Romantisierung der Repression: Kulturrelativismus und seine Opfer – VON ARASH GUITOO

Der Beitrag von ARASH GUITOO arbeitet in Erinnerung an den Siebten Oktober 2023 heraus, wie die Romantisierung des „Orients“ und verschiedene Formen des Kulturrelativismus daran beteiligt sind, die Gefahr des Islamismus für „westliche“ Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte herunterzuspielen. Unser Autor betont dabei nachdrücklich, dass dies auch in der muslimischen Welt die säkular-liberalen Kräfte schwächt.

I. Einleitung: Die Problematik des Kulturrelativismus

Judith Butler, die US-amerikanische Denkerin und eine der Ikonen der heutigen progressiven Bewegung in der westlichen Welt, stufte im März 2024 den Terrorakt vom Siebten Oktober 2023,[1] bei dem Zivilist*innen und Kinder wahllos ermordet wurden oder heute noch als Geiseln von der Hamas festgehalten werden, als einen Akt des Widerstands ein.[2] Wer Butler weniger kennt, wundert sich womöglich über ihre unkritische Haltung gegenüber der brutalen Ermordung von Zivilist*innen durch eine reaktionäre terroristische Gruppe. Wer sich jedoch bereits mit ihrer Gedankenwelt vertraut gemacht hat, weiß, dass die Philosophin, die zu den schärfsten Kritikerinnen des liberalen Westens gehört und diesen als dauerhafte Repressionsmaschinerie bezeichnet, große Sympathie für reaktionäre Strukturen außerhalb des Westens hegt. Eine ihrer weiteren Äußerungen, die mich immer wieder besonders empört, ist ihre Position zur Burka. Die eindeutig repressive Funktion der Burka, ein Instrument zur Ausradierung der Frauen aus dem öffentlichen Leben und ein Symbol der Geschlechterapartheid, wird von Butler, angelehnt an Forschungen der Anthropologin und Professorin an der Columbia University, Lila Abu-Lughod, mit folgenden Sätzen relativiert:

„In letzter Zeit hat sie [Abu-Lughod, A. G.] versucht klar zu machen, dass die Burka sehr unterschiedliches symbolisiert. Sie symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und dass sie ihrer Familie verbunden ist, aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und dass sie stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist. Sie symbolisiert Modi der Zugehörigkeit innerhalb eines sozialen Netzwerks. Die Burka zu verlieren bedeutet mithin auch, einen gewissen Verlust dieser Verwandtschaftsbande zu erleiden, den man nicht unterschätzen sollte. Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen, die Spuren hinterlassen wird. Wir sollten keineswegs davon ausgehen, dass Verwestlichung immer eine gute Sache ist. Sehr oft setzt sie wichtige kulturelle Praktiken außer Kraft, die kennen zu lernen es uns an Geduld fehlt.“[3]

Die Romantisierung der Burka als etwas Identitätsstiftendes, dessen Verlust Entfremdungserfahrungen mit sich bringt und Frauen vor der Ausbeutung durch die Massenkultur bewahrt, ist eine verblüffende Verklärung der Realität der Geschlechterverhältnisse in Gesellschaften, in denen Frauen zum Tragen der Burka gezwungen werden und ihnen sonst ernsthafte Konsequenzen drohen. Judith Butler bleibt bei ihrem Umgang mit den Imperativen eines reaktionären Moralkodexes, wie etwa der Anforderung an Frauen, „bescheiden“ zu sein, oder gesellschaftlichen Verhältnissen, die Frauen wegen des Nichttragens der Burka sanktionieren, komplett unkritisch. Von ihrem sonst kritischen Blick, der auf die westliche Unterdrückungskultur gerichtet ist, fehlt hier jede Spur. Butler, deren Name für die Dekonstruktion der Geschlechter in den heutigen westlichen Gesellschaften steht, ist der Ansicht, wir bzw. Menschen aus der westlichen Welt sollen genug Geduld mitbringen, um die kulturellen Praktiken kennenzulernen, deren offenkundige Folge eine Geschlechterapartheid ist.

II. Kulturrelativismus und westliche Toleranz gegenüber reaktionären Kräften


SIEBTER OKTOBER DREIUNDZWANZIG
ANTIZIONISMUS UND IDENITÄTSPOLITIK
VON VOJIN SAŠA VUKADINOVIĆ
Berlin:‎ Querverlag
456 Seiten | € 20,56 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3896563446 Erscheinungstermin: . April 2024

Mit dieser Toleranz gegenüber reaktionären und traditionellen Entitäten außerhalb der westlichen Welt steht Judith Butler bei Weitem nicht allein. Die Romantisierung von allem, was nicht als westlich gilt, hat eine jahrzehntelange Tradition unter westlichen linksprogressiven Akteur*innen. Die Verarbeitung der grausamen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts löste einen Prozess der Kritik an der westlichen Moderne aus, der über Jahrzehnte allmählich das Denken der Bürger*innen vieler westlicher Gesellschaften veränderte und auch mittelbar weitreichende Folgen für die Welt hatte. Während der Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie etwa Max Weber, von der Überlegenheit der Moderne überzeugt war und diese als universelle Lösung betrachtete, verloren solche Ideen unter den Intellektuellen der 1960er-Jahre ihre Geltung. Die Liste der Intellektuellen aus den 1960er- und 1970er-Jahren, deren Ideen stark unsere heutige Lebenswelt prägen und deren Hauptwerk die Kritik an der westlichen Moderne war, ist lang.

Ab diesem Zeitpunkt gewannen die Narrative, in denen der moderne kapitalistische Westen die Rolle des Bösen übernahm, zunehmend an Bedeutung. Betrachtet man zum Beispiel das Gesamtwerk von Michel Foucault, einem der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit, ist der „Kritik an modernen Institutionen“ nicht zu entkommen. Derselbe Denker hegte jedoch eine besondere Faszination für Khomeini und seine Bewegung, obwohl iranische linke Intellektuelle ihn 1978 reichlich vor dem fundamentalistischen Charakter von Khomeini gewarnt hatten.[4] Der Antagonismus, der Foucault dazu bewegte, Sympathien für eine zutiefst reaktionäre traditionalistische Bewegung zu entwickeln, lag im Antagonismus zwischen dem modernen imperialistischen Westen und dem Widerstand des Rests der Welt. Foucault interessierte sich für die Revolution von 1979, weil er sie irrtümlicherweise als Zeichen des Scheiterns der Modernisierung betrachtete. Dass die beteiligten Akteure aus einer repressiven und fundamentalistischen Ideologie handelten, interessierte ihn schlicht nicht – genauso wenig wie es Butler interessiert, was die Hamas wirklich ist.

III. Die Auswirkungen des Kulturrelativismus auf Menschenrechte

Durch die ideelle Abwendung von der Moderne als einer auf der Idee der Aufklärung basierenden universalistischen Ordnung gewann die Idee des Kulturrelativismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Konjunktur. Diese Denkrichtung besagt, dass es keinen Grund gibt, Kulturen anhand von Maßstäben wie „Entwicklung“ und „Fortschritt“ zu bewerten. Kulturen sind aus kulturrelativistischer Perspektive gleichberechtigte Einheiten, die besonders zu schützen sind, da sie Teil der Identität der Gesellschaften darstellen. Insbesondere sollen diese Kulturen vor den Einflüssen der westlichen imperialistischen Kultur geschützt werden. Wer heute in den Geisteswissenschaften forscht, stellt fest, dass Aussagen, in denen Kolonialismus und Imperialismus als Ursachen von Missständen außerhalb der westlichen Welt dargestellt werden, weniger kritisch hinterfragt werden.

Im Zusammenhang meiner eigenen Forschung, nämlich der Sexualitätsgeschichte im Iran und Nahen Osten, stößt man häufig auf solche Aussagen. Es wird oft behauptet, die muslimische Welt sei eine liberale Welt gewesen, bis die Europäer kamen und ihre binäre Sichtweise – in der Sexualität in Hetero- und Homo-Binarität und die Menschen in Mann und Frau unterteilt werden – den muslimischen Gesellschaften aufgezwungen hätten. Diese Darstellung verklärt eine patriarchale Ordnung, in der eine strikte Geschlechtertrennung herrschte und Frauen regelrecht vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren. Auch die als Beweis für die Liberalität der muslimischen Vormoderne angeführte „sexuelle Freiheit“ ist eigentlich die Freiheit erwachsener Männer, jeden – hauptsächlich Knaben – als Sexualpartner zu nehmen, den sie belieben, ohne rechtliche oder soziale Konsequenzen. Man muss nur die Rezeption von „effeminierten Männern“ in der vormodernen Vorstellung untersuchen, um festzustellen, dass die These der Liberalität und Pluralität der vormodernen muslimischen Welt eine Illusion ist. Die Queerfeindlichkeit der heutigen muslimischen Welt hat viel mehr traditionelle und lokale Wurzeln. Die These, dass der Westen an der Misere der queeren Menschen im Nahen Osten beteiligt ist, hält sich dennoch in den akademischen Kreisen westlicher Gesellschaften.

IV. Kulturrelativismus als Rechtfertigung für Unterdrückung

Die Dominanz der kulturrelativistischen Sichtweisen in den letzten Jahrzehnten hat vor allem die traditionalistischen reaktionären Kräfte gestärkt, die ihre Ideologie als lokale Kultur verkaufen und jede Kritik daran im Namen des „Kulturschutzes“ im Keim ersticken. Während die Intellektuellen der muslimischen Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eher positive Haltung dem Westen gegenüber pflegten und häufig die Modernisierung anstrebten, setzte in den 1960er-Jahren, inspiriert durch den postkolonialen Geist, eine Rückbesinnung auf das Eigene ein – sei es Nationalismus oder stärker noch Religion.

Diese Rückkehr zum Islam wurde von Michel Foucault als ein neuer Weg jenseits der Moderne bewundert. In Wahrheit war sie jedoch eine Reaktion der traditionellen Gesellschaft auf die Modernisierung, die nicht bereit war, die Emanzipation des Individuums von den traditionellen Strukturen zu akzeptieren. Vor dem Aufstieg des sogenannten Islamismus war der Islam jedoch bereits in der Politik präsent. Es herrschte häufig eine Harmonie zwischen den Despoten der Region und den lokalen Vertretern des Islams. Beide Seiten teilten ein gemeinsames Interesse: die Unterdrückung des liberal-säkularen Gedankenguts. Die Welt wäre nicht so erschüttert über Chomeinis Fatwa gegen Salman Rushdie, wenn man wüsste, dass die Vordenker Chomeinis (Fedajin-e Islam bzw. „die sich für den Islam Opfernden“) bereits in den 1940er-Jahren gemordet hatten, ohne dafür Konsequenzen zu tragen, wie im Fall der Fatwa-basierten Ermordung des intellektuellen Religionskritikers Ahmad Kasravi, der einst selbst Kleriker war, im Jahr 1945. Die Wende in den 1960er-Jahren war jedoch die Bedeutungszunahme des Islam für die kollektive Identität und als Grundlage zur Regulierung der sozialen Ordnung, was zu einer stärkeren Bedeutung der religiösen Autoritäten und Institutionen führte.

Die Idee des Kulturrelativismus bot einen fruchtbaren Boden für die Unterdrückung all dessen, was diese Ideologie im Namen des Schutzes der eigenen Kultur beziehungsweise des Islams hinterfragte. Seit Jahren berufen sich muslimische Länder auf ihre Kultur, um den Anforderungen der Menschenrechtsgremien, wie der Gleichberechtigung der Frauen oder der Anerkennung sexueller Orientierung und Identität als Grundlage von Diskriminierung, nicht nachkommen zu müssen. Es gibt sogar eine Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990)[5], die jüngst von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) aktualisiert wurde und nach dem Prinzip „Alle Menschen sind gleich, Muslime sind gleicher, muslimische Männer sind am gleichsten“ verfasst wurde.

Es wurden sogar Begriffe gefördert und erfunden, welche die Unterdrückung liberalen Gedankenguts akademisch vertretbar machen, wie zum Beispiel der Begriff „Islamophobie“. Ich bin sehr froh, dass sich in der deutschen Sprache der Begriff „antimuslimischer Rassismus“ etabliert hat, um auf die Diskriminierungserfahrung von Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden, in den westlichen Gesellschaften hinzuweisen. Ich finde aber ebenso, dass der Begriff „Islamophobie“ ein sehr gefährlicher Begriff ist, der unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Rassismus und der Ablehnung westlicher Dominanz eigentlich dazu dient, die Unterdrückung kritischer Stimmen in muslimischen Ländern zu rechtfertigen und auch eine islamkritische Debatte – sei es in westlichen oder muslimischen Gesellschaften – von vornherein zu blockieren.

V.  Islamophobie und Selbsorientalisierung

Ein Beispiel dazu entnehme ich dem Sammelband Islamophobia in Muslim Majority Societies,[6] herausgegeben von Enes Bayrakli und Farid Hafez. Im einleitenden Aufsatz argumentieren die Autoren, dass Islamophobie nicht nur ein westliches Phänomen ist, sondern auch in muslimischen Mehrheitsgesellschaften eine bedeutende Rolle spielt. Sie definieren Islamophobie als eine Fortsetzung globaler Machtstrukturen, die aus kolonialen und postkolonialen Ordnungen entstanden sind, und vor allem durch die Hegemonie der USA geprägt wurden. Diese Islamophobie wird als eine Form von epistemischem Rassismus verstanden, bei der die westliche Tradition als die einzige legitime Quelle von Wissen, Rationalität und Wahrheit dargestellt wird, während nicht-westliche, insbesondere islamische Wissenssysteme abgewertet werden.

Die Autoren betonen, dass viele politische Eliten in muslimischen Gesellschaften westlich geprägt sind und ein Denken übernommen haben, das stark vom Westen beeinflusst ist. Dieser Prozess, den sie als „Selbstorientalisierung“ bezeichnen, führt dazu, dass islamische Identitäten und Praktiken in vielen muslimischen Ländern als Bedrohung für den säkularen Nationalstaat angesehen und entsprechend reguliert werden. In diesem Kontext wird die Idee der „Selbstorientalisierung“ als eine Schlüsselkomponente der Islamophobie in muslimischen Gesellschaften präsentiert. Diese „Selbstorientalisierung“ führt dazu, dass westlich orientierte Eliten in muslimischen Ländern islamische Traditionen und Weltanschauungen als Hindernisse für die Modernisierung und den Aufbau eines modernen Staates betrachten.

Die Autoren argumentieren weiter, dass diese Islamophobie oft von westlich orientierten Eliten in muslimischen Ländern betrieben wird, die konservative muslimische Bevölkerungsgruppen als Bedrohung für den modernen Staat sehen. Diese Dynamik spiegelt sich in der Unterdrückung islamisch-konservativer Bewegungen in vielen muslimischen Ländern wider. Islamophobie dient also dazu, Machtstrukturen zu stabilisieren und muslimische Identitäten zu marginalisieren, um eine bestimmte säkulare Ordnung aufrechtzuerhalten.

Mein Eindruck von dieser Darstellung ist folgender: Jeder, der sich nicht mit dem Islam identifiziert, nach einer säkularen Ordnung strebt, etwas dagegen hat, dass der Islam sein Privatleben reguliert, Atheist ist oder den Islam als eine Ideologie der Ungleichberechtigung sieht, wird aus Sicht der Autoren als Mensch betrachtet, der sich von seiner wahren Identität entfremdet hat und ein Hindernis für die Dominanz des konservativen Islams darstellt. Es ist schlicht absurd, dass in einem konservativen Land wie Pakistan, das regelmäßig von wütenden, beleidigten Muslimen heimgesucht wird, die wegen einer Schrift auf einem T-Shirt protestieren, die Existenz von Islamophobie bezeugt werden soll. Es wäre genauso absurd, wenn man behauptete, es gäbe in Polen oder Finnland „anti-weißen Rassismus“.

Was die konservativen Autoren als Problem in der mehrheitlich muslimischen Welt betrachten, sind Menschen wie ich, die eine säkular-liberale Ordnung anstreben, auf das Recht auf Freiheit von Religion pochen und nichts mit der Religion am Hut haben wollen. Es sind Menschen, die argumentieren, dass die Art und Weise, wie der Islam heute verstanden und ausgelebt wird, eine fundamentalistische Ideologie der Unterdrückung des Individuums darstellt. Problematisch für diese konservativen Autoren sind Menschen, bei denen die Fetischisierung des Hijab in TikTok-Videos, in denen Nicht-Musliminnen an Universitäten an „Hijab-Tagen“ das Tragen des Hijabs ausprobieren, Empörung auslöst, weil sie wissen, dass Frauen im Iran wegen des Hijabs misshandelt und ermordet werden. Selbstverständlich richtet sich meine Kritik nicht gegen meine muslimischen Kopftuch-tragenden Mitbürgerinnen, für deren Freiheit und Rechte ich ohne zu zögern eintrete. Es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass diese Kleidervorschrift eines der Instrumente der existierenden Geschlechterapartheidssysteme auf der Welt ist und für alles steht außer Freiheit, wie es oft suggeriert wird. Die Missstände, die als Grundlage für Kritik an den Verhältnissen in der muslimischen Welt dienen, sind keine „Hirngespinste“ westlicher Orientalisten oder sogenannter „selbstorientalisierter“ Orientalen.

VI. Freiheit und Gleichberechtigung

Was die individuellen Freiheiten und die Gleichberechtigung betrifft, sieht es in der muslimischen Welt schlicht schlecht aus. Laut dem Human Freedom Index 2023[7]schneiden die meisten Länder des Nahen Ostens sehr schlecht ab. Der Iran beispielsweise rangiert auf Platz 161 von insgesamt 165 Ländern, Saudi-Arabien auf Platz 157 und Ägypten auf Platz 159. Keines dieser Länder befindet sich in den oberen 100 der Rangliste. Ein weiteres Beispiel ist die Lage der LGBTQ+-Rechte in mehrheitlich muslimischen Ländern, wie sie auf der Webseite Equaldex[8]dargestellt wird. Länder wie Saudi-Arabien, Iran, Pakistan und Sudan kriminalisieren LGBTQ+-Personen und verwehren ihnen grundlegende Menschenrechte. Wie bereits erwähnt, wird die Verweigerung von Rechten und Freiheiten mit Bezugnahme auf die eigene Kultur gerechtfertigt.

Das Pew Research Center[9]dokumentiert, dass islamische Länder oft strikte Gesetze und hohe soziale Feindseligkeiten gegenüber religiösen Minderheiten aufweisen. Länder wie der Iran, Saudi-Arabien und Ägypten sind für ihre restriktiven Gesetze und harten Strafen bekannt, die die Religionsfreiheit massiv einschränken.

Ebenso zeigt der Global Gender Gap Report 2023[10], dass die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas weiterhin erhebliche Geschlechterungleichheiten aufweisen. Länder wie der Iran, Saudi-Arabien und Ägypten gehören zu den Schlusslichtern in Bezug auf Gleichstellung. Diese Regionen weisen große Lücken in den Bereichen Bildung, wirtschaftliche Teilhabe und politische Repräsentation auf. Diese systematischen Ungleichheiten werden von westlichen linken und progressiven Akteur*innen oft ignoriert oder relativiert, was die nötige Kritik und die Unterstützung für säkulare und feministische Bewegungen in diesen Ländern schwächt.

DAS VERFALLENE HAUS DES ISLAM
VON RUUD KOOPMANS
Hamburg:‎ C. H. Beck
314 Seiten | € 15,37 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3406775154
Erscheinungstermin: 26. August 2021

Ruud Koopmanns untersucht diese Themen in seinem Buch Das verfallene Haus des Islam (2021)[11] und kommt zu dem Ergebnis, dass der Islam, insbesondere in seiner orthodoxen Form, eine erhebliche Barriere für Modernisierung, säkulare Entwicklungen und individuelle Freiheit darstellt. In seinem Buch beschreibt er, wie die islamische Welt, einst führend in Wissenschaft und Kultur, in einen Zustand des Verfalls geraten ist, den er auf die zunehmende Dominanz konservativer und dogmatischer Strömungen innerhalb des Islams zurückführt. Koopmanns sieht in den rigiden Strukturen und dogmatischen Lehren des Islam ein erhebliches Hindernis für die Entwicklung demokratischer und freier Gesellschaften. Er argumentiert, dass der Islam in seiner traditionellen Form oft einen unüberwindbaren Gegensatz zu den Werten der Moderne darstellt, insbesondere zu den Werten von individueller Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechten. Dies führt dazu, dass muslimische Gesellschaften hinter westlichen Gesellschaften zurückbleiben, wenn es um Fortschritte in Richtung Demokratie und Menschenrechte geht.

Ein zentrales Anliegen Koopmanns ist die Kritik an der westlichen Toleranz gegenüber islamischen Traditionen und Praktiken unter dem Deckmantel des Kulturrelativismus. Er argumentiert, dass diese Haltung nicht nur die notwendige Kritik an reaktionären und autoritären Elementen innerhalb des Islam verhindert, sondern auch dazu beiträgt, dass diese Elemente weiter gestärkt werden. Indem westliche Intellektuelle und Politiker*innen aus Angst, als islamophob zu gelten, jegliche Kritik am Islam vermeiden, leisten sie letztlich der Fortdauer von Unterdrückung und autoritären Strukturen in der islamischen Welt Vorschub. Koopmanns plädiert daher für eine klare und differenzierte Kritik an denjenigen Aspekten des Islam, die die Entwicklung von Freiheit und Demokratie behindern. Nur durch eine solche kritische Auseinandersetzung könne eine echte Modernisierung und Demokratisierung in der islamischen Welt ermöglicht werden.

VII. Conclusio

Der Kulturrelativismus hat in den letzten Jahrzehnten die Demokratisierungsprozesse im Nahen Osten erheblich geschwächt. Die Unterdrückung der säkular-liberalen Kräfte, die eine liberaldemokratische Ordnung anstreben, wird täglich durch ein Bündnis von religiösen und militärischen Eliten in diesen Ländern vorangetrieben. Jegliche Kritik an dieser Unterdrückung wird durch die Kulturalisierung der Repression und den daraus gewonnenen Schutz der Idee der Unantastbarkeit von Kulturen im Keim erstickt. Säkular-liberale Kräfte werden verfolgt, verhaftet, ermordet oder ins westliche Exil gezwungen – wo sie dann ironischerweise als islamophob bezeichnet werden und von linken Gruppen oft die kalte Schulter gezeigt bekommen. Die Bevölkerung in den meisten muslimischen Gesellschaften ist weit davon entfernt, Bürgerrechte zu genießen. Stattdessen werden die Menschen als Untertanen behandelt, die für ideologische Ziele instrumentalisiert werden. Unter diesen Umständen vermisst man die früher vorhandene Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte und Demokratisierung, an deren Fehlen ich den Kulturrelativismus mitverantwortlich mache.

Vor diesem Hintergrund erfüllt es mich mit Bestürzung, wenn Gruppen wie die Hamas als „Widerstandskämpfer“ bezeichnet werden. Diese korrupte, ideologisch motivierte Gruppierung, die enge Verbindungen zum iranischen Gottesstaat und anderen Despoten in der Region pflegt, hat sich nach ihrer Machtergreifung im Jahr 2007 mehr auf den Bau von Tunneln unter Wohngebieten konzentriert (unter den verständnisvollen Augen westlicher Hilfsorganisationen), als für das Wohl der eigenen Bevölkerung zu sorgen. Freiheitsund Widerstandskämpfer? Eine Gruppe von Terroristen, die bewusst einen groß angelegten und brutalen Terrorakt begeht und die Folgen für die eigene Bevölkerung in Kauf nimmt, kann kaum im Sinne derer handeln, die sie angeblich vertreten will. Es war absehbar, dass die israelische Regierung entschieden auf einen solchen Terrorakt reagieren würde, und die Anführer der Hamas, die komfortabel in Katar residieren, wussten das sehr wohl. Sie haben das Leid ihrer eigenen Bevölkerung wissentlich in Kauf genommen – und tun dies auch weiterhin, indem sie den Krieg verlängern und die israelischen Geiseln halten.

Diese und viele andere Krisen im Nahen Osten verdeutlichen schmerzlich das Fehlen eines säkular-liberalen Diskurses. Ich frage mich oft, wie sich die Region entwickelt hätte, wenn 2007 in Gaza nicht die Hamas, sondern eine liberal-demokratische Regierung die Macht übernommen hätte – eine Regierung, die der Bevölkerung Wohlstand, internationale Anerkennung und Frieden versprochen hätte. Wie würde die Welt heute aussehen, wenn die Regierung des Gazastreifens mehr in Bildung investiert hätte statt in Raketen und Tunnel? Gewiss wären heute weniger Menschen gestorben, sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite, und vielleicht gäbe es jetzt Friedensgespräche zwischen einer moderaten israelischen Regierung und einer palästinensischen Vertretung.

Meines Erachtens ist es für die linksprogressiven Kräfte in der freien Welt an der Zeit, ihre Solidaritätsmaßstäbe zu überdenken. Statt eine kindliche Feindschaft mit der Moderne, von deren Errungenschaften wir in der westlichen Welt alle profitieren, als Grundlage der Solidarität zu betrachten, sollten sie die tatsächliche Gemeinschaft der Werte als Basis für Solidarität wählen. Diese Werte teilt man mit Hamas und Hisbollah ganz sicher nicht.

Literatur

Bayraklı, Enes/Hafez, Farid (2020): Islamophobia in Muslim Majority Societies, London: Routledge.

Butler, Judith (2009): Krieg und Affekt, Zürich/Berlin: diaphanes, 86.

Cato Institute (2023): Human Freedom Index 2023, online unter: https://www.cato.org/human-freedom-index/2023 (letzter Zugriff: 01.09.2024).

Euqaldex (2024), online unter: https://www.equaldex.com/ (letzter Zugriff: 01.09.2024).

Foucault, Michel (1978): Wovon träumen die Iraner, in: ders. (2003): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III. 1976–1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 862–870.

Hirsch, Joseph (2024): X-Posting: Judith Butler describing the October 7 massacre as armed resistance, in: x.com, 04.03.2024, online unter: https://tinyurl.com/489r6ck4 (letzter Zugriff: 01.09.2024).

Koopmanns, Ruud (2021): Das verfallene Haus des Islam, Hamburg:‎ C. H. Beck.

Organisation der Islamischen Konferenz (1990): Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, online unter: https://tinyurl.com/5y97f8bs (letzter Zugriff: 01.09.2024).

Pew Research Center (2024), online unter: https://www.pewresearch.org/ (letzter Zugriff: 01.09.2024).

Vukadinović, Vojin Saša (Hg.) (2024): Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik, Berlin: Querverlag.

World Economic Forum (2023): Global Gender Gap Report 2023, online unter: https://www.weforum.org/publications/global-gender-gap-report-2023/ (letzter Zugriff: 01.09.2024).

ARASH GUITOO
wurde 1980 in Teheran geboren. Dort studierte er Politikwissenschaften und Jura. Seit 2006 legt der Deutsch-Iraner in Deutschland, wo er an der Christian-Albrecht-Universität Islamwissenschaft und Eurpäische Ethnologie studierte. 2019 schloss er dort seine Promotion im fach Islamwissenschaft ab. Weitere Informationen online unter: https://www.islam.uni-kiel.de/de/mitarbeiter/arash-guitoo-m.a.


[1] Vgl. Vukadinović, Vojin Saša (Hg.) (2024): Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik, Berlin: Querverlag.

[2] Vgl. das diesbezügliche Videodokument: Hirsch, Joseph (2024): X-Posting: Judith Butler describing the October 7 massacre as armed resistance, in: x.com, 04.03.2024, online unter: https://tinyurl.com/489r6ck4 (letzter Zugriff: 01.09.2024).

[3] Vgl. Butler, Judith (2009): Krieg und Affekt, Zürich/Berlin: diaphanes, 86.

[4] Zur politischen „Spritualisierung“ des des Iran vgl. u. v a. Foucault, Michel (1978): Wovon träumen die Iraner, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III. 1976-1979, Berlin: Suhrkamp, 862–870, insbesondere 870..

[5] Vgl. Organisation der Islamischen Konferenz (1990): Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, online unter: https://tinyurl.com/5y97f8bs (letzter Zugriff: 01.09.2024).

[6] Bayraklı, Enes/Hafez, Farid (2020): Islamophobia in Muslim Majority Societies, London: Routledge.

[7] Vgl. Cato Institute (2023): Human Freedom Index 2023, online unter: https://www.cato.org/human-freedom-index/2023 (letzter Zugriff: 01.09.2024).

[8] Vgl. Equaldex, online unter: https://www.equaldex.com/ (letzter Zugriff: 01.09.2024).

[9] Vgl. Pew Research Center (2024), online unter: https://www.pewresearch.org/ (letzter Zugriff: 01.09.2024).

[10] World Economic Forum (2023): Global Gender Gap Report 2023, online unter: https://www.weforum.org/publications/global-gender-gap-report-2023/ (letzter Zugriff: 01.09.2024).

[11] Vgl. Koopmanns, Ruud (2021): Das verfallene Haus des Islam, Hamburg:‎ C. H. Beck.