LENA WIESENFARTHS Essay ist der erneuten Auseinandersetzung mit Ottessa Moshfeghs Roman Mein Jahr der Ruhe und Entspannung (2018) gewidmet, um die Wirksamkeit der literarischen Motive von Schlafen und Erwachen in Zeiten des Neoliberalismus herauszuarbeiten. In ihrer Analyse berücksichtigt sie gleichermaßen literaturgeschichtliche Entwicklungslinien wie auch die politischen Implikationen und Konsequenzen einer schlaflosen, geradezu betäubten Gesellschaft im Nonstop-Modus.
I. Ein seltsamer Dornröschenschlaf
Schon Aristoteles war der Meinung, der Schlaf sei gewissermaßen eine Unbeweglichkeit und Fessel der Empfindung, das Erwachen hingegen die Lösung und Befreiung. Auch Jonathan Crary, Kunstkritiker und Essayist, schreibt dem Erwachen die Erfahrung eines erlösenden Moments zu. Begeben wir uns beim Einschlafen in eine Welt jenseits unserer Sinne – denn im Schlaf sehen und hören wir nichts – verbinden wir uns im Erwachen gerade mit jenen Sinnen, die uns nicht nur Menschliches bescheren, sondern auch die Umwelt überhaupt erst wahrnehmen, erfahren lassen. Schlaf, so scheint es, bildet mehr den passiven Teil unseres Lebens, der Wachzustand hingegen die Möglichkeit, aktiv zu werden.
Das Motiv des Auf- oder Erwachens ist dabei nicht neu. Insbesondere die Bibel offenbart zahlreiche Beispiele, in welchen für tot erklärte Menschen wieder zum Leben erwachen – wie aus einem tiefen Schlaf. Auch in Märchen hat der Schlaf eine außergewöhnliche Position. Schneewittchen liegt nur scheintot im Sarg. Denn in Wahrheit schläft sie nur. Dornröschen verfällt sogar mitsamt dem Schloss in einen hundertjährigen Schlaf. Alle erwachen aber wieder – in eine Welt, die kaum schöner sein könnte. Zurück ins Leben gefunden, verwandeln sich insbesondere die Märchen-Figuren, wachgeküsst, in Prinzen und Prinzessinnen, in Könige und Königinnen, und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Der Schlaf mitsamt seinen Motiven wie der Nacht, dem Mond, dem Traum, wird gerade als Narrativ gerne romantisiert. Dass dieses naiv-idyllische Bild vom dystopischen Gehalt längst eingeholt wurde, macht Shakespeare wiederum in seinem Werk Romeo und Julia beispielhaft deutlich, in welchem der Schlaf Julias zum Verhängnis aller wird: als sie erwacht, ist Romeo tot. Der Schlaf kommt insbesondere in der Literatur sehr ambivalent zum Einsatz. Gilt er in der einen Erzählung noch als Heilsbringer und Retter, kann er in der nächsten schon das pure Unglück über Nacht heraufbeschwören. Eines jedoch scheinen die beiden konträren Schlafbilder gemeinsam zu haben: sie alle besitzen die Fähigkeit, die Umwelt aktiv zu verändern.
Ganz im Gegensatz zu unserem Alltag. Fernab von metaphorischen Bildern, schreiben vielmehr Redewendungen wie „man solle doch nicht sein Leben verschlafen“ oder „doch endlich aufwachen“ dem Schlaf pure Passivität zu. Seine ausbleibende Handlungsfähigkeit hat den Schlaf mehr und mehr aus unserem hektischen und durchgetakteten Alltag verdrängt. Und vielmehr zu einem Zustand formiert, in welchem wir uns, losgelöst von unserem Wachzustand, nur noch erholen können. Was bleibt, ist das Bedürfnis, das Begehren nach jenem Ort der Ruhe und Entspannung.
Werfen wir einen Blick in die Gegenwartsliteratur, so blicken wir auf Ottessa Moshfeghs Roman Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, worin die junge Protagonistin in einer Welt schläft, die sich einer permanenten Wachheit, einem Nonstop längst unterworfen hat. Der Roman schafft dabei einen zeitgenössischen Zugang, indem er poetisch nicht nur extrem aufgeladen, ironisiert und verdreht wird, sondern ein altes Narrativ, den Schlaf, heranzieht, es modernisiert und extremisiert. So schläft die Protagonistin nicht in idyllischer Umgebung gelegentlich ein, wie wir es aus vielen Märchen oder Kinderliedern kennen; auch verweigert sie sich nicht sporadisch zu gegebenem Anlass – diese Protagonistin fordert mit einem ungeheuren, provokanten Schlaf-Projekt heraus, in einer Zeit um die Jahrtausendwende, die den Schlaf einerseits als störenden Zeitfresser eliminiert, zugleich jenen notwendigen Rest in seiner Unverwertbarkeit bricht: ein Jahr schlafen. Sonst nichts. Im Roman wird damit eine Sehnsucht nach der Rückkehr in eine Idylle formuliert, die es in einer Nonstop-Welt, wie wir sie inzwischen kennen, gar nicht mehr geben kann.
Vier Jahreszeiten durchschläft die namenlose Hauptfigur in einem Luxusapartment in New York City, mit dem Ziel und der Hoffnung eines Neustarts. Sie leidet dabei an einer Wirklichkeit, die von Leere und Nichtigkeiten durchzogen ist, in die sie aber unweigerlich und permanent zurückfällt. Die eigene Ruhigstellung in Form des Winterschlaf-Projekts, die pure desillusionierte Resignation, bietet sich scheinbar als einzige (Er-)Lösung, und mutiert zur Verweigerungs- und Anti-Haltung-Strategie, welche sich an einer sozialökonomischen Wirklichkeit zeichnet, die im Verwertungssog einer kommerzialisierten Unterhaltungs- und Beschäftigungsästhetik angesichts ihrer Betäubungsmechanismen immer mehr verschwindet. Ihr Ziel: Zurücklassen – und von vorne beginnen. Aufwachen – und eine neue Welt vorfinden. Der Schlaf und damit auch der Schlafort fungieren dabei als eine Art Reservat, als Refugium. Dem bekannten Dornröschenschlaf gleich, fällt die Protagonistin also in aktiver Passivität in den Schlaf und schläft in ihrem Apartment im Hochhaus wie jene Märchenheldin im Turm. Beide warten auf den ersehnten Retter: Dornröschen auf den Helden in Prinzengestalt, die Protagonistin auf den Schlaf als Heiler seelischer Schäden. Das einem Idyll gleichende Schlafprojekt fungiert bei Ottessa Moshfegh somit als Utopie – und bleibt genau dadurch fiktiv.
Der Schlaf zeichnet dabei unweigerlich die Umrisse einer leisen Vorahnung, eines irgendwann in der Zukunft eintretenden und unabdingbaren Moments des Erwachens, des radikalen Umbruchs, das Neuanfänge einfordert. Erwachen ist, so gesehen, eine Form des Plötzlichen, eine Form der Wandlung, Verwandlung – und damit mehr als eine natürliche, rein körperliche Notwendigkeit. Man erwacht nicht nur physisch, sondern auch mental – und damit zugleich im übertragenen Sinne. Doch dieses Erwachen wird bei Ottessa Moshfegh negiert. Die Protagonistin plant zwar das große Erwachen nach einem Jahr der Ruhe und Entspannung, erklärt jenes Erwachen jedoch zum Zukunfts-Moment und verschiebt es immer wieder neu. Denn „der Schlaf“, so berichtet uns die Protagonistin, „hatte meine schlechte Laune, meine Ungeduld, meine negativen Erinnerungen noch nicht geheilt“. In Anbetracht der Tatsache, dass die Wirklichkeit den Schlaf bei Moshfegh in der Retrospektive als Utopie entlarvt – „ich glaubte, er würde mir das Leben retten“ – und trotz aller Verweigerung dennoch vereinnahmt, zeigt sich die Unausweichlichkeit eines tatsächlichen Erwachens. Doch dieses Erwachen ist schwerer als gedacht:
„Aber aus diesem Schlaf wieder aufzuwachen war eine Qual. Mein Leben zog in der unangenehmsten Art und Weise vor meinem inneren Auge an mir vorbei, mein Kopf füllte sich wieder mit den ganzen langweiligen Erinnerungen, mit sämtlichen banalen Details, die mich an den Punkt gebracht hatten, an dem ich jetzt war.“
Dass ein Aufwachen also notwendig ist, dass es irgendwann zu einem Muss wird, da sich das Schlafprojekt sonst in einer unendlichen Absurdität verlaufen würde, macht sich schon in Ludwig Tiecks Novelle Des Lebens Überfluss bemerkbar. Während seine Protagonistin Klara sich noch die Frage stellt, was „diese sogenannte Zukunft“, die da immer näher rückt, wohl bringen wird – „denn diese sogenannte Zukunft rückt doch irgendeinmal in unsre Gegenwart hinein“, beruft sich die Hauptfigur bei Ottessa Moshfegh vielmehr auf die Gegenwart und erkennt allein im Sinn des Schlafaktes und dem damit einhergehenden Ausblenden der Realität den einzigen Sinn, der wie von selbst alles, nach einem Jahr der Ruhe und Entspannung, zum Guten wenden lässt.
II. The Great Awakening
Dass das Erwachen auch im historischen Kontext verstanden werden kann – man denke dabei an das Große Erwachen (The Great Awakening), die protestantische Bewegung ab 1730 innerhalb der britischen Kolonien in Amerika, die eine erneute Begeisterung für das Christentum intendierte – und sogar im politischen Sinne, ist dabei nicht neu. Mit Wahlparolen wie „Deutschland erwache!“ führten bereits die Nationalsozialisten Propaganda in den frühen 1930er-Jahren. Und ganz aktuell in Corona-Zeiten sprechen Politiker*innen wie der CSU-Parteivorsitzende Markus Söder im Wahldebakel vom sogenannten wake-up-call – einem dringend notwendigen Weckruf für die Union und die anstehende Bundestagswahl, die „nicht mit dem Schlafwagen“ zu gewinnen sei. Dieser metaphorische und zugleich bildliche Ausdruck für ein Geschehnis oder einen Vorfall, das aktiv Änderungen, Umbrüche oder Maßnahmen einfordert, zeigt: der wake-up-call ist eigentlich auch ein call-to-action. Schlafen und Erwachen stellen damit keine Gegensätze, sondern zwei symbiotische Zustände dar.
Auch bei Ottessa Moshfeghs Protagonistin findet am Ende ihres Schlafprojekts eine Art wake-up-call statt, der die Zeitwende eines aufkommenden Terrors nicht nur anleitet, sondern mit 9/11 ein Gesicht bekommt. Das Erwachen aus dem Winterschlaf wird am Ende des Romans mit dem Einsturz des World Trade Centers plötzlich in den politischen Diskurs erhoben. Und da ist sie: die schöne, neue Welt, die schon Aldous Huxley in seinem gleichnamigen Roman dystopisch und zynisch formuliert, und in die die Hauptperson nun, nachdem sie monatelang nur handlungsunfähig schlief, erwacht. Die Allegorie des Terrors durch das Bild des 9/11 offenbart dabei nicht nur eine bis dahin verleugnete Gegenwart, sondern zeigt zugleich auch die Illusion in Form einer entsprechenden Selbsttäuschung einer Wirklichkeit, der wir als Gesellschaft selbst zuteil sind und selbst zu verantworten haben. Mit ihrem Schlaf-Projekt und dem sinnbildlichen Augenverschließen, Nicht-Sehen-, Nicht-Hören- und Nicht-Wissen-Wollen von Realitäten, macht die Protagonistin auf etwas aufmerksam, was heute inzwischen überall in der westlichen Welt zu finden ist: Die Gesellschaft hat es mittlerweile geschafft, sich selbst einzuschläfern. Ein künstlicher Dornröschenschlaf.
Im Roman fungieren insbesondere Psychopharmaka, synthetische Drogen, Alkoholsucht oder auch vermeintlich harmlose Zigaretten bis hin zu exzessivem Fernsehkonsum als jene Betäubungsmittel, die Einfluss auf unseren Bewusstseinszustand und auf unsere Wahrnehmung haben. Die tägliche Dosis Beruhigung befördert die Protagonistin geradewegs in einen unaufhörlichen sleep mode. Die Wirklichkeit wird geleugnet durch den Entzug jener Realität, die es künstlich wegzuschlafen gilt. Jener schläfrige Zustand bei Ottessa Moshfeghs Protagonistin bringt damit die Erschöpfung, die Enttäuschung und die Melancholie einer postrevolutionären Epoche zu Tage, die im Nonstop-Modus einerseits keinen Schlaf, keine Ruhe mehr findet, andererseits in genau diesem Nonstop-Modus wie betäubt, wie schlafend verharrt und längst den Blick aufs Wesentliche, auf sich selbst verloren hat.
Die Verdrehung einer im übertragenen Sinne gemeinten Bedeutung zeigt sich bei Ottessa Moshfegh somit im wörtlichen Sinne; Einschlafen und Aufwachen werden im Roman durch das sinnbildlich Gesprochene verkörpert. Wird der Schlaf bei Moshfegh zwar durchaus als notwendige Erholung proklamiert, in einer Welt, die nonstop wach scheint, wird er dennoch ebenso stark devalviert, als im Buch eine Welt gezeichnet wird, die sich in jenem wachen selbstzerstörerischen Akt so berauscht, dass diese schon wieder ins absolute ironisch verdrehte Gegenteil, nämlich in einen lethargischen, schläfrigen Bewusstseinszustand kippt, aus dem es wiederum schier kein Aufwachen mehr geben kann.
Der Roman spiegelt literarisch jene gesellschaftliche Lethargie, die sich am Ende extrem zuspitzt und in seiner Utopie aggressiv gebrochen wird. So geschieht nicht nur das einschneidende, aus dem Nichts geschehende, schreckliche Ereignis um die Jahrtausendwende mitten in einer scheinbar heilen und friedlichen westlichen Gesellschaft, welches dabei die gesamte Welt erschüttern lässt, sondern wird in Mein Jahr der Ruhe und Entspannung wiederum ad absurdum geführt, als die Protagonistin ihre Freundin Reva auf einer Übertragung der Geschehnisse am 11. September 2001 auf dem Bildschirm eines Fernsehgeräts zu erkennen glaubt. Obwohl wir spätestens hier davon ausgehen, dass die Protagonistin nun final erkennen sollte, dass Weiterschlafen ab diesem Punkt schlichtweg unmöglich ist, wird dieses fürchterliche und reale Geschehnis hier einfach umgepolt – es wird zu einem digital erlebbaren „Event“, dessen Wirklichkeitsgehalt durch das Fernsehen nur mehr als aufscheinendes Moment einer Realität funktioniert, die vom Fernsehen längst abgelöst wurde. Die unterschätzte Macht des Fernsehens zeigt sich bei Ottessa Moshfegh hier in seiner stärksten Dimension: steht zu Beginn noch die Betäubung durch das Fernsehen als einer der „Möglichmacher“ ihres Schlafprojektes im Zentrum, wird am Ende durch jenes Fernsehen die Vorstellbarkeit einer „wahren Welt“, und damit auch die Notwendigkeit des Aufwachens beseitigt und als überflüssig proklamiert. Was übrig bleibt, ist die Übertragung einer Realität in eine mediale Wirklichkeit, die in seinem Wahrheitsgehalt verschwindet und zur Fiktion wird. So beobachtet die Protagonistin den Einsturz des World Trade Centers wie einen Film. Das Verweigern der „wahren“ Realität lässt somit jene blinde Lebensweise einer Gesellschaft in einer Sinnlosigkeit erstrahlen, die durch den Sprung von Reva aus dem World Trade Center aufgeschüttelt wird. Das nicht rechtzeitige beziehungsweise zu späte Erwachen zeichnet dabei nicht unbedingt Schrecken, sondern vielmehr einen Verlust, der sich, da real und eben kein Film, jeglichem Rückwärtsgang verwehrt: „Aber Reva kam bei dem Anschlag ums Leben. Reva gab es nicht mehr.“
So zeigt auch das Ende des deutschen Spielfilms Unter dir die Stadt (2010) das gerade erwachte Affärenpaar im Bett eines Hotelzimmers, während auf der Straße die Massenpanik losgeht. Auch im Spielfilm Die Träumer (2003) findet sich ein apokalyptischer Versuch, der mit dem Erwachen in Gewalt, Angst und Panik endet und vor den Unruhen von 1968 in Paris steht. Das bildliche Aufwachen verkörpert damit einerseits die Problematik einer zugrunde gehenden Welt und lässt zugleich die Idee einer Reformation entstehen, die in ihren Keimen jedoch oft erstickt. Insbesondere in den USA ist endzeitliches Denken stark präsent. Diesen Charakter greift auch Ottessa Moshfegh auf und formiert ihn als Paradigma einer politischen Bewegung.
„Ich konnte die Düsenflieger schon über mich hinwegdonnern hören, hörte das Grummeln in der Atmosphäre meines Gehirns, mit dem alles aufreißen und die Zerstörung in Rauch und Tränen verschwinden würde. Ich wusste nicht, wie das neue Ich aussehen würde. Das machte nichts.“
So siedelt sich ihr Roman (oder vielmehr das Schlafprojekt) an zwischen einer endlichen Zeit der Verwüstung und Selbstzerstörung, die in ihrer Bedeutung als kapitalistische Konzeption vom Ende der Welt zu einer modellierten Transformation findet, am Ende beziehungsweise am Anfang eines Jahrtausends, das in seinem politischen Akt nicht stärker aufgeladen sein könnte; und zugleich einem erhofften Neuanfang, womit, durch das finale Erwachen der Protagonistin im Frühherbst 2001, auch ganz Amerika zwangsläufig erwachen muss. Aber ist ein tatsächliches Erwachen überhaupt möglich?
III. „Those who don’t want to change, let them sleep“ (Rumi)
Am Ende des Romans wird, mit beinah purer Ironie, deutlich, dass statt der Protagonistin, deren Freundin Reva – vom bisherigen Drang nach Perfektion „schlafend“ gehalten – erwacht. Der Untergang, der jener Freundin, „die aus dem achtundsiebzigsten Stockwerk des Nordturms springt“, wortwörtlich vor Augen steht, weist dabei ein Erwachen in grotesker, beinah makabrer Form auf, das nur durch den Sprung in den Tod möglich wird. Und auch erst jetzt, an dieser Stelle im Roman zum ersten Mal, im Anblick ihrer in den Tod springenden Freundin, vermag die Protagonistin Revas Schönheit und deren wahres Ich zu erkennen. Zugleich deutet sie auch durch jenen Sprung eine Klarheit, die sie – von Revas bisher von oberflächlicher Schönheitsbesessenheit und grenzenlosem Optimierungswahn getrübten, und nun, durch den Sprung ins Aus, klaren Blick für die Realität, – Ehrfurcht ergreifen lässt: „nicht weil sie wie Reva aussieht und ich glaube, dass sie es ist, oder fast, und nicht weil Reva und ich befreundet waren oder weil ich sie nie wiedersehen werde. Sondern weil sie schön ist. Da ist sie, eine Frau, die ins Unbekannte taucht, und sie ist hellwach.“
Die Freundin, die alles andere als schlafende Tage verbrachte im „Jahr der Ruhe und Entspannung“, stirbt. Die Hauptfigur überlebt. Als Dauerschlafende entkommt sie dem harten Schicksal des Terroranschlags. Nun stellt sich hier jenes Paradoxon, welches das ambivalente Bild des Schlafs als Glücksbringer und zugleich Unglücksbringer widerspiegelt, und das – einerseits durch den Zustand des Schlafens – ihr das Leben rettet, andererseits der Freundin, die nicht rechtzeitig erwachte, das Leben nimmt, und die Protagonistin zugleich weiterhin im betäubten Zustand gefangen hält. Denn vollständig erwachen tut sie nicht. Stattdessen finden sich Reste und Spuren eines gescheiterten Schlafs, der in seiner Transformation zum Wachzustand verharrt. Dieses Erwachen gleicht also weiterhin mehr dem Zustand einer Trance, eines Halbschlafs, der zwischen Realität und Traum wechselt. Das permanente Changieren dieser beiden Zustände – des Wachzustands und des Schlafzustands – mündet irgendwann in einer Verschmelzung. Und so bemerkt die Protagonistin, dass „wenn ich wach war, dann nicht richtig, sondern in einem trüben, wirren Zwischenstadium, nicht ganz Realität, nicht ganz Traum.“
So fällt sie ständig „erschöpft in einen unruhigen Halbschlaf, nie mehr als einen Zentimeter vom Bewusstsein entfernt“. An anderer Stelle heißt es: „Ewigkeiten verstrichen in Halbstundensegmenten. Es kam mir vor, als würde ich diese Serien mehrere Tage am Stück gucken, ohne je einzuschlafen. Gelegentlich verwechselte ich Schwindel und Übelkeit mit Schläfrigkeit.“
Im großen Schlafprojekt der Protagonistin zeigt sich daher ein Vorher und Nachher – gleich der historischen Spaltung nach 9/11, „and the fact that there was one city before and one city after“, wie es die Moderatorin Lena Dunham im Gespräch mit der Autorin formulierte, – nivelliert jene Unterschiede jedoch gerade dadurch, dass der Zustand des betäubten Verharrens nach wie vor existiert. Gegen jegliche Erwartungshaltungen der Leser*innen, dass auch die Protagonistin eines Tages vollständig erwachen wird, stellt sich am Ende eine ernüchternde Stagnation ein; das Moment eines vollständigen Entzugs aus der Realität misslingt ebenso, wie das vollständige Erwachen. Und die erwartete Heilung der Hauptakteurin, das erwartete goldene Zeitalter, bleibt aus.
IV. Morgen wache ich auf
„Wache endlich auf“ lautet jene alte Redewendung, die uns sinnbildlich zu verstehen gibt, sich der Realität zu stellen. Und aktiv zu werden. Im Weltdiskurs 9/11 zeigt sich diese Problematik und Notwendigkeit in seiner aufklärerischen Position. In Mein Jahr der Ruhe und Entspannung stellt sich somit das Schlafprojekt als Verschlafen einer zeitgenössischen sozialökonomischen Wirklichkeit dar, dessen metaphorischer Topos des Erwachens nicht mehr nur im Roman, sondern auch im gegenwärtigen Kontext unserer Zeit funktioniert. Als Ausdruck einer Kritik an einer gesamten Gesellschaftsordnung besticht dieser Schlaf im Roman also in seiner Aktualität gerade heute in Zeiten von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen und Herausforderungen, wie der Corona-Krise und ihren Verschwörungsanhänger*innen, Rechtspopulismus, dem globalisierten Kapitalismus mit all seinen Problemen, Klimakatastrophen und Atomabkommen. Auch in der Vergegenwärtigung unseres alltäglichen Handelns offenbart sich das Aufwach-Motiv – etwa in Bezug auf unsere immerwährende mediale Präsenz und selbstverständlich gebilligte Datenkontrolle, unser Konsumverhalten – von der exzessiven Smartphone-Nutzung über Lebensmittelverschwendung und Lebensmittelqualität bis hin zu Netflix & Co., die uns mit den besten Filmen, den atemberaubendsten Ausflugszielen, den meistgefragtesten Trends versorgen. Ob der Verwirrung und Überflutung an Möglichkeiten geschuldet, oder einfach der Tatsache, dass wir uns in einem ständigen Produktivitäts- und Konsumrausch befinden: Das entscheidende Kriterium unserer durchkommerzialisierten Alltags- und auch Schlafpraktik des permanenten „Müssens“, gefolgt von einer immer größer werdenden Liste von sozialen Anforderungen, ist dringend reformbedürftig. Die eigene Verantwortung, die wir doch eigentlich haben könnten, haben wir längst abgegeben. Was wir nicht hören wollen: die Glocken, die schon Bruder Jakob überschlief. Doch wie können wir das ändern?
„Bruder Jakob, Bruder Jakob,
Schläfst du noch? Schläfst du noch?
Hörst du nicht die Glocken?
Hörst du nicht die Glocken?
Ding dang dong, ding dang dong.“
Aufwachen, und damit gemeint ist eine Veränderung, ein Umdenken, ein bewussterer Umgang mit uns selbst, so zeigt sich, die unabdingbar wurde. Die Realität, die in ihrer Bedeutung und zukünftigen Auswirkung nicht einfach (weiter) ignoriert werden kann, fordert ein Bewusstsein und eine Auseinandersetzung mit dergleichen ein. Doch die Kraft dazu, überhaupt aufwachen zu können, finden wir nicht im Wachzustand. Aufwachen kann nur, wer nicht permanent wach ist, kann nur, wer schläft. Das Bewusstsein, das uns durch das Aufwachen ermöglicht wird, wird nicht im wachen, sondern vielmehr im unbewussten Zustand generiert. Und da sind wir wieder: bei unserem ambivalenten Verhältnis zum Schlaf. Denn während die einen nicht nur ihr halbes Leben im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne verschlafen, schaffen es die anderen nicht, sich jene Ruhe, jene Erholung und jenen Stillstand zu gönnen, der, um überhaupt aufwachen zu können, so notwendig geworden ist. Dabei ist es der Schlaf, der uns in seinem Zustand des Stillstands zu mehr Stabilität verhilft, und gerade im bewussten Umgang mit dem Unbewussten neue Zugänge, neue Denkweisen und eine Aktivität erst ermöglicht. Nur wer ausreichend schläft, kann aufwachen, erwachen, wieder wach(sam) sein. Mein Vorschlag also wäre: Schlafen wir mehr. Und lernen wir, rechtzeitig aufzuwachen und dieses Wechselspiel beizubehalten.
LENA WIESENFARTH hat Germanistik und Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert, wo sie zum Verhältnis von Schlaf und Arbeit forschte.
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