lösungen zu verfolgen, ohne Erfolg zu haben. Typische Beispiele hierfür sind grundlegende Forderungen der Sozialdemokratie wie die Gleichstellung von Löhnen für gleiche Arbeit oder eine gerechte Vermögensbesteuerung.

Eine ehrliche und langfristige Beteiligung wird von der Wähler*innenschaft positiv wahrgenommen. Daher sind die meisten erfolgreichen Wahlkampfaktivitäten darauf ausgerichtet, sich als verlässliche Ansprechpartner*innen, ehrliche Zuhörer*innen und verbindliche Umsetzer*innen zu etablieren. All diese Aspekte sind notwendig, um die richtigen politischen Ansätze voranzutreiben und ihr volles Umsetzungspotenzial zu entfalten.

Wolfgang Markytan © WBA

WOLFGANG MARKYTAN

ist Bundesbildungsgeschäftsführer der SPÖ. Nach einer Kellnerlehre und zehn Jahren Arbeit im Touristikbereich im Ausland kehrte er 2001 nach Wien zurück und studierte Politikwissenschaft. Seit 2003 arbeitet er im Bereich der politischen Erwachsenenbildung, ist Leiter der Wiener Parteischule der Wiener Bildungsakademie und gibt Seminare und Workshops an verschiedenen Bildungseinrichtungen in den Bereichen Kommunikation und politische Grundausbildungen. Er tritt 2024 bei der Nationalratswahl für die Sozialdemokratische Partei Österreichs an.

Quellen und Literatur