Die österreichische Autorin Judith Nika Pfeifer erzählt im Gespräch mit Thomas Ballhausen von ihrer Erzählung Violante, über Recherche in der Kunst und die Verbindung von Sprache und politischer Macht.
I. Interview mit Judith Nika Pfeifer
Thomas Ballhausen: Deine literarische Arbeit setzt oft auf dem Zusammenspiel aus Fakt und Fiktion auf, ein Spannungsverhältnis, das ästhetisch produktiv gewendet werden kann, in den letzten Jahren aber verstärkt kritisch in den Medien verhandelt wird – Stichwort fake news. Welchen Einfluss haben Deine Reisen und internationalen Erfahrungen auf Dein Schreiben, etwa auch Deine jüngsten Aufenthalte in den U.S.A.?
Judith Nika Pfeifer: Ich sag mal: Einen großen! Ich arbeite, wenn ich wo eingeladen bin, meistens an ortsspezifischen Projekten, setze mich mit konkreten Orten, realen Räumen und Menschen auseinander – wenn man so will mit den räumlichen Manifestationen. Ausgangspunkt kann eine Idee sein oder eine Landschaft, eine überlieferte oder auch nebenbei aufgeschnappte Geschichte, der öffentliche Raum, ein digitaler oder auch fiktionaler Raum, aktuelle Diskurse und Fragestellungen, Lebensräume unterschiedlichster Art. Ich finde es spannend, diese verschiedenen Orte näher zu erforschen, mit ihnen zu experimentieren und sie zu transformieren. Die Frage nach dem Wie und die Wahl der Mittel sind dabei völlig offen. Es geht mir vor allem darum, die geeignete Methode, Form und das richtige Medium zu finden. Fake news sind, denke ich, so alt wie die Menschheit selbst. Das geht von Klatsch und Tratsch bis zur bewussten Desinformation als politische Kommunikationsstrategie. Der Unterschied zwischen Fakt und Fiktion entspringt aus jenem zwischen Wahrheit und Imagination. Fiktion ist phantasievolles Geschehen. Aber wenn man genau hinsieht, ist diese Beschreibung zu einfach, denn Fiktion ist nie komplett anders als Realität. Sie nimmt auf viele Dinge der Realität Bezug und eignet sie sich an. Die Trennung zwischen Wahr und Falsch löst sich auf, wenn man etwa an Romane denkt, die im Namen der Fiktion Realität kritisieren. Fake news sehe ich als eine Art Konstante der politischen Kommunikation, als ein Phänomen der Desinformation. Diese bewusst lancierten Falschaussagen haben in den vergangenen Jahren eine ganz neue gesellschaftliche Dynamik entwickelt, siehe Brexit oder Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf. Bei meinen Reisen und Aufenthalten in den USA oder auch in Indien war ich jedes Mal wieder erstaunt darüber, wie schnell politische Sprache, also Sprachhandlungen und Strategien gesellschaftliche Auswirkungen zeigen.
T.B.: Wir dürfen einen Ausschnitt aus Deiner erfolgreichen Erzählung Violante abdrucken. In diesem eindringlichen Werk bewegst Du Dich ebenfalls vorsätzlich zwischen Fakt und Fiktion. Wie hat Dein Recherche- und Schreibprozess bei diesem Buch ausgesehen? Was waren die Herausforderungen, die Überraschungen?
J.N.P.: Ja, das war ein unglaublich spannender Prozess, die Recherche, das Schreiben und Herumprobieren. „Violante basiert auf der wahren Geschichte eines Ehrenmordes, geschrieben als furioses Crossover von großer Oper und Quentin Tarantinos blutigen Kino-Thrillern“, wie Herbert J. Wimmer es wunderbar zusammenfasst. Mich hat die Frage der sprachlichen Mittel gereizt: Wie kann man diese Geschichte, diesen Mord, der sich im Jahr 1559 ereignete in der Gegenwart erzählen? Es geht zum einen um alternative Fakten, dann um eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, also um den (meinen) Wunsch, rehabilitierte Mörder zu ent-rehabilitieren, mit diesen Setzungen einer Machtinstitution, es geht um gesellschaftliche Spielregeln, anders umzugehen. Ich muss gestehen, das war ein starker Antrieb, diese Geschichte zu schreiben. Zudem ist Violante eine unheimlich interessante Figur. Wie erzählt man ihre Geschichte, ohne ihr Worte in den Mund zu legen, ohne erneut paternalistisch über sie drüber zu fahren? Wie kann man diese, ihre Geschichte im Hier und Jetzt erzählen? Wie mit all dem historischen Material umgehen? Und wie gesagt, es geht gar nicht so sehr um Violante, mich hat interessiert, was an ihrer Person, was da über sie ausverhandelt wird. Ich wusste, ich wollte und musste mich mit Möglichkeiten spielen, Einiges offen lassen, die Geschichte durch andere sichtbar werden lassen.
Es begann alles damit, dass ich 2015 mit einer artist residency in Paliano in Italien eingeladen war. Bei der Recherche, was es denn Spannendes in und zu Paliano gibt, bin ich durch Zufall auf Stendhals La Duchesse de Palliano gestoßen. Ich habe Stendhals Übertragung eines alten Manuskripts gelesen, zur Seite gelegt, versucht, die wirren Erzählstränge zu durchschauen. Die Herzogin von Palliano war 1559 von ihrem Mann und Bruder ermordet worden. Die Story, all die Wirrungen, die dazu geführt hatten, der Missbrauch von Macht, das hat mich nicht losgelassen, ich musste und wollte unbedingt rausfinden, wer wen wann wie warum umgebracht hat, wollte wissen, wie das alles zusammenhing. Erstaunlich fand ich, dass Violantes Mörder damals vor Gericht kamen und zum Tode verurteilt wurden. Ehrenmord und Femizid waren leider an der Tagesordnung und wurden selten geahndet. Faszinierend an der Geschichte der Duchesse de Palliano ist auch, dass Violante, die Hauptfigur, schwer zu fassen ist. Sie kommt in Stendhals Übertragung nicht wirklich als handelnde Figur vor. Was mich interessierte, war zu schauen und herauszufinden, was denn da über sie verhandelt wird. Violante hat in Stendhals Erzählung keine Stimme, es geht ja gar nicht so sehr um sie. Was da alles auf sie projiziert wird! Sie selbst kommt nur einmal zu Wort, als sie bei ihrer letzten Beichte zitiert wird: „Ich glaube, ich glaube.“
Historische Romane sind nicht so mein Ding, die Behauptung, dass etwas so und so war ist mir zu einfach. Uwe Timm hatte mal gesagt „Alle Stimmen sprechen“. Dieser Satz ist mir wieder eingefallen und ich dachte, das wäre doch eine Möglichkeit, also eine Art Sprachrohr zu sein für alle Stimmen. Und so dieses wirre Netzwerk offen zu legen, all die Ereignisse und Wege, die die beteiligten Figuren nehmen und die Entscheidungen, die sie treffen, so dass und bis es eben zu den Morden kommt. Nach einem Drehbuch-Workshop bei Linda Aronson habe ich dann die erzählerische Struktur entwickelt: experimentell, nicht-linear und mit multiplen Protagonist*innen. Dazu habe ich Expert*innen befragt, die Geschichte also ergänzt und in Cut-up-Manier neu erzählt. All die einzelnen Stimmen sind nun legitime Versionen, die nebeneinander existieren, einander ergänzen. Zeit oder auch Geschichte im herkömmlichen Sinne waren dann plötzlich kein Thema mehr.
T.B.: Was hat Dich dazu gebracht, Dich dieser historischen Frauenfigur zu widmen? Siehst Du die Aufarbeitung einer „weiblichen Geschichte“ auch als Aufgabe an die Gegenwartsliteratur? Kann die Literatur hier vielleicht sogar etwas leisten, was den Wissenschaften so nicht möglich ist?
Mir war es ein Anliegen, die Perspektive der Täter ebenso zu zeigen, wie jene von Violante. Oder sie so zu zeigen, dass ich ihre Position respektiere. Ich habe den Eindruck, ich weiß immer noch so wenig über sie. Ich wollte nicht noch eine Schicht an Mutmaßungen drüberlegen. Deshalb habe ich ihre Geschichte über multiple Protagonist*innen erzählt. Dabei geht es nicht darum, die persönliche Verantwortung der Mörder herunterzuspielen, gerade so, als wären diese ihrer Umwelt willenlos ausgesetzt. Was sich zeigte war vielmehr, wie wichtig die gesellschaftlichen Spielregeln sind und was für eine enthemmende Kraft Macht sein kann. Macht kann korrumpieren. Sie muss es aber nicht. Violantes Geschichte zeigt auf, wie stark menschliches Handeln und die erwähnten Regeln miteinander verbunden sind. In Systemen, und das kann ja durchaus ein Dilemma sein, geht es immer auch um die Reproduktion des Systems, der Einheit des Systems. Ich wollte ganz prinzipiell heraus aus dieser Mann-Frau-Täter-Opfer-Dichotomie. Ich sah meine Aufgabe als die einer Art Chronistin oder eines Mediums, die das durchleuchtet und neue Perspektiven anbietet.
II. Violante (Textauszug)
Ich sage nicht, dass sie nicht tot ist, ich sage nicht, dass es nicht schrecklich ist, dass sie ermordet wurde. Ich sage nur, dass es nichts helfen würde, da was anzuleiern. Einen toten, rehabilitierten Mörder ent-rehabilitieren. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist. Eher äußerst unwahrscheinlich. Und wer weiß, was damals alles dahintersteckte. Der Kontext, wissen Sie, das ewige Raumzeitproblem. Es gibt da eine Kollegin, sie ist Expertin für italienisches Strafrecht, ich schreibe Ihnen ihre Nummer auf. Wenn Sie sie treffen, sagen Sie ihr schöne Grüße, dann haben Sie nur noch das Problem mit der Gegenwart. Der Kontext, sehen Sie, der Rechtsspruch hätte absolut gültig sein können, nach dem damaligen vorherrschenden Recht. Sie brauchen einen Kirchenrechtler, der sich mit dem Recht des sechzehnten Jahrhunderts in Rom auskennt, und selbst dann wissen Sie nicht, ob Mord damals nicht verjährte oder in bestimmten Fällen gar kein Mord war.
Alles beginnt im Nachhinein. In Neapel oder Capriglia zum Beispiel, wo ich am 28. Juni 1476 geboren werde. Es zieht mich früh nach Rom, wo mein Cousin und Mentor Oliviero Carafa, Kardinal und Erzbischof von Neapel, lebt. Ich werde jung Priester. Alexander VI. macht mich zu seinem Kämmerer, man könnte auch Ordonanzoffizier sagen oder Assistent. Papst Julius II. ernennt mich zum Erzbischof von Chieli. Paul III. macht mich zum Kardinal, und schließlich werde ich am 23. Mai 1555 von den zum Konklave eingeschlossenen Kardinälen als Paul IV. zum Papst gewählt. Ich bin achtundsiebzig Jahre alt. Meine positiven Eigenschaften: fürsorglich, intuitiv, sparsam, familienorientiert, feinfühlig, treu. Manche sagen, ich sei überempfindlich, besitzergreifend, reizbar und nachtragend. Vielleicht bin ich etwas passiv.
Sag mal, die anderen reden ohne Unterlass. Wir diskutieren einen Mordfall. Eine Tragödie. Wir ist ein neuronales Weltwirnetz. Du ist eine Reihe von Ichs. Ich ist ein Medium. Zum Mitschreiben. Ich Gianpietro. Ich Violante. Ich Giovanni. Ich Marcello. Carlo. Diana. Domiziano. Papst. Ich Marie- Henri. #me. Ich bin nicht da. I am tired, I am weary. I could sleep for a thousand years. Ich, ein Herzog. Ich, seine geliebte Frau. A thousand dreams that would awake me. Ein Herzog soll seine geliebte Frau töten. Ein Herzog soll seine geliebte Frau töten lassen. A duke has his beloved wife murdered.
Fake news is the new news. Black is the new black. Und die Wirklichkeit die Summe der Möglichkeiten, nicht der Fakten. Ich zitiere Konrad Bayer, der André Breton zitiert. Also in umgekehrter Reihenfolge: zuerst die Fakten, dann die Möglichkeiten.
Der Papstwahl vom 23. Mai gehen tagelange, heftige Auseinandersetzungen zwischen den zum Konklave eingeschlossenen Kardinälen voraus. Gianpietro Carafa wird von nicht wenigen als ein unangenehmer, rauer Typ beschrieben. Und sogar diejenigen, die ihn zum Papst wählen, haben Angst vor seiner Härte und seiner unerbittlichen Frömmigkeit. Die unerwartete Wahl hat umwälzende Folgen in Neapel und Palermo. Innerhalb weniger Tage treffen zahlreiche Mitglieder der illustren neapolitanischen Adelsfamilie Carafa in Rom ein.
Good news für die Carafas: Die drei Neffen des Papstes, die Söhne seines verstorbenen Bruders, des Grafen von Montorio – Tick, Trick und Track –, Giovanni, Carlo und Antonio werden besonders begünstigt. Auf dass sie die Herrschaft religiös-sittlicher Ideen immer mehr zur Wirkung bringen. Auf dass hinter Ideologie militärische Stärke wache. Bad news für Rom und die Welt. Im Papstherz der G*tt des Nepotismus schlägt sich gut. Und Tick, Trick und Track zeigen rasch ihr Gesicht, OMG!, sehen nun eher aus wie die Panzerknacker Ede, Max und Otto – Chapeau, Erika Fuchs!
Die drei Brüder beginnen gleich zu Beginn all jene, die sich ihnen in den Weg stellen, zu enteignen. Machen, was sie wollen, nehmen sich, was sie wollen, Geld, Besitz, Ländereien, Mädchen und Frauen ohne Rücksicht auf Stand, Adel und Herkunft. Pech, wer ihnen ins Auge fällt. Mehr noch, sie lassen sich nicht einmal durch die heilige Abgeschlossenheit der Klöster aufhalten!
Die Brüder in Spitzenpositionen leiten bald eine kuriose Mischung aus Industrie-Holding, Mafia-Clan und einem amerikanischen (süd-us-amerikanisch-egal) Milliardärsregime. Nicht nur das eigene Volk, auch die Botschafter anderer Länder werden respektlos behandelt. #schreckensherrschaft
Für den Abendsalon im Palazzo hat sich Herzogin Violante in Schale geworfen. In ihrer goldfarbenen Robe bezaubert sie sicherlich nicht nur ihren Ehemann Giovanni, Herzog von Paliano. Die rothaarige Diana Brancaccio, ihre Vertraute und eine nahe Verwandte, trägt ein Lied vor.
Die menschliche Stimme kann irrsinnig verführerisch sein. Was für eine Haarfarbe, prachtvoll.
Und so äußerst selten zu sehen.
Es wird geklatscht. Es wird geplaudert. Alle kennen einander, zumindest vom Sehen.
Während der Herzog noch an seinem brokatenen Überrock fummelt, sitzt bei Herzogin Violante alles. Dem Anlass entsprechend erscheint Violante ganz in Gold und Ocker. Ihre Schultern schmückt ein Tuch, das uns sehr bekannt vorkommt.
Violante wird von allen für ihre ungewöhnliche Schönheit und ihre besondere Anmut bewundert.
SIE SIND DAS SCHÖNSTE TRAUMPAAR ROMS! DIE HERZOGIN VIOLANTE UND GIOVANNI CARAFA SIND GUTER HOFFNUNG UND DAS GLÜCK DARÜBER IST IHNEN IN JEDER SEKUNDE ANZUSEHEN.
Glamour herrscht hier auch im Alltag: Wenn man die sechs Meter hohe Eingangshalle betritt, werden die Hauptelemente schnell ersichtlich: fließende Formen, gewölbte Wände, ver-kleidete Treppen und Balkenkonstruktionen, die natürliches Licht zulassen. Durch ein großes Glasdach flutet Tageslicht in die drei Galerien. Was für ein Prunk.
Royal Baby Alert! Paliano’s Giovanni Carafa and Violante di Cardona Expecting Second Child. A royal baby is on the way! GIOLANTE sind guter Hoffnung. While the Duke’s palace isn’t commenting on the happy news, a pregnant-loo-king Violante was spotted recently in Rome alongside her husband Giovanni. Violante is reportedly due in late 1559.
Sie erweckt nicht selten Leidenschaften, doch teilt sie keine.
Ach, das wissen doch alle, dass ihr Mann im Palazzo Besuch von den schönsten und berühmtesten römischen Damen bekommt.
Womit sie sich nicht abfinden mag.
Der Gerechtigkeit halber muss gesagt sein, dass – was sich in den Stunden und Minuten vor ihrem Tod zeigt – man kaum eine größere, stärkere Seele finden könnte als ihre. Und wie süß ihr Sohn doch ist, der kleine Herzog von Cavi. Kennen Sie ihn?
Bitte?
Nicht umdrehen.
Marcello Capecce.
Wo?
Ein entfernter Cousin der Herzogin. Der schönste Mann Roms.
Günstling des Herzogs.
Ach was, der schönste Mann der Welt. Sein Neffe.
Pssst, da kommt er.
Alle setzen ihre Weltdamengesichter auf.
Vielleicht ist er auch nur auf der Suche.
Man nimmt ihn nicht für ganz voll. Dabei ist er bloß verliebt. In die Frau eines anderen, die er sich aus dem Kopf schlagen muss. Er sieht, wie unglücklich sie ist. Sieht, wie ihr Mann, der Herzog, sie vernachlässigt. Er weiß, dass sie weiß, dass der Herzog in seinem Palast Besuch von den schönsten, berühmtesten Damen bekommt. Zwischen ahnen und wissen: Recht haben.
Liebe hat immer recht. #love #liebloseehe #loveyou #love- sucks TEDx Talk. Liebe genießt und schweigt. Violante, was in einem Namen steckt. Like sie nicht, lieb sie. Marcello genießt, schweigt und leidet. Love will find a way. Er wird, er kann ihr NIEMALS seine Liebe gestehen.
Unter den Kaplänen des Papstes gibt es einen Mönch, der mit dem Papst das Brevier betet. Die drei Papst-Neffen gehen eindeutig zu weit, sind gut im Enteignen, Bestimmen, Einschüchtern, Wüten, Betrügen. Eines Tages fasst eben dieser Mönch seinen ganzen Mut zusammen und berichtet dem Papst unter Lebensgefahr – wahrscheinlich auf Bitte und Veranlassung des spanischen Gesandten – von den Verbrechen und Schurkereien der drei Neffen.
Der fromme Papst glaubt ihm kein Wort, will nichts von all dem wissen und schickt den Mönch kurzerhand weg.
Doch seine Sorge, sein Misstrauen, sein Argwohn sind geweckt. Der selektive Blick.
Das Verhängnis will, dass Marcello, der schönste Mann Roms, ach was, der Welt, der hier – Schwenk auf Marcello Capecce – mit schnellen Schritten durch das nächtliche Rom stapft, mit Martuccia, einer der berühmtesten cortigiane Roms, einer absoluten Schönheit, verabredet ist. Es gibt was zu feiern. Nichts Ernstes, rein körperlich.
Und an eben diesem Abend ist sie nicht da, wo sie einander treffen wollten.
Als er sie nirgendwo findet und hört, dass Lanfranchi, Andrea Lanfranchi, der Sekretär des Herzogs von Paliano, ein Fest zu Ehren des Kardinals gibt, ahnt er, wo Martuccia zu finden ist.
Eine Tafel beladen mit Essen. Eine fette Party. Menschen am Feiern. Tanzen. Stimmen. Musik und lautes Lachen. Wein fließt in Strömen. Neujahr 1559. Auch wenn Rom keine nennenswerte Militärmacht ist, bildet es den Mittelpunkt der Welt. Und auch wenn der fromme Papst es nicht gerne sieht: Feiern muss erlaubt sein. Muss ja nicht zusehen.
Lanfranchi – Zoom auf Andrea Lanfranchi – gibt Kardinal Carafa zu Ehren ein prächtiges Abendessen. Damit neben dem kulinarischen Wohl das leibliche – die Unzucht – nicht fehlt, hat er – Zoom auf Martuccia – die schönste, berühmteste und reichste Kurtisane Roms kommen lassen, zu deren Kunden die wichtigsten Männer Roms zählen. Doch heute hat sie nur Augen für Kardinal Carlo, den jüngsten der Carafa-Brüder. Hier beginnt es.
In der Mitte des Saals eine üppig beladene Tafel: Kerzen, Salz, Obstteller, Blütendeko, Perlmuttmuscheln.
Viele aus dem Süden haben in letzter Zeit Karriere gemacht und bekleiden nun wichtige Posten. Und der alte Koch, der vor hundert Jahren das Dorf verlassen und sich längere Zeit in Kairo aufgehalten hatte, kocht immer noch. Roms ospi- talità ist weltbekannt, und Lanfranchis Esstisch ein Beweis dafür.
Heute lebe ich hundert Prozent besser als vor drei Jahren, sagt der Koch. Slaveship punk.
Meint, aus Dankbarkeit wende er sich dem Nächsten zu. Jedermann untertan für die Freiheit. Seine Haltung: Niemand dem anderen Diener und keiner sein eigener Herr. Im besten Sinne selbstvergessen.
An dieses Fest soll sich keiner erinnern, sagt Lanfranchi. Wer sich erinnern kann, war nicht dabei, lacht er.
Der, der da eben aufsteht, um zur Toilette zu gehen: Giovanni Carafa, der älteste der drei Carafa-Brüder und ver- heiratet mit Violante di Cardona aka Violante Diaz-Carlon d’Alife – sie ist nicht im Bild … hier ist sie eingeblendet. Von seinem Onkel, dem Papst, wie gesagt, eben erst zum Herzog von Paliano ernannt. Sein Herzogtum ist groß, besteht aus vielen Dörfern und einigen kleinen Städten. Marc Antonio Colonna noch bis vor Kurzem Herzog von Paliano – auch er ist nicht im Bild – wurde für Giovanni kurzerhand enteig- net. Und bereits jetzt ist der neue Herzog bekannt für seine rauschenden Feste. Die jungen Leute der besten Familien Napolis und Roms – Zoom auf feiernde Menschenmenge – buhlen um die Ehre, eingeladen und in den Freundeskreis aufgenommen zu werden.
Sitzend Carlo Carafa, der jüngste der Brüder, Malteserritter und von seinem Onkel, dem Papst, zum Kardinallegaten von Bologna und Premierminister ernannt, ein typischer Condottiere: ehrgeizig, brutal, entschlossen und gewissen- los. Bedacht auf die Durchsetzung der eigenen Ziele, den Interessen der famiglia absolut treu. Kämpfte unter Alfonso d’Avalos in der Lombardei und im Piemont sowie unter Herzog von Parma Ottavio Farnese in Flandern und Deutschland. Er quittierte enttäuscht die kaiserlich-spanischen Dienste, danach kämpfte er unter Piero Strozzi auf französischer Seite. In seiner Zeit als Soldat begeht Carlo mehrere Rechtsbrüche und Verbrechen. Aus Neapel wurde er 1545 wegen Raubes und Mordes ausgewiesen. Man sagt, er habe in einem Spital verwundete spanische Soldaten ermordet.
Schnee von gestern: Der Papstonkel weiß um Carlos Vergangenheit, erteilte ihm bei der Kardinalserhebung für all seine Verbrechen – genannt wurden Raub, Sakrileg, Diebstahl und Mord – ausdrücklich die Absolution.
Und hier drüben, er lässt sich eben Wein nachschenken – Zoom auf Antonio Carafa –, der mittlere der Brüder, von seinem Onkel zum Marchese von Montebello ernannt. Eine seiner Töchter aus zweiter Ehe wird auf Vermittlung des Papstonkels mit Francois II., dem Dauphin Frankreichs, vermählt. Dazu wollte ihr der Großonkel noch als Mitgift das Königreich Neapel schenken, das er Philipp II., König von Spanien und Sizilien und Neapel, hätte abnehmen müssen.
Zu Mitternacht ist das Fest in vollem Gange: Ausgelassen, dionysisch-dekadent, rauschend. Der Kardinal, der heute Abend so ganz ohne scharlachrotes Ornat – das ihn daran erinnern soll, immer für den Glauben einzu- treten und wenn es bedeute, sein Blut zu vergießen, usque ad effusionem sanguinis – so gar nicht wie ein Kardinal aussieht, deutet Martuccia, sie solle sich auf seinen Schoß setzen.
Sie lächelt, aber wie! und setzt sich auf seinen Schoß.
Was für ein Blick.
Was für ein Lächeln!
Erinnert an antike Tempelprostitution.
Draußen klopft Marcello, begleitet von mehreren bewaffneten Männern, an die Tür. In der Stadt regiert die Gewalt. Diebstahl, Raub und Mord ordnen den Tag. Da wagt sich kaum jemand, egal welchen Standes oder Geschlechts, unbewaffnet auf die Straße. Und wer es sich leisten kann, lässt sich von bewaffneten Männern begleiten. Wer weiß, wozu’s gut ist.
Marcello und seine Männer werden eingelassen, Lanfranchi begrüßt Marcello freundlich, fordert ihn auf, sich zu setzen und mitzufeiern. Nach einem eher kühlen Wortwechsel entdeckt Marcello Martuccia, die auf dem Schoß des Kardinals sitzt.
Marcello winkt ihr, deutet ihr, aufzustehen. Martuccia zögert, der Kardinal hält sie fest. Sie ahnt, was kommen wird. Marcello geht auf die beiden zu, greift nach Martuccias freier Hand und versucht, sie mitzuziehen. Der Kardinal, zu dessen Ehren Martuccia bestellt wurde.
Marcello sagt etwas. Das Fest ist in vollem Gange. Man kann ihn nicht hören. Marcello sieht sehr zornig aus. Und der Kardinal, so aus der Ferne gesehen, übertreibt es wohl ein bisschen.
Nun, ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass stets derjenige Vorrang hat, dem sich die Kurtisane zuerst verpflichtet. Rivalen werden akzeptiert, solange sie der gleichen Gesellschaftsschicht angehören.
Marcello versucht nun, Martuccia mit Gewalt mit sich zu ziehen. Kardinal Carlo hält sie fest. Sie zerren und zerren. Die arme Martuccia, was für ein Herumgezerre! Rundherum das Fest geht weiter, und alle sind ziemlich sternhagelvoll. Kriegen rein gar nichts mit.
Und wenn schon, so ’ne Auseinandersetzung gehört dazu. Bis Martuccia plötzlich entsetzt aufschreit. Weil der Kardinal, der nicht wie einer aussieht, den Degen zieht.
In der einen Hand Martuccias Arm, in der anderen der Degen. Klar ist, der Kardinal will mit all seiner Kraft und Kühnheit, für die er bekannt ist (Mörder & Killer!), verhindern, dass Martuccia geht. Jemand, der in Spitälern Verwundete ermordet, weiß, wie’s geht.
Marcello ruft nach seinen Leuten, in der Mehrzahl Neapolitaner. Sie ziehen ihre Schwerter, stürmen in den Saal. Erst als sie Lanfranchi, immerhin Sekretär des Herzogs, und dann den ungewohnt gekleideten Kardinal erkennen, stecken sie ihre Schwerter wieder ein. So pronto. Flinkest. Jedes Kind weiß: Mit den Carafas legt man sich nicht an. Schon gar nicht mit dem Kardinal. Erst recht nicht wegen einer cortigiana. Der Kardinal ist der Boss. Der Boss hat immer recht.
Martuccia, die nun von Marcello an der linken Hand gehalten wird, gelingt es, seinem Griff zu entschlüpfen. Und während sie aus dem Saal läuft, über die Treppe, stürzt sie und lässt uns mit dem seltsamen Bild ihrer Beine in der Luft zurück, kurz bevor sie unsichtbar wird. Als Marcello ihre Abwesenheit bemerkt, läuft er ihr nach und seine Leute folgen ihm. Was für eine Party.