Friedrich Engels war mehr als der publizistische Nachlassverwalter von Karl Marx. GEORG FÜLBERTH würdigt den großen Sozialisten und verweist mit ihm auf eine grundlegende Spannung der Moderne, die immer wieder zwischen Revolution und Apokalypse pendelt.
I. Einleitung
Friedrich Engels war Teilhaber eines „Compagniegeschäfts“ – so nannte das Marx einmal –, das einen einzigen Zweck hatte: Revolution. Die Revolution war ein zentrales Thema des „langen 19. Jahrhunderts“, das laut Eric Hobsbawm von 1789 bis 1914 dauerte und von der Auseinandersetzung mit ihr verhext war. Welche war aber gemeint?
Die Rechte konstituierte sich im Kampf gegen alle Umwälzungen, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität proklamierten. Anders die Liberalen: Revolutionen nach ihrem Geschmack waren die englische von 1688, die nordamerikanische von 1776 und auch noch die französische bis 1793. Sie bestanden aber darauf, dass dabei vor dem Privateigentum haltgemacht werde, während die Radikaldemokraten diese ökonomische Grenze irgendwie nicht so recht zur Kenntnis nahmen. Ganz anders die Kommunisten, die sie niederreißen wollten und wollen.
Friedrich Engels, geboren am 28. November 1820 in Barmen, 1842 bis 1844 in Manchester Nachwuchsmanager einer Fabrik, deren Teilhaber sein Vater war, sah dort wie vorher im Wuppertal das Elend des Proletariats und beschrieb es in seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845). Eine Revolution sei unvermeidbar, wenn nicht anderweitig Abhilfe geschaffen werde. Hegel hatte er schon gelesen und dessen Dialektik als Prozess von Gedankenrevolutionen kennengelernt. Jetzt kamen noch Adam Smith, David Ricardo und andere hinzu. Ergebnis war Engels’ frühe Schrift Umrisse einer Kritik der Nationalökonomie (1844): Zügellose Konkurrenz schlage ins Monopol um, dieses wieder in die Konkurrenz und danach erneut ins Monopol, schließlich „müssen beide fallen“.

DEUTSCH-FRANZÖSISCHE JAHRBUCHER
HG. VON ARNOLD RUGE UND KARL MARX
1STE UND 2TE LIEFERUNG. (1844/1981)
Leipzig: Reclam
423 Seiten | € 09,89
(Gebundenes Buch / antiquarisch)
Erscheinungstermin: 1981
Der Aufsatz erschien 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, mitherausgegeben von Karl Marx. Der veröffentlichte dort einen Text, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung,in dem die Revolution vergleichsweise idealistisch,zumindest aber unökonomisch aufgefasstwar: Es seien
„alle Verhältnisse umzuwerfen,in denen der Mensch ein erniedrigtes,ein geknechtetes, ein verlassenes, einverächtliches Wesen ist“.
Wer sollte das machen? Diejenigen, deren Elend bereits die Negation – Hegel! – der ganzen Gesellschaft sei: „Der Kopf dieser Emanzipation ist das Proletariat“. Letzteres kannte Marx, anders als Engels, noch gar nicht. Dennoch setzte er es als Joker in seine geschichtsphilosophische Konstruktion ein.
II. Ein revolutionäres Treffen
1842 waren sich Marx und Engels nur einmal kurz und kühl begegnet. Im August 1844 aber trafen sie sich in Paris, und in weniger als zwei Wochen vollzogen sie ebenfalls eine Revolution, und zwar eine theoretische. Aus ihr ging der Historische Materialismus hervor: Die Ökonomie sei die Basis des gesamten Gesellschafts- und Staatsaufbaus sowie der damit verbundenen Kopfgeburten. Von Marx stammte der geschichtsphilosophische Entwurf, von Engels das, was er über den Kapitalismus und das Proletariat aus eigener Anschauung und seinen Studien der bürgerlichen ökonomischen Klassiker bereits wusste. Hegel hatten beide drauf, die revolutionäre Grundorientierung ebenfalls und – für einen Gelehrten und einen Fabrikantensohn eher ungewöhnlich – die Organisationsbereitschaft in einer der sich gerade formierenden Arbeiterorganisationen, dem Bund der Gerechten, dann umbenannt in Bund der Kommunisten. In dessen Auftrag veröffentlichten sie 1848 das Manifest der Kommunistischen Partei.
Als Marx und Engels 1850 nach England emigriert waren, musste das Compagniegeschäft arbeitsteilig anders betrieben werden. Marx machte sich – das aber schon seit 1844 – an ein Werk, dessen alsbaldiges Erscheinen sein Associé bereits ein Jahr später dringend angemahnt hatte: „Wie weit bist Du mit Deinem Buch?“ Es wurde bekanntlich nie fertig, nur – 1867 – sein erster Band. Engels trat 1850 wieder in die Firma Ermen & Engels in Manchester ein und finanzierte das gemeinsame theoretische und praktisch-politische Unternehmen. Marx hatte zunächst auch die verbleibenden und neu anfallenden organisatorischen Scherereien mit dem niedergehenden Bund der Kommunisten, in Emigrationsstreitigkeiten und in der von ihm mitgegründeten Internationalen Arbeiterassoziation („Erste Internationale“) auszuhalten.
Nachdem Engels 1869 seinen Anteil an der Firma verkauft hatte und nach London gezogen war, begann er mit einem eigenen theoretischen Werk: Die Dialektik der Natur. Davon brachte er nur Fragmente zustande, die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht worden sind. Einiges Dazugehörende findet sich allerdings in seiner umfangreichen ideologiepolitischen Kampfschrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1877/78).

Friedrich Engels © Wikimedia Commons
III. Von der materiellen Reproduktion des Lebens
Nach Marx’ Tod 1883 verstand Engels sich nicht nur auf die Edition des zweiten (1885) und des dritten (1894) Bandes des Kapital, sondern in fast allen publizistischen und politischen Belangen als dessen Nachlassverwalter. Das geschah auch dort, wo er in Wirklichkeit selbst innovativ wurde. In Marx’ Handschriften fand er Exzerpte aus dem Werk Ancient Society des US-amerikanischen Ethnologen Lewis H. Morgan und Notizen dazu. Daraus machte er 1884 sein Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Hier stellte er die Breite eines Produktionsbegriffs wieder her, wie er bereits vier Jahrzehnte vorher entwickelt worden, zunächst aber im Verborgenen geblieben war. Kein Wunder, denn der folgende Satz stand in der von Marx und ihm geschriebenen Textsammlung Die deutsche Ideologie (1845–1846), die von den beiden nicht veröffentlichtworden war:
„Die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis – einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis –, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird.“ (MEW 3: 29–30)
Jetzt, 1884, wurde er deutlicher:
„Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklung einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie.“ (MEW 21: 27–28)
IV. Von der Frauenfrage
Anders als Marx im Kapital untersucht Engels nun nicht nur die Art und Weise, wie Waren produziert, sondern auch wie Menschen erzeugt und aufgezogen werden. Dabei stößt er auf eine Form der Herrschaft, die weit älter ist als der Kapitalismus: das Patriarchat. Zusammen mit der Entstehung des Privateigentums und des Staates (wir würden heute hinzufügen: der auch ein Sondereigentum, also staatliches Eigentum, haben kann) erfolgte
„die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung. Diese erniedrigte Stellung der Frau, wie sie namentlich bei den Griechen der heroischen und noch mehr der klassischen Zeit offen hervortritt, ist allmählich beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Form gekleidet worden; beseitigt ist sie keineswegs“ (MEW 21: 61).
Feministinnen sind Engels für diese zutreffende Feststellung nicht nur dankbar. Sie kritisieren, dass das „weibliche Geschlecht“ hier lediglich als Objekt seiner Unterdrückung wahrgenommen wird, nicht aber auch als notwendiges und mögliches Subjekt seiner Selbstbefreiung. Die Aufhebung des Privat- und staatlichen Sondereigentums an den Produktionsmitteln ist bei Engels – und auch bei August Bebel in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus (1879) – Sache eines Proletariats, in das die Frauen irgendwie eingerechnet werden. Dass damit deren Unterdrückung innerhalb geschlechtlicher Arbeitsteilung nicht automatisch aufgehoben ist und wohl doch von ihnen in einem gesonderten Kampf durchgesetzt werden muss, kommt nicht vor. Objekte, die nur Objekte sind, kämpfen nicht.
So erklärt sich auch, dass die kapitalistische Zerstörung der Biosphäre von Marx und Engels zwar vielfach thematisiert wird, deren Beendigung aber kein gesondertes Thema ist. Im ersten Band des Kapital steht:
„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (MEW 23: 529 f.)
Aber „die Erde“ (wir sagen statt dessen: die Biosphäre) kämpft nicht, kann es auch nicht. Deshalb hatten Marx und Engels ihre kapitalistische Beeinträchtigung zwar durchaus im Blick, subsumierten deren Aufhebung jedoch allenfalls implizit unter die Ergebnisse einer proletarischen Revolution.
V. Vom Kriege
Anders war es mit einem anderen Thema: dem Krieg. Der war ein Spezialgebiet von Friedrich Engels. Begonnen hatte das 1841/42 mit seiner Dienstzeit als Einjährig-Freiwilliger bei der Artillerie in Berlin. 1849 hatte er in Elberfeld kurz Verwendung bei der Organisation der Barrikaden gefunden, danach in der Pfalz und in Baden als Freischärler gekämpft. In den 1850er-Jahren bildete er sich neben seiner Berufstätigkeit zum Militärfachmann heran. Marx und Engels waren das, was man heute „Bellizisten“ nennt. Wie ihr ganzes – an Revolutionen ja so sehr interessiertes – Jahrhundert folgten sie Carl von Clausewitz’ These, dass der Krieg „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sei. Selbst den Siegen Preußens 1866 und 1870/71 konnten sie insofern Positives abgewinnen, als diese der deutschen Arbeiterbewegung ein breiteres Aktionsfeld schufen.
Seit den achtziger Jahren allerdings verdüsterte sich bei Engels das Bild von der letztlich revolutionären Potenz der Kriege im Jahrhundert der großen Umwälzungen. Er sah mit zunehmender Panik, dass ein massenhaftes Gemetzel in großen Materialschlachten auch die Arbeiterbewegung unter sich begraben könne. Die Revolution müsse dem zuvorkommen.
1914 passierte das Gegenteil. Bedauernswertes Proletariat! Es hatte gerade genug damit zu tun, sich tagtäglich den Lebensunterhalt zu erarbeiten. Der Historische Materialismus mutete ihm nicht nur zu, sich selbst zu befreien, jetzt sollte es auch noch den Weltkrieg verhindern. Verständlicherweise erwies es sich als völlig überfordert.
VI. Conclusio: Der allerwerteste aller Werte und die Apokalypse
Eine Erklärung ließe sich in derjenigen Leistung von Karl Marx finden, die Engels als dessen größte rühmte: der Entdeckung des Mehrwerts. Aus ihm folgte zwar eine Art ökonomischer Legitimation der Revolution, aber nicht deren Zwangsläufigkeit. Im Gegenteil, rechte Sozialdemokraten hätten daraus Folgendes schließen können: Wenn – erstens – die Arbeiterklasse den Mehrwert produzierte, die Bourgeoisie aber – zweitens – so stark sei, dass sie nicht zu stürzen sei, bleibe dem Proletariat nichts anderes übrig, als im gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf darauf hinzuwirken, den Profit möglichst klein zu halten und große Teile davon stattdessen in Lohn (und Lohnnebenkosten) zu verwandeln. Dazu gehörte auch die Verteidigung des dafür nötigen Rahmens: des nationalen (angeblichen Sozial-) Staats gegen äußere und innere Feinde. Gustav Noske sah das so:
„Marx hat uns gelehrt, das politische Verhalten der Völker werde in der Hauptsache von ihren materiellen Interessen oder Zielen bestimmt. Wie oft leider politische Bestrebungen durch persönliche Interessen, Empfindlichkeit, Streberei, Herrschsucht, Lust am Ruhm und Herostratentum bestimmt werden, habe ich an genug Einzelfällen studieren können.“
(Noske: Von Kiel bis Kapp, Berlin 1920: 60–61).
Engels formulierte eine Alternative: Revolution oder Apokalypse. Der Ausgang ist bekannt. Die ZUKUNFT vielleicht auch.

Albrecht Dürer: Der Engelkampf, aus der Folge der Apokalypse, Latein-Ausgabe 1511, ca. 1496 – 1498 © Wikimedia Commons / Städel Museum
GEORG FÜLBERTH
ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Von 1972 bis 2004 war er Professor für Politikwissenschaft in Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theorie und Geschichte des Kapitalismus, die Geschichte der Arbeiterbewegung und die lokale Zeitgeschichte.
Dieser Beitrag erschien anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels zum 28. November 2020 erstmals in konkret 11/2020, 34–35. Die Redaktion der ZUKUNFT dankt Georg Fülberth, Friederike Gremliza und der Redaktion von konkret für die freundliche Erlaubnis zur leicht überarbeiteten und bebilderten Wiederveröffentlichung.