ZUKUNKFT-Redakteur THOMAS BALLHAUSEN durfte die Laudatio auf den österreichischen Schriftsteller Simon Sailer halten, dem der Clemens-Brentano-Preis 2021 der Stadt Heidelberg verliehen wurde. Sailers Literatur ist nicht zuletzt von männlichen Protagonisten bestimmt, die einem unheimlichen Schicksal ausgeliefert sind. – Erstabdruck einer Rede, die auch aktuelle Debatten in und um die Literatur reflektiert.
I.
Ich möchte meine Rede mit einer Feststellung beginnen, die Ihnen vielleicht eigenwillig oder im ersten Moment auch unangebracht vorkommen mag: Ich kenne Simon Sailer nicht.
Angesichts aktueller Debatten um Möglichkeit und Ohnmacht von Kritik und kritischem Diskurs, über das Missverhältnis von Affirmation und konstruktiver Durchdringung in Bezug auf Gegenwartsliteratur, angesichts eines massenmedial gezeichneten Wunsches nach konsumierbarer Bestätigung statt Infragestellung und ästhetischer Herausforderung, muss so ein Eingeständnis verwundern.
Also nochmals. Ich kenne Simon Sailer nicht.
Wie passt so eine Eröffnung zu aktuellen Tendenzen autoritärer Diskursunterdrückung, zur ironiebefreiten Exklusion nicht zuletzt künstlerischer Werke, die nicht zur eigenen Anschauung passen oder der marktdiktierten Verkäuflichkeit von Autor*innen aufgrund ihrer Biografien, Benachteiligungen oder Privilegien, ihrer Orientierungen oder Erfahrungen – und immer weniger, so mein Eindruck, aufgrund ihrer Werke oder ästhetischen Ansprüche? Wie zur kontinuierlich unterminierten Trennung von Mensch und Werk, zur alleinigen Akzeptanz bestätigender, ja harmloser Inhalte auf Kosten von Ästhetik und Risiko?
Abschließende Antworten dazu anzubieten wäre kurzsichtig, ja töricht. Ich will, was nicht minder wertvoll sein kann, die Fragen zumindest genannt haben. Und ich werde trotz des genannten Umstands – also: Simon Sailer nicht bzw. noch nicht zu kennen – und der erwähnten Zumutungen darzustellen versuchen, dass meine Laudatio auf ihn dennoch keine Zeitverschwendung, kein konservatives Rückzugsgefecht oder ein vergleichbarer Grund zur Sorge ist. Denn, was mich ehrt und freut, ich darf diese Laudatio halten, weil ich Simon Sailers Werk kenne und schätze, weil ich hier ein geteiltes Interesse für das Erbe der Romantik, etwa in Ausprägungen des Fantastischen, des Ironischen oder auch des Reflexiven, sehe. Für meine im besten Sinne gar nicht leichte Aufgabe empfinde ich es also insbesondere heutzutage als möglichen Vorteil – eben weil aus Biografien Qualitäten, Lesehinweise oder gar Haftungen herausgeschält werden sollen – vorsätzlich die literarischen Texte Simon Sailers als Startpunkt meiner lobenden Annäherung zu wählen.
II.
Ich möchte deshalb versuchen – nicht zuletzt aufgrund der angedeuteten Tendenzen, die mich als Autor und demokratisch denkender Mensch ernsthaft sorgen – abseits von allem Elitismus für eine sich öffnende Literatur zu plädieren, eine Literatur, wie ich sie bei Simon Sailer vorfinde, die sich Fragen nach der Diskussion um künstlerische Qualität erhält, eine Literatur, die sich der Vielstimmigkeit der Literaturgeschichte bewusst ist, die uns Erfahrungswelten bietet und zugänglich macht, die sich nicht mit unseren eigenen decken – und nicht zuletzt eine Literatur, die sich zu herausfordernder Lektüre bekennt, zu einem Schreiben in der Gegenwart, das positiv an die Literaturgeschichte anknüpft, statt sie ungeprüft als nicht mehr relevant oder gar prinzipiell suspekt abzutun.
Sailers Auseinandersetzungen mit Schönheit und Schrecken des Lesens, mit der Lebendigkeit der Literatur und ihrer Objekte zeigt sich bei ihm als raffiniertes Spiel mit Referenzen und Verweisen, genreübergreifenden Einladungen an die Grenzlinien zwischen Wirklichkeit und Fiktion. An diesen spannungsgeladenen Nahtstellen, Belegen einer notwendigen Verbindung zwischen dem Realen und dem Erfundenen, wird Literatur möglich, auch oder vielleicht auch gerade wegen einer Welt, die ihren schlechten Ruf nicht ganz zu Unrecht hat. Wie heißt es bei ihm doch gleich: Es „gibt in der Wirklichkeit eben Zufälle, die etwa in einem Roman ganz unglaubwürdig wirken würden“.
Ich nehme also Simon Sailers Spiel auf und versuche mich aus einer Kombination aus Logik und Raten, wage ein Hintasten auf Auslegungen und vielleicht auch Lösungen, ohne mich dabei in die Luft zu sprechen. Eigentlich wollte ich eben „in die Luft sprengen“ schreiben, aber hier ging vertippend der Text mit mir durch und ich will das so stehenlassen. Ich will es, dem herbeizitierten Zufall vertrauend, auch deshalb nicht korrigieren, weil es zu Sailers Poetik passt, seinem Erschreiben von Verschiebungen, Übergängen und eben auch Irritationen. Schon in seinem Debütroman Menschenfisch (2019) findet sich ein Programm des entsprechenden Vorantastens. Da heißt es beim Weg ins Dunkle und Mythische, beim Rückkehr in die Höhle: „Jedes Stück ein Rätsel.“
III.
Dunkel und unheimlich nimmt sich auch die Wiener Essiggasse aus, so wie Simon Sailer sie in den beiden bislang vorliegenden Werken seiner Trilogie ausgestaltet hat. Dieser schmale, real existierende Verbindungsweg zwischen zwei größeren Straßen ist der Ort aus dem der Autor seine Räume gewinnt. Schon in Die Schrift (2020), dem ausschlaggebenden Titel für die Verleihung des Clemens-Brentano-Preises der Stadt Heidelberg, spielt sie eine nicht unwesentliche Nebenrolle, ist sie doch Adresse eines Hotels, das dem Archivar Leo Buri den Zutritt verwehrt. Der Ägyptologe Buri, bestimmt vom Wunsch einer eigenen Bildschrift, ist unfreiwillig in den Besitz der titelspendenden Schrift gelangt, die den Effekt einer sich steigernden Exklusion mit sich bringt. Der historische Beleg, der innerhalb der Erzählung ein wenig wie ein MacGuffin funktioniert und sich dem eigentlich kundigen Zeichendeuter so völlig verschließt, isoliert und stigmatisiert den Protagonisten, treibt ihn immer weiter, hin bis zum Verschwinden in der Einöde der Vereinigten Staaten. Die Schrift, derer er sich nicht entledigen kann, ist Ausdruck eines Gerüchts, ja, einer Infektion – alle wissen Bescheid, einzig Buri ist unwissend im sozialen Spiel. Göttin Fama und ihre Industrie sich verschlimmernder Geschichten prägen den Umstand, dass unser Wissen übereinander aber auch unsere Geheimnisse voreinander uns zu einer Gesellschaft machen, vielleicht auch zu einer Gemeinschaft.
Auch Altwarenhändler Maurice Demel in Das Salzfass (2021) ist dem titelspendenden Objekt geradezu ausgeliefert, das ausgerechnet in einer Wohnung in der besagten Essiggasse aufzutauchen scheint. Aus der Antiquität beginnt ein Wesen zu wuchern, das sich nach und nach als eine hungrige, Werte verschlingende Erweiterung seiner selbst erweist. Dieses sprichwörtliche Fass ohne Boden, bringt nicht nur eine unheimliche Geschichtlichkeit mit sich, sondern entfaltet in Sailers Fortsetzung der Trilogie etwas wie einen hervorragend eigenwilligen Litte Shop of Horrors. Für die beiden, von Referenzen durchzogenen Erzählungen ist das Moment des Indirekten, des Vermittelten zentral. „Ich spreche natürlich aus zweiter, dritter Hand“ heißt es ganz richtig. Es sind Geschichten, die einander stützen, Berichte die auf anderen Berichten fußen, es sind Dokumente, Tagebücher, Nachlässe und Zettel – immer wieder Zettel. Die gar nicht nur vertrauenswürdigen Hauptfiguren, nicht zuletzt geprägt durch ihre Berufe, kommen nur im Nachhinein zu Wort. Es sind Freunde und Bekannte, die über den Einbruch von Magie und Schrecken berichten, also Dritte, die bei aller Unterstützung die Niedergänge von Buri und Demel nur noch belegen können, bevor das Unheimliche weiter um sich greift.
IV.
Die Wirksamkeit völlig neuer, geradezu unerklärlicher Ordnungen wird in Simon Sailers Novellen auch dadurch aktiviert, dass die so akribisch nacherzählten Katastrophen, die sich sukzessive verschlimmernden Ereignisse schon ereignet haben – „es ist ja alles längst geschehen“. Der unstete Friede währt somit eine Buchlänge während sich der Schrecken, selbst auch Ausdruck von Geflecht und Vielfalt, kontinuierlich weiter ausbreitet. Hand in Hand geht dies, ganz im Sinne von Sailers Referenzen Franz Kafka, Nikolai Gogol, J.D. Salinger oder auch Stephen King, mit einem Erzählen über das Erzählen, dem schon erwähnten Ansetzen im Grenzbereich zwischen Fakt und Fiktion. Von hier aus entwickelt Simon Sailer seine Literatur der detailreichen Beobachtungen und treffenden Formulierungen, eine Literatur, der ich auch in Zukunft mit Interesse folgen werde.
Wenn ich Simon Sailer also kennenlernen darf, dann hoffe ich, ihn so klug, charmant, reflektiert, humorvoll und nicht zuletzt im besten Sinne unterhaltsam wie seine Texte finden zu dürfen. Wenn sich das aber so nicht einlösen sollte, Simon Sailer als so gar nicht wie sein Werk sein sollte, so wird das meinen Blick darauf aber nicht im Geringsten schmälern.
THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).
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