VERONIKA WIESER geht der Frage nach, welche Rolle außergewöhnliche Naturereignisse in einer Zeit spielten, deren Bild lange durch ‚Meistererzählungen‘ wie vom ‚Fall Roms‘ oder der ‚Völkerwanderungszeit‘ geprägt war. Sie beleuchtet in diesem Zusammenhang, wie damalige apokalyptische Vorstellungen Umbrüche und Wandel thematisierten. Welche Strategien der Krisenbewältigung lassen sich im damaligen Umgang mit solchen Klimaphänomenen erkennen? Und inwieweit können endzeitliche Deutungsmuster für die heutige Klimadebatte relevant sein?

Monty Python and the Holy Grail (1975), Filmstill © Park Circus Group
I. Einleitung
Es ist kalt, düster und regnet im Mittelalter, und zwar fast ständig. Das ist zumindest der Eindruck, den man erhält, wenn man Filme ansieht, die im Mittelalter spielen – wie den Klassiker von Ingmar Bergman Das Siebente Siegel (1957) mit seinen vielen apokalyptischen Referenzen oder jüngere Produktionen wie The Northman (2022). Selbst Komödien wie Monty Python and the Holy Grail (1975) kultivieren die Vorstellung vom verregneten, schlammigen Mittelalter.
Das Bild vom schlechten Wetter deckt sich mit der Vorstellung vom ‚dunklen Mittelalter‘, das sich als ‚Übergangszeit‘ zwischen Antike und Renaissance lange hartnäckig gehalten hat. In der einsetzenden Moderne hat sich das Bild der vermeintlich finsteren Epoche, mit ihren Anfängen im ‚Untergang Roms‘ (Edward Gibbon, 1776–1788) und in der ‚Völkerwanderungszeit‘ (Michael Ignaz Schmidt, 1778), verfestigt und ist zu einer eigentümlichen Faszination und zum Projektionsort für mythische Alterität geworden.
Heute hat sich die geschichtswissenschaftliche Wahrnehmung des Mittelalters erneut gewandelt und ist differenzierter geworden. Nach wie vor aber gestalten aktuelle Interessen – vor allem nach den Krisen der letzten Jahre – den Blick auf diese Epoche und ihre Endzeitstimmungen wesentlich mit. Besondere Aufmerksamkeit erhalten aktuell Fragen nach den Faktoren für die Destabilisierung gesellschaftspolitischer Systeme: nach den Ursachen des Zusammenbruchs des weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert, nach den Auswirkungen extremer Wetterphasen wie der ‚Spätantiken Kleinen Eiszeit‘ (ca. 536–660 und erneut um 800) sowie von Epidemien wie der ‚Justinianischen Pest‘ (ab 541).
Welche Auswirkungen hatten Wetterextreme – außergewöhnliche Kälteperioden oder überdurchschnittliche Niederschläge – auf Stabilität und Wandel damaliger Gesellschaften? In welchem Verhältnis standen solche Klimaveränderungen zu den größeren Migrationsbewegungen der sogenannten ‚Völkerwanderungszeit‘, etwa der der Hunnen oder Awaren, die aus den Steppengebieten Zentralasiens bis nach Mittel- und Westeuropa gelangten? Und in welchen historischen Kontexten führten solche Entwicklungen zu einer ‚apokalyptischen‘ Krise, zu einer kollektiven Erwartung des Weltendes und mit welchen Konsequenzen?
II. Der mittelalterliche Kosmos
Das Interesse an Naturphänomenen und Himmelserscheinungen blickt auf eine lange Tradition zurück. Seit der Antike verwiesen solche Ereignisse immer auch auf herrschaftliche Zustände: Erdbeben, Kometen, Sonnen- und Mondfinsternisse fanden sich häufig direkt mit aktuellem politischem Geschehen in Beziehung gesetzt: „Niemals hat in Rom die Erde gebebt, ohne dass dies ein Vorzeichen eines künftigen Ereignisses gewesen wäre“, hielt Plinius der Ältere in seiner Naturkunde fest.
Schienen Umwelt- mit Herrschaftsgeschichte unmittelbar zu korrelieren, galten vor allem Kometen als Königszeichen schlechthin: Ovid berichtete in seinen Metamorphosen von einem Kometen, der nach der Ermordung Caesars im Jahr 44 v.u.Z. erschienen sei und als Zeichen für dessen ‚Vergöttlichung‘ interpretiert wurde; der Stern von Bethlehem bewegte drei Könige zur Suche nach dem neugeborenen Messias (Mt 2,1.9; z. B. Basilica Sant’Apollinare Nuovo,Ravenna) und der Halleysche Komet findet sich auf dem Teppich von Bayeux, wo er im Zusammenhang mit der Eroberung Englands durch die Normannen im Jahr 1066 n.u.Z. erscheint.

Teppich von Bayeux, 2. Hälfte 11. JH. © Wikimedia Commons
Der Blick in den Himmel diente der Orientierung. Im christlichen Kontext war er der Kommunikationsraum zwischen Gott und den Menschen, mit der Bibel und ihren Erzählungen über Plagen, Himmels- und Wunderzeichen als Bezugsrahmen. Dabei wurden keineswegs alle ungewöhnlichen Himmelsphänomene und Wetterextreme automatisch mit der Endzeit in Verbindung gebracht, sondern allgemein als Strafe Gottes oder als ein Zeichen interpretiert, das auf die heilsgeschichtliche Bedeutung bestimmter Ereignisse verwies.
Gleichzeitig standen seit der Christianisierung solche Phänomene immer auch in Verdacht, Zeichen im Endzeitverlauf zu sein (Mt 24,7.29–30.38–39; Offb 6,13; 8,6–13). So notierte der Mönch Rodulfus Glaber (gest. 1047) in seiner Chronik kurz nach der ersten Jahrtausendwende – ein Zeitraum intensiver Endzeitängste – eine Fülle merkwürdiger Erscheinungen, die er als apokalyptische Vorzeichen deutete. Die Zunahme von abweichenden Glaubenslehren, Hungersnöte und Berichte über Kannibalismus bettete er in eine Geschichte von endzeitlichem Niedergang ein.
Aus demselben Zeitraum ist die Frage König Roberts II. (reg. 987–1031) überliefert. Er befragte die Bischöfe seines Reichs nach der Bedeutung eines ‚Blutregens‘ (gewöhnlich hervorgerufen durch Saharastaub oder Sahelwinde), der in Südfrankreich beobachtet worden war. Dieser dauerte drei Tage an und ließ sich auch nicht – so berichten die damaligen Quellen – von Holz und Steinen abwaschen. Die Bischöfe waren einhellig der Auffassung, dass der Blick in die Geschichte zeigen würde, dass ein ‚Blutregen‘ immer ein Vorzeichen für bevorstehende Kriege wäre.
III. Himmelsphänomene als Zeichen politischen Wandels
Das Zusammenspiel von Naturkatastrophen und den Katastrophen des politischen Lebens war, gemeinsam mit der christlichen Zeitrechnung, der maßgebliche Nährboden apokalyptischen Denkens. Um die Zeiträume von 500, 800 und 1000 traten verstärkt apokalyptische Erwartungen und Interpretationen von Geschichte auf, die von Berechnungen der Weltjahre – man ging von insgesamt 6.000 – begleitet wurden.
Die Weltchronik des Hydatius (gest. um 469), Bischof von Aqua Flaviae (Chavez im heutigen Portugal), ist ein Text, der stark von apokalyptischer Tonalität durchdrungen ist. Er erzählt die Geschichte des weströmischen Reichs bis zum Jahr 469 und berichtet über die Entwicklungen, die zum graduellen Zusammenbruch des politischen Systems und zur Errichtung der neuen barbarischen Königreiche – der Westgoten, Franken und Vandalen – führten.
Hydatius war überzeugt, dass das Ende der Welt bald bevorstehen werde. Genauer gesagt erwartete er das Ende exakt am 27. Mai 482. Er selbst sah seine Aufgabe als Historiker darin, die Ereignisse der Endzeit zu dokumentieren. Dafür standen die Bücher Daniel und Ezechiel sowie die zahlreichen Plagen der Johannes-Offenbarung als eine Art Blaupause zur Verfügung, durch er die Ereignisse prophetisch einordnen konnte. Die apokalyptische Erzählung begann für ihn in den Jahren 409/410, als barbarische Verbände in die römische Provinz Hispania einfielen und diese verheerten (nach Ez 14; Klgl 4; Offb 6):
„Während die Barbaren durch Spanien tobten, [… wütete] eine schreckliche Hungersnot so sehr, dass unter dem Eindruck des Hungers menschliche Körper von menschlichen Wesen verzehrt wurden, und dass auch Mütter sich von den getöteten und sogar von ihnen gekochten Körpern ihrer Kinder ernährten. Wilde Tiere, an den Leichen der durch Schwert, Hunger und Seuche Getöteten gewöhnt, brachten alle diejenigen Menschen um, die noch einigermaßen kräftig waren. […] Auf diese Weise wurden durch die vier Plagen des Eisens, des Hungers, der Seuche und der wilden Tiere, die überall auf der Welt wüteten, die Verkündungen erfüllt, die der Herr durch seine Propheten vorausgesagt hatte.“[1] (a. 410, S. 101)
Nicht nur Kämpfe, Seuchen und Hungersnöte erzählen von den Gräueln der Endzeit, sondern auch der völlige Zusammenbruch moralischer Werte am Beispiel der Mütter, die ihre eigenen Kinder aßen.
Für die apokalyptische Interpretation der Gegenwart bot sich für Hydatius der Blick in den Himmel an. Insgesamt 28 Vorzeichen wurden von ihm dokumentiert, darunter mehrere Sonnen- und Mondfinsternisse, Kometen, Erdbeben und ein Nordlicht. Auffallend ist, dass sich die Beschreibungen der Himmelserscheinungen ab den 450er Jahren häufen. In diesem Zeitraum starben viele wichtige politische Akteure und das Machtgefüge in Westrom begann sich deutlich zugunsten der barbarischen Königreiche zu verschieben. Dies schien sich für den Autor in den Naturphänomenen zu spiegeln.

Offb 8, die 1. Posaune, Saint Sever-Handschrift des Apokalypsekommentars von Beatus von Liébana, 37v, ca. 11. Jh. © Wikimedia Commons
Als Hydatius im Bericht in seine eigene Zeit kam, mehrten sich die apokalyptischen Zeichen. Er berichtete von Blut, das „wie bei einem Brunnen“ aus dem Boden quoll, von „zerhackten Fleischstücken, die mit Regen vermischt vom Himmel“ fielen, vom Tod zweier junger Männer, „die am Fleisch zusammengeheftet waren und fest aneinanderklebten“. Im Jahr 462 erschien ein Mond, der sich „begleitet vom Krähen der Hähne gänzlich in Blut“ verwandelte und die Stadt Antiochia in Isaurien (in der heutigen Türkei) versank so, dass nur „noch die Spitzen der Türme aus der Erde“ hinausragten.
Diese Beschreibungen sind eng an die biblischen Prophezeiungen der Johannes-Offenbarung (Offb 6 und 8) angelehnt und sollen Gottes nahes Gericht ankündigen. Hydatius erwartete das Ende der Welt nicht als zukünftiges Ereignis – er war überzeugt, bereits in der Endzeit zu leben, die von Chaos und Gesetzlosigkeit geprägt sein werde (nach 2 Thess 2,1–6).
IV. ‚Spätantike Kleine Eiszeit‘ und Justinianische Pest
Nicht alle der von Hydatius beschriebenen Zeichen lassen sich aus heutiger Perspektive eindeutig nachvollziehen. Doch für ihn stand ohnehin nicht die naturwissenschaftliche Beobachtung im Vordergrund, sondern die mögliche biblische Deutung des Geschehens. Heute hingegen erweitern Proxy-Methoden wie meteorologische Analysen, Eisbohrkernuntersuchungen oder Baumringmessungen die historische Quellenanalyse. Sie ermöglichen es, vergangene Himmels- und Wetterphänomene differenzierter zu rekonstruieren und daraus Rückschlüsse auf historische Umbrüche und apokalyptische Deutungsmuster zu ziehen.
So wissen wir mittlerweile, dass die zeitgenössische Wahrnehmung schlechten Wetters im Frühmittelalter keineswegs bloß auf Vorurteile zurückzuführen ist. Vielmehr belegen naturwissenschaftliche Daten eine klimatisch instabile Phase, die im 6. Jahrhundert einsetzte und bis in das 9. Jahrhundert andauerte. Diese deutliche Kälteperiode, die als ‚Spätantike Kleine Eiszeit‘ bezeichnet wird, hatte konkrete Gründe, nämlich mehrere Vulkanische Aktivitäten in den 530er und 540er Jahren. Dabei gelangten mehr Aerosole in die Atmosphäre als beim Ausbruch des Tambora 1815 auf Indonesien, der als eine der größten beobachteten Eruptionen in der aufgezeichneten Geschichte eingeschätzt wird und globale Konsequenzen hatte – 1816 war das zum Sprichwort gewordene ‚Jahr ohne Sommer‘.
Im 6. Jahrhundert kam es nach den Vulkanausbrüchen zu einer verlängerten Kälteperiode mit einer deutlichen Minimierung der Sonnenaktivität, mit Temperaturschwankungen von bis zu minus 2–2,5 Grad. Das bedeutete mehr Regen und Schnee (auch im Sommer), Überschwemmungen, Ernteausfälle und Hungersnöte. Damalige Historiker wie auch archäologische Analysen bestätigen unsere heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Diese beschrieben die Verdunkelung der Sonne, die nicht nur kurz, wie bei einer Sonnenfinsternis, sondern lange andauerte. „Die Sonne,“ – so schrieb Prokopios, ein hoher kaiserlicher Beamter in Konstantinopel (heutiges Istanbul), war „ohne Strahlkraft, leuchtete das ganze Jahr hindurch nur wie der Mond […] Seitdem das Zeichen zu sehen war, hörte weder Krieg noch Seuche noch sonst ein Übel auf, das den Menschen den Tod bringt.“
Für einige Zeitgenossen waren das Warnungen Gottes, für andere, zurückblickend, Vorzeichen für die kurz darauf einsetzende Pestepidemie. In diesen Zeitraum fällt die erste nachweisbare große Epidemie, die ‚Justinianische Pest‘, benannt nach dem oströmischen Kaiser Justinian I. (reg. 527–565). Erstmals fassbar trat die Pest im Jahr 541 in Ägypten auf, breitete sich rasch im gesamten Mittelmeerraum, in Nordafrika und Vorderasien aus, erreichte Italien, das heutige Frankreich und kehrte bis etwa 750 in mehreren Wellen immer wieder zurück. Obwohl der erste Ausbruch bereits 544 offiziell für beendet erklärt wurde – Kaiser Justinian versuchte, damit die explodierenden Preise und Löhne im Reich wieder zu regulieren –, kann man von einer sehr hohen Opferzahl ausgehen. Nicht zu übersehen ist dabei, dass die Ausbreitung der Seuche durch die Auswirkungen der Kälteperiode und der damit einhergehenden Hungersnöte begünstigt wurde.
In den Zeitraum der ‚Spätantiken Kleinen Eiszeit‘ fielen noch andere bedeutende gesellschaftlich-politische Umbrüche: So siedelten sich die letzten Gruppen der ‚Völkerwanderungszeit‘ in Europa dauerhaft an. Dazu zählen die Langobarden in Italien in den 560er Jahren sowie slawische Verbände auf dem Balkan. Und das Vorrücken der Awaren aus dem nördlichen Schwarzmeerraum in Richtung des oströmischen Reichs in den 550er Jahren hatte vermutlich auch mit Dürreperioden der vorangegangenen Jahre zu tun.
Interdisziplinäre Perspektiven eröffnen hier neue Einsichten, bergen aber zugleich die Gefahr vereinfachender Narrative: etwa, die Hunnen zu „bewaffneten Klimaflüchtlingen zu Pferd“ (Kyle Harper, „Fatum“, 2020) zu stilisieren. Schlechtes Wetter und Epidemien allein führten keineswegs zwangsläufig zu politischen Umstürzen oder Machtwechseln. Klimatische, demografische und epidemiologische Faktoren wirkten stets in einem Wechselspiel, konnten tiefgreifende Umbrüche begleiten oder beschleunigen, ohne aber monokausal wirksam zu sein.
V. Papst Gregor der Große und das Jüngste Gericht
Apokalyptisches Denken war weit mehr als die bloße Angst vor dem Weltende. Es war eine Art und Weise des Denkens, des Erzählens und, das ist wichtig, konnte handlungsleitend wirken. Ein prägnantes Beispiel bietet Gregor der Große, Papst von 590 bis 604. In seinen Schriften verdichtet sich der Eindruck göttlicher Strafe und eines unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Gerichts angesichts der Verwüstungen Italiens durch Überschwemmungen, Seuchen und Hungersnöte, Folgen von Kriegen und der ‚Spätantiken Kleinen Eiszeit‘.
Der unmittelbare Hintergrund dazu war folgender: In den Jahren 589/590 wurde Rom von einer verheerenden Tiber-Überschwemmung heimgesucht. Gebäude stürzten ein, große Mengen an gelagertem Getreide wurden zerstört. Zeitgenössische Berichte erzählen, dass die Fluten einige bemerkenswerte Trümmer mit sich führten – darunter sterbende Riesenschlangen und, besonders auffällig, den Kadaver eines Drachen. Auf die Flut folgte bald die Beulenpest. Der amtierende Papst starb an der Seuche, Gregor wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Sein Amtsantritt fiel in ein Jahr, das der Bevölkerung als annus horribilis, als Schreckensjahr, erschienen sein muss.
Gregor deutete das Zusammenspiel von Naturkatastrophen, Himmelszeichen, Krieg und Seuche als endzeitliche Warnung. Seine Antwort auf diese Katastrophen war eine gemeinschaftliche und ist ein gutes Beispiel dafür, wie man eine Menge mobilisieren und dabei Furcht kanalisieren konnte. Er ließ die Bevölkerung Roms aus allen Stadtteilen in einer großen Prozession zusammenkommen, um für ihre Sünden öffentlich Buße zu tun. Der Umzug dauerte mehrere Tage, nicht wenige Teilnerhmer*innen brachen dabei entkräftet zusammen oder verstarben sogar. Schließlich soll dann der Erzengel Michael, der Gregor über dem Mausoleum Kaiser Hadrians erschien (heute daher ‚Engelsburg‘), das Ende der Seuche verkündet haben.

Papst Gregor I. führt eine Prozession zur Engelsburg in Rom an. Aus: Très Riches Heures du Duc de Berry, MS 65, Musée Condé (Chantilly), fol. 71v. © Wikimedia Commons
Auch bei anderen, ähnlichen Ereignissen stellte sich für Gregor der Schutz einer höheren Macht, durch Engel oder Heilige, als wirksam heraus. Als kurz zuvor, im Jahr 589, die Stadt Verona von der Etsch überflutet worden war, hatten die Wassermassen die Kirche des Heiligen Zeno eingeschlossen und waren über die Kirchenfenster hinaus angestiegen. Wie durch ein Wunder aber waren sie an der geöffneten Türschwelle stehengeblieben, als ob „dieses dünne und flüssige Element in eine feste Wand verwandelt worden wäre“ (Dialoge III), und die Menschen im Inneren der Kirche blieben verschont.
VI. Krisenmanagement
Im mittelalterlichen Krisenmanagement ging es oft weniger um die Angst vor der Endzeit als vielmehr um deren Bedeutung für die Gegenwart. Diese Auseinandersetzung konnte zwei Richtungen einschlagen: Einerseits ging es darum, die Menschen wachzurütteln und von der Unausweichlichkeit des Endes zu überzeugen; andererseits ging es darum, die Furcht vor dem Ende zu kanalisieren und in einen kontrollierten, gesellschaftlich nutzbaren Rahmen zu überführen. Das Jüngste Gericht galt als unabwendbare Realität – die eigentliche Frage war, wie man sich darauf vorbereiten konnte. Dabei spielten sowohl individuelles als auch gemeinschaftliches Handeln sowie eine Veränderung der Lebensführung eine zentrale Rolle.
Im mittelalterlichen Kontext geht es natürlich um grundlegend andere Phänomene als jene, die heute in Bezug auf den von Menschen verantworteten Klimawandel verhandelt werden. Gleichzeitig bietet die Johannes-Offenbarung ein Bildrepertoire, das sich auch für ökologische Lesarten öffnet. Das Ertönen der ersten vier Posaunen (Offb 8,6–13) schildert eine schrittweise Zerstörung von Natur und Umwelt: Ein Drittel des Landes, der Bäume und des grünen Grases wird verbrannt; das Meer färbt sich blutrot, ein Drittel der Meerestiere stirbt; ein Stern namens ‚Wermut‘ fällt auf Flüsse und Quellen, das Wasser wird bitter und viele Menschen sterben.
Diese Szenarien lassen sich als Spiegel aktueller ökologischer Krisen lesen: Waldbrände, Meeresverschmutzung, Artensterben, Trinkwasserverschmutzung. So kann die Johannes-Offenbarung zu einem Resonanzraum werden – nicht nur für mittelalterliche Ängste, sondern auch für moderne Strategien der Krisenbewältigung. Eine ‚aufgeklärte Apokalyptik‘ zielt dabei nicht auf die bloße Ankündigung des Endes oder der Katastrophe ab, sondern auf eine wissenschaftlich basierte, kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart und die Suche nach Handlungsspielräumen.
In diesem Sinn eröffnen sich produktive Schnittstellen zwischen Theologie, Umweltethik und Naturwissenschaft – für einen Dialog, der Vergangenheitsdeutung mit Gegenwartsverantwortung verbindet. Das kann vielleicht die Gemeinsamkeit sein, bei der sich heutige Klimaaktivist*innen mit mittelalterlichen Apokalypter*innen treffen können, bei der Idee um eine persönliche ethische Haltung und dem Bemühen um eine auch moralisch bessere Welt, die es im Jetzt zu verwirklichen gilt.

Offb 8, die 2. Posaune, El Escorial-Handschrift des Apokalypsekommentars von Beatus von Liébana, 93v, ca. 10. Jh. © Wikimedia Commons
VERONIKA WIESER
ist Historikerin der Spätantike und des Frühmittelalters. Sie ist Expertin für die Kulturgeschichte der Apokalypse und am Institut für Geschichte der Universität Wien tätig. Sie lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: https://www.oeaw.ac.at/imafo/forschung/historische-identitaetsforschung/mitarbeiterinnen/veronika-wieser/
[1] Übersetzung nach: „Chronik des Hydatius. Fortführung der Spanischen Epitome“, hrsg. v. Jan-Markus Kötter, Carlo Scardino. Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike (Leiden 2019)