Popsozialisation VON UWE SCHÜTTE

In seinem Essay Popsozialisation rezensiert UWE SCHÜTTE nicht einfach nur zwei Neuerscheinungen über Popmusik, vielmehr bettet er seine kenntnisreichen Reflexionen in übergreifende, nicht zuletzt auch autobiografische Kontexte ein. – Erkundungen über die Erfindung von Pop, Nerds und den aktuellen Siegeszug von Sängerinnen …

I.

In Deutschland interessierte sich kaum jemand für sie. Erst mit dem Aufkleber „Tophit in England“ verkauften sich die Platten der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft auch zuhause. So zumindest erzählt es Sänger Gabriel „Gabi“ Delgado in Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Einen derartigen Aufkleber freilich könnte man dem Phänomen „Krautrock“ insgesamt anheften. Denn: im eignen Land gilt der Prophet zumeist wenig bis nichts. Ab den späten 1960er-Jahren wurde ausgerechnet in Deutschland die Pop-Musik revolutioniert, mehr als ein Jahrzehnt lang. Die experimentellen Sounds solcher Bands wie Can, Neu!, Tangerine Dream oder Kraftwerk repräsentierten ein radikal neues Rockidiom oder brachten die Pop-Musik auf eine gänzlich andere, weil elektrifizierte Bahn. Insofern war die Musik der Krautrocker ein veritabler Soundtrack zum politischen Aufbruch dieser Zeit. Die hausgemachte Musik beachtete man in Deutschland zwar durchaus – Wertschätzung und Anerkennung aber fand sie nie wirklich.

Anders in Großbritannien: Nachdem man sich anfangs darüber amüsierte, dass Deutsche Pop-Musik machten, schlug die arrogante Ablehnung schnell in obsessive Bewunderung um. Man verehrte die radikalen Sounds der innovativen Musik, die mal eine hypnotische Motorik entfaltete, mal entgrenzend in kosmische Gefilde entführte. Viele der in Dallachs Future Sounds erzählenden Krautrock-Musiker staunten darüber, mit welcher Reverenz man ihnen begegnete, als sie damals erstmals nach England kamen. Als ich Ende der 1990er-Jahre nach London zog, sprach man mich beständig auf Krautrock an und wollte kaum fassen, dass ich die Platten von Can oder Neu! nicht kannte. Kein Wunder: Ich fühlte mich in Kohl-Deutschland unbehaust und war in einem bayerischen Dorf unter SS-Leuten aufgewachsen; deswegen hörte ich strikt nur englischsprachige Musik und war zudem 1992 zum Studieren ins Mutterland des Pops ausgewandert. Während meiner drei Jahrzehnte in England konnte ich beobachten, wie die anglophone Faszination der music nerds für den Krautrock zu einem Phänomen des britischen Medienmainstreams und schließlich gar zu einem neuen Forschungsfeld der German Studies wurde.

II.

Wie Dallachs Interviewcollage erläutert, begann alles 1995 mit einem Buch von Julian Cope: Krautrock Sampler war ein derartig enthusiastischer Guide to the Great Kosmische Music, dass die Alben der darin angepriesenen Bands allenthalben in den britischen Plattenläden ausverkauften. Richtig los ging es aber erst vor rund 10 Jahren: 2009 lief in der BBC die TV-Dokumentation Krautrock: The Rebirth of Germany, 2012 legte BBC 6 nach mit der Radioserie The Man Machine: Kraftwerk, Krautrock and the German Electronic Revolution. Als ich dann im Januar 2015 die erste akademische Konferenz zu Kraftwerk an meiner Universität in Birmingham organsierte, zeigte man sich in Tagespresse wie Musikblogs so verblüfft wie begeistert darüber, dass Kraftwerk, und damit der Krautrock, offiziell in akademischen Gefilden angekommen waren. Die BBC entsandte gar ein Kamerateam zur Konferenz, um im Frühstücksfernsehen zu zeigen, wie Kulturwissenschaftler aus aller Welt über die Düsseldorfer Mensch-Maschinen-Musiker sprachen.

Und dann ging es Schlag auf Schlag unter den Popfans mit Doktortitel. Der akademische Krautrock-Boom wurde 2016 eingeleitet durch zwei hervorragende Studien, nämlich Ulrich Adelts Krautrock: German Music in the Seventies und Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD von Alexander Simmeth. Das bereits 2014 erschienene Future Days: Krautrock and the Building of Modern Germany aus der Feder des Musikjournalisten David Stubbs wurde 2018 von seinem Kollegen Rob Young ergänzt, der mit All Gates Open. The Story of CAN eine voluminöse Biografie dieser Schlüsselband des Krautrock vorlegte. Erweitert wurde diese Buchschwemme durch meinen Konferenz-Sammelband Mensch-Maschinen-Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk (2018) sowie meine letztjährige englische Einführung Kraftwerk: Future Music from Germany.

Dallachs popmusikalische Oral History, die vor fünf Jahren erstmals angekündigt war, trifft insofern auf ein bereits gut bestelltes Feld, kommt nach der langen Verzögerung aber zugleich etwas zu spät. Was etwa sein Kronzeuge Irmin Schmidt zu berichten hat, steht alles schon in Youngs massivem CAN-Buch; auch Karl Bartos, der neben Michael Rother wichtigsten Quelle Dallachs für die nur spärlichen Kraftwerk-Informationen, hat mittlerweile seine Biografie veröffentlicht. Traurig ist aber vor allem, wie viele der Befragten – darunter Holger Czukay oder Jaki Liebezeit – zwischenzeitlich verstorben sind. Fabriziert ist Future Sounds nach dem Modell der ebenso bei Suhrkamp erschienen Oral Histories von Jürgen Teipel (Verschwende Deine Jugend, 2001) über den deutschen Punk bzw. von Rudi Esch (Electri_City, 2014) über die elektronische Musik aus Düsseldorf. Den großen Erfolg beider Bände verdient auch Dallachs Kompilation: Krautrock is coming home – in deutscher Sprache ist Future Sounds sicherlich die beste Informationsquelle über den Versuch der 68’er-Generation, sich selbst und ihr Land mit den Mitteln einer experimentellen, für fremde kulturelle Einflüsse offenen und an einer besseren Zukunft orientierten Musik zu „entnazifizieren“.

III.

Dass mit einer polyphonen Interviewcollage aus Zeitzeugen die ganze Wahrheit über den Krautrock erzählt werden kann, wird aber hoffentlich niemand glauben. Die Erinnerungsschnipsel der Beteiligten bilden selbst dann, wenn Dallach widersprüchliche Einschätzungen geschickt durch harte Schnitte gegenüberstellt, letztlich nur eine andere Form der unkritischen „Eigengeschichtsschreibung“, wie wir sie aus den Memoiren gealterter Pop-Musiker zur Genüge kennen. Für ein tiefgreifenderes Nachdenken über den Krautrock liefert der Band allerdings genügend Ausgangsmaterial. So sollte man aus der Perspektive der Post-Colonial Studies einmal genauer perspektivieren, inwieweit der Krautrock eine Abwehrreaktion gegen die Deutungshoheit anglo-amerikanischer Künstler war, was Pop-Musik ist und wie sie zu klingen hat. Durch eine „neue deutsche Volksmusik“, so der Produktmanager des führenden Krautrock-Labels Ohr, sollte versucht werden, eine emanzipative, anti-nationalistische Kunstform zu schaffen, die angesichts des anglo-amerikanischen Kultur-Imperialismus eine Option bot, aus minoritärer Perspektive eine neue, unbefleckte nationale Identität zu schaffen.

Diese Germanness wiederum unterlag zumal in England zahlreichen Missverständnissen, wie die vielen Aussagen der britischen Auskunftsgeber Dallachs von Daniel Miller über Paul Weller bis Brian Eno zeigen. Zugleich erwies sich zumal der elektronische Zweig des Krautrock als transnational anschlussfähig für andere künstlerische Minoritätskonzepte (wie den Afro-Futurismus). Das Futuristische ist ohnehin das wichtigste am Krautrock: Sich festzuhalten an der utopischen Idee, dass die Zukunft, entgegen allem Anschein, doch noch besser ausfallen könnte als unsere ungenügende Gegenwart. Und daher unsere Ohren offenzuhalten für aufregende Future Sounds, die das Versprechen einer anderen, besseren Ordnung der Dinge hörbar machen. Krautrock ist deswegen unverändert zeitlose Zukunftsmusik aus Deutschland.

IV.

Wer aufmerksam Zeitung las, wusste es eh. Doch spätestens seit Jens Balzer 2016 mit Pop. Ein Panorama der Gegenwart als Buchautor debütierte, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass er der vielleicht wichtigste Popmusikkritiker Deutschlands ist. In seiner kompetenten Rundumschau in Sachen Pop zeigte Balzer nicht nur erstaunliche Verbindungen zwischen völlig entgegengesetzten Künstlern (wie beispielsweise Rammstein und Helene Fischer) auf, er entwickelt darin ebenso eine veritable Theorie der Pop-Musik-Historie im 21. Jahrhundert. Diese führte vom Niedergang des männlichen Gitarrenrocks (Strokes, Libertines) zur zunehmenden Dominanz von Musikerinnen (sei es Amy Winehouse und Adele oder Holly Herndon und FKA Twigs). Anhand der Lärmartisten Sunn O))), der vollbärtigen Neo-Folker oder der postheroischen Protestmusik von Kendrick Lamar demonstriert Balzer, wie diese Entwicklung die Geschlechtermatrix der heutigen Poplandschaft prägt, in der nihilistische Feministinnen auf männliche Ingenieure des Selbst treffen, irgendwo in dem weiten kulturellen Feld, das sich von Hauntology bis Retromania erstreckt.

Im 2019 erschienenen Langessay Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik wiederum zeigt Balzer, wie beständiger Tabubruch und notorische Grenzüberschreitung in bestimmten Bereichen der Pop-Musik zu einem unwillentlichen Schulterschluss mit politisch rechten Kräften führt. Die unheilige Verknüpfung von prononcierter Aggression bei gleichzeitiger Einnahme einer Opferrolle, so begreift man, vereint migrantischen Gansta Rap mit der verlogenen Selbstinszenierung von Rechtspopulisten. Balzers Rang als Popkommentator begründet sich entsprechend nicht nur in seiner popmusikalischen Expertise. Nie verliert er nämlich aus dem Blick, dass Popkultur – zumal in unseren traurigen, ungenügenden Zeiten – nicht nur eine politische Rolle spielt, sondern zudem eminente soziale Verantwortung besitzt.

Ebenso 2019 erschien dann mit Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er sein vielgelobtes Epochenportrait eines besonderen Jahrzehnts, in dem die in den 1960er-Jahren noch relativ homogene Pop-Musik sich diversifizierte und vielfältig verzahnte mit sozialen Entwicklungen. Balzer legt anschaulich dar, wie die emanzipative Gegenkultur der Hippie-Ära in den Siebzigern in den sozialen Mainstream eingeht und unsere westlichen Gesellschaften nachhaltig verändert. Die Stärke von Das entfesselte Jahrzehnt besteht darin, dass Balzer seine Zeitdiagnose weit über das engere Feld der Pop-Musik und Popkultur ausweitet, indem er sie in übergreifende historische, ökonomische und weltpolitische Zusammenhänge einbindet.

V.

Wenn nun, nur zwei Jahre später, mit High Energy. Die Achtziger: das pulsierende Jahrzehnt der Nachfolgeband erscheint, so kündigt sich darin wohl der ambitiöse Versuch einer dekadenhaften Kulturgeschichtsschreibung unserer Gegenwart durch das Prisma der Popkultur an. Nun also stehen die 1980er-Jahre auf dem Programm, die in soziopolitischer Hinsicht sicher kein gutes Jahrzehnt waren: Thatcher, Reagan und Kohl führten den Neoliberalismus in ihren Ländern ein, mit den bekannten desaströsen Folgen bis heute, die Yuppies waren die ersten Profiteure dieser Entfesselung des Realkapitalismus, der ökonomische Zwang zur Selbstoptimierung wurde dann via Aerobic-Trend und Jogging-Rausch auf den eigenen Körper übertragen, während AIDS die gesamte Gesellschaft veränderte und ohnehin spielte sich alles vor dem Hintergrund der Spannungen des Kalten Kriegs ab, der nicht nur in der popkulturellen Imagination, sondern auch der Realität zu einer gegenseitigen nuklearen Vernichtung von West- und Osteuropa hätte führen können. Der GAU in Tschernobyl demonstrierte dann eindrücklich, dass nukleare Katastrophen sehr wohl Wirklichkeit werden können.

HIGH ENERGY
Berlin: Rowohlt
400 Seiten | € 28,00
ISBN: 978-3737101141
Erscheinungstermin: Juni 2021

Wo Gefahr aber droht, wächst das Rettende – so hofft man zumindest. In popkultureller Hinsicht weist Balzer auf die Vielzahl der Entwicklungen hin, die in den 1980er-Jahre begannen und bis heute kaum mehr aus unserem Leben wegzudenken sind: er analysiert den politischen Aufstieg der ökologischen Protestbewegung in Gestalt der Grünen, widmet dem HipHop als Form schwarzer Selbstermächtigung ein kenntnisreiches Kapitel oder kontextualisiert die Figur des Zombies im Spannungsraum zwischen Schulhof-Schmuddelfilm und bahnbrechenden Thriller-Musikvideo. Der Siegeszug von Videokassetten und Videotheken einerseits, MTV und Musikvideos andererseits ist einer der drei großen Medienwandel in den Achtzigern, die High Energy verhandelt. Ebenso erinnert Balzer daran, was die Mobilisierung des Musikhörens durch den Walkman seitdem für die Präsenz von Pop-Musik bedeutet, beleuchtet aber vor allem jenen Wandel, der unser Leben und unseren Alltag wie sonst nichts revolutionierte: die Digitalisierung. Nicht nur die neue Videospielkultur um Pong, Mario und Space Invaders, mit der die Digitalära zuerst ins Kinderzimmer einzog, kommt dabei in Blick, sondern auch die subversive Hackerszene samt der beginnenden Heimcomputerkultur werden als Wurzeln unserer heutigen Computerwelt beleuchtet.

Immer wieder gelingt es Balzer in High Energy so überraschende wie aufschlussreiche Zusammenhänge aufzuzeigen: So erfährt man beispielsweise, wie die (Neu-)Entdeckung von Pesto mit den ersten, kastenartigen Mobiltelefonen zusammenhängt, oder welche überaus bedeutsame Rolle der Atomkriegsfilm The Day After (1983) für die visuelle Imagination eines nuklearen Blitzes und der körperlichen Folgen radioaktiver Verstrahlung gehabt hat. Mit High Energy gelingt Balzer nicht nur ein eindrucksvoller Epochenüberblick; dass sein an vielen vergessenen Details überreiches Buch zudem so lebendig wirkt, liegt sicher daran, dass der 1969 geborene Autor seine Jugend und somit Popsozialisation just in dieser Dekade erlebte. Umso gespannter darf man sein, was er im hoffentlich geplanten Nachfolgewerk dann über die Neunziger berichten wird.

UWE SCHÜTTE ist Autor und Germanist. Er lehrt German Studies in Birmingham und ist Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Göttingen. Zahlreiche deutsche und englische Buchpublikationen zur Gegenwartsliteratur und zur Band Kraftwerk. Bei Cambridge University Press erscheinen nächstes Jahr die von ihm herausgegeben Bände Cambridge Companion to Krautrock und W.G. Sebald in Context.

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