In kaum einer anderen Disziplin zeigen sich die fatalen Folgen des Nicht- Beachtens geschlechtsspezifischer Unterschiede so unmittelbar wie in der Medizin. Es ist daher höchste Zeit, Gender Medicine selbstverständlich anzuwenden und Wissenslücken zu schließen, wie MIRIAM HUFGARD-LEITNER in diesem Artikel argumentiert.
I. Einleitung
Im Jahr 1991 wurde in einem der angesehensten medizinischen Fachjournale veröffentlicht, dass Frauen mit einem Herzinfarkt nur halb so oft einer lebensrettenden Maßnahme zugeführt wurden wie Männer und daher öfter am Herzinfarkt verstarben. Die Ursache war, dass die Diagnose bei Frauen seltener gestellt wurde, weil Frauen andere Symptome zeigten als Männer. Während Männer den typischen Brustschmerz mit Ausstrahlung in den linken Arm beschrieben, klagten Frauen auch über Kieferschmerzen, Oberbauchschmerzen oder Rückenschmerzen und Übelkeit. Da diese Beschwerden nicht als typisch angesehen wurden, wurde der Herzinfarkt bei Frauen häufiger übersehen (Healy 1991). Diese Ergebnisse rüttelten viele in der Humanmedizin wach und führten zur Gründung einer neuen Wissenschaft: der Gender Medicine.
Gender Medicine hat zum Ziel Wahrheitsannahmen in der Humanmedizin auf ihre Richtigkeit für alle Geschlechter zu prüfen (Hochleitner/Bader 2021). Sie unterscheidet hierfür zwei wesentliche Kenngrößen: das biologische Geschlecht (sex) und das soziale Geschlecht (gender) und ihre Auswirkung auf Gesundheit und Krankheit.
Das biologische Geschlecht umfasst die chromosomale, gonadale, hormonale Ebene und die Anlage der inneren und äußeren Geschlechtsorgane. Auf allen diesen Ebenen gibt es Variationen. Zum Beispiel wird auf chromosomaler Ebene sex in jeder einzelnen Zelle anhand einer Kombination aus X- und Y-Chromosomen festgelegt. Hiermit gehen zahlreiche zelluläre Unterschiede wie z. B. Ausstattung mit Enzymen, Einfluss von Sexualhormonen, Rate der Genexpression usw. einher.
Demgegenüber beschreibt gender die soziokulturelle Rolle, die von einem Menschen in der jeweiligen Gesellschaft aufgrund seines biologischen Geschlechts erwartet wird. Das soziale Geschlecht hat einen wesentlichen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit. Hiervon hängt z. B. ab, welches Verhalten im Krankheitsfall von einer Person erwartet oder welcher Gesundheitsberuf ausgewählt wird.
2. Ebenen der Gender Medicine
Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen von dem Zeitpunkt an, ab dem ein Mensch medizinische Hilfe in Anspruch nimmt. Denn es ist mehrfach gezeigt worden, dass es einen Einfluss auf den Gesprächs- und Behandlungsverlauf hat, welches Geschlecht der/die zu Behandelnde und der/die Behandelnde hat (Wallis/Jerath/Coburn et al. 2022). Wie oben beschrieben, wird es vom biologischen und sozialen Geschlecht abhängen, über welche Symptome berichtet werden wird (Healy 1991). Vorsorgemaßnahmen werden geschlechtsspezifisch empfohlen (Gaye et al. 2022) und in Anspruch genommen werden. Und die etwaige diagnostizierte Erkrankung kann geschlechtsspezifisch unterschiedlich verlaufen (u. a. Kaltofen et al. 2015; OECD 2021; Mauvais-Jarvis et al. 2020; Siegel/Miller/Jemal 2017; Demeo et al. 2018). In der Pandemie zeigte sich z.B. weltweit, dass Frauen und Männer zwar gleichhäufig an COVID erkrankten, aber Männer häufiger einen schweren Verlauf hatten, das Spital aufsuchen mussten und häufiger verstarben (vgl. The Sex, Gender and Covid-19 Project 2020).
Die ausgewählte Therapie wird geschlechtsspezifisch wirken und ggf. zu geschlechtsspezifischen (Neben)-Wirkungen führen (Yu et al. 2016). Es ist bestens bekannt, dass zahlreiche Arzneimittel im Zellversuch ausschließlich in männlichen Zellen überprüft wurden/werden (Kim et al. 2021). Damit können aber wesentliche Fragestellungen wie z.B. Zyklusabhängigkeit des Wirkstoffes nicht beantwortet werden. Auch im Tierversuch werden Arzneimittel vor allem an männlichen Tieren getestet (Klein et al. 2015; Danska 2014; Mauvais-Jarvis/Arnold/Reue 2017; Beery 2011). In klinischen Studien waren die Teilnehmer*innen sehr lange überwiegend männlich, weiß und 70kg schwer (Mauvais-Jarvis et al. 2020). Das ausschließliche Testen von medizinischen Hypothesen in männlichen Zellen, Tieren und Menschen verursacht(e) enorme Wissenslücken in der Humanmedizin (Gender Data Gap). Damit geht einher, dass für zahlreiche am Markt zugelassene Arzneimittel frauenspezifische Nebenwirkungen nicht erhoben wurden und deshalb nicht in der Packungsbeilage aufgelistet sind.
3. Gender Data Gap
Der Gender Data Gap betrifft nicht ausschließlich Frauen. Er bedeutet auch, dass Symptome, Nebenwirkungen oder Erkrankungsursachen, welche nur bei Männern auftreten, nicht als geschlechtsspezifisch erkannt werden, und daher nicht adäquat behandelt werden können. Und das gilt nicht nur für Männer und Frauen! Zahlreiche medizinische Fragen sind für intersexuelle Menschen oder Transgender-Personen noch nicht untersucht oder überhaupt gestellt. Der Gender Data Gap schadet daher allen Individuen und somit der Gesellschaft insgesamt.
Trotz dieser zentralen Rolle von geschlechtsspezifischen Unterschieden in Gesundheit und Krankheit, ist die Anwendung von Gender Medicine nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Noch immer werden zahlreiche Studien publiziert, die weder im Zell- oder Tierversuch noch im klinischen Setting auf geschlechtsspezifische Unterschiede oder ausgeglichene Anteile von Studienteilnehmer*innen geachtet haben. Damit bleiben Wissenslücken bez. geschlechtsspezifischer Unterschiede bestehen und es muss auch davon ausgegangen werden, dass Menschen dadurch nur aufgrund ihres Geschlechts nicht die medizinische Behandlung erhalten, die sie bräuchten. Das ist inakzeptabel!
Um die gleichwertige medizinische Versorgung aller Geschlechter sicher zu stellen, braucht es daher einen starken Schulterschluss zwischen Forschung, Medizin, Gesundheitseinrichtungen und Politik sowie ein gleichzeitiges gemeinsames Tätigwerden auf mehreren Ebenen.
Medizinische Forschung
Um den Gender Data Gap zu schließen, müssen die Kategorien sex und gender gleichermaßen in den gesamten Forschungsprozess von der Hypothese bis zur Publikation miteinbezogen werden. Hierfür gibt es bereits zahlreiche Empfehlungen (Fanconi et al. 2019), die auch die Evaluierung der Vergabe von Forschungsgeldern auf deren Treffsicherheit für alle Geschlechter beinhaltet (vgl. Gendered Innovations o. J.). Diese Maßnahmen brauchen politische Unterstützung und rechtliche Rahmenbedingungen sowie die Etablierung in diversen Gremien und Institutionen.
Medizinische Bildung
Das Wissen um geschlechtsspezifische Unterschiede in Gesundheit und Krankheit muss fixer Bestandteil in der Aus- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe sein. Außerdem müssen die Patient*innen und die Bevölkerung im Allgemeinen anhand von Kampagnen, Initiativen oder Veranstaltungen niederschwellig sensibilisiert werden und über neue Erkenntnisse aufgeklärt werden, denn auch das beste Personal kann nur tätig werden, wenn die Betroffenen die Behandlung auch (rechtzeitig) in Anspruch nehmen.
Medizinischer Anspruch
Medizinische Modellvorstellungen stehen immer im engen Wechselspiel mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Wissenschaft und die Humanmedizin haben daher auch die Verantwortung, auf drängende Fragen der Menschen Antworten zu finden. Die breiten Wissenslücken, die medizinisch beste Versorgung von Frauen, Transgender-Personen oder intersexuellen Menschen betreffend, müssen dringend adressiert werden. Gesundheit ist per definitionem viel mehr als das Freisein von Krankheit und steht in engstem Zusammenhang mit Lebensqualität und soziökonomischer Lage eines Menschen. Es ist daher zu erwarten, dass sich Maßnahmen zur Verbesserung der geschlechtsspezifischen Gesundheitsversorgung gleichzeitig positiv auf andere Lebensbereiche der Menschen und der Gesellschaft im Allgemeinen auswirken.
Medizinische Zukunft
Medizin und Medizintechnik haben sich in den letzten Jahren eindrucksvoll entwickelt. Der Gender Data Gap löst sich aber nicht von selbst durch Zukunftstechnologien wie Artificial Intelligence, Digitalisierung der Medizin oder Präzisionsmedizin – im Gegenteil. Es bleibt daher essenziell, dass geschlechtsspezifische Daten von Anfang an in diese Technologien einbezogen werden und Gender Medicine eine zentrale Rolle in der Konzeption und Anwendung dieser Technologien spielt. Dies betrifft auch die Analyse der Auswirkungen des Klimawandels auf Gesundheit und Krankheit.
4. Zusammenfassung
Der Einfluss von sex und gender ist weiterhin zu wenig untersucht, verstanden und adressiert. Dies führt zu breiten Wissenslücken in der Humanmedizin, welche eine Barriere zur gleichwertigen Gesundheitsversorgung für alle Geschlechter darstellt. Wenn wir die beste medizinische Behandlung für alle Menschen sicherstellen wollen, dann braucht es die Anwendung von Gender Medicine auf allen Ebenen des Gesundheitssystems. Hierfür muss in Ausbildung von medizinischem Personal und Aufklärung der Bevölkerung investiert werden. Des Weiteren braucht es gesetzliche Rahmenbedingungen und institutionelle Kontrollorgane. Eine rasche Umsetzung ist notwendig, um weiteren individuellen und gesellschaftlichen Schaden zu vermeiden und Fehler aus der Vergangenheit nicht in den Umgang mit Zukunftstechnologien zu tragen.
MIRIAM HUFGARD-LEITNER
ist Oberärztin für Endokrinologie und Stoffwechsel an der MedUni Wien/Universitätsklinikum AKH Wien, Expertin im Bereich der Angeborenen Stoffwechselerkrankungen und Gender Medicine, sowie in Ausbildung zur Systemischen Psychotherapeutin.
Link zum Podcast zur Gender-Medizin des ÖGB https://www.oegb.at/themen/gleichstellung/geschlechtergerechtigkeit/gendermedizin–mann-und-frau-sind-anders-krank
Literatur
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DeMeo, Dawn L./Ramagopalan, Sreeram/Kavati, Abhishek et al. (2018): Women manifest more severe COPD symptoms across the life course, in Int J Chron Obstruct Pulmon Dis 2018; 13: 3021–29.
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