Editorial ZUKUNFT 12/2024 – Theater – VON ALESSANDRO BARBERI UND HEMMA PRAINSACK

Die inneren Strukturen und Debatten des Kulturbetriebs sind immer auch Symptome eines jeweils gegebenen Gesellschaftszustands. Dies gilt insbesondere für das Theater, dem die Redaktion der ZUKUNFT mit dieser Ausgabe ein eigenes Schwerpunktheft widmet. An der Grenze von seismografischer Gesellschaftsanalyse und politischem Engagement, die ihrerseits buchstäblich dramatisch sind, markieren Theateraufführungen und alle an ihnen beteiligten Akteur*innen einen neuralgischen Punkt, an dem der Zustand der jeweiligen Gegenwart ästhetisch thematisiert und künstlerisch durchgearbeitet wird. Dies gilt insbesondere in der Aufarbeitung historischer Ereignisse wie dem Siebten Oktober Dreiundzwanzig (vgl. ZUKUNFT 10/2024), der – gelinde gesagt – den Kulturbetrieb im „Jahr der Schande“ gespalten hat. Deshalb umfasst diese Ausgabe nicht nur mehrere Beiträge zum Theater, sondern fragt mit weiteren Artikeln insbesondere nach den verschiedenen Formen des Antisemitismus, die im letzten Jahr gerade am Theater mehr als sichtbar wurden. Parallel dazu hat etwa die Wiederwahl von Donald Trump erneut die Problematik des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus vor Augen geführt.

Deshalb freut es die Redaktion der ZUKUNFT den Reigen unserer Beiträge mit einer Rede von Milo Rau eröffnen zu können, die er anlässlich der Eröffnung des Prague Crossroads Festivals im November 2024 gehalten und uns freimütig zur Verfügung gestellt hat. Dabei erinnert Rau u. a. an den Dramatiker Václav Havel, der in einzigartiger Weise die Verbindung von Kunst und Politik, von Theater und Demokratie personifizierte. In diesem Kontext steht auch – im Grunde seit dem Fall der Mauer – die Frage im Raum, was uns nach dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) zu tun bleibt. Was wurde mithin seit 1968 und 1989 aus dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“? Blieb die soziale Demokratie eine Grundlage der Politik oder wurde auch sie auf mehreren Ebenen verraten? Wir bringen diese aufrüttelnde Rede von Milo Rau in der englischen Originalversion und einer deutschen Übersetzung, um gerade angesichts unserer Ausgabe zu Theater auf demokratiepolitische Gefahren im internationalen Rahmen hinzuweisen, von denen auch der Kulturbetrieb gegenwärtig tief betroffen ist.

In diesem Zusammenhang sind immer auch die Frauenfrage und der Feminismus von entscheidender Bedeutung. Deshalb präsentieren wir in der Folge ein Interview mit der Intendantin und Regisseurin Barbara Frey, das Petra Paterno dankenswerterweise für die ZUKUNFT geführt hat. Frey erzählt nicht nur von ihrem Werdegang und der nach wie vor schwierigen und benachteiligten Situation von Frauen am Theater, sondern macht gerade im Blick auf das Theatergeschehen mehr als deutlich, dass diesbezügliche „Strukturen“ keine unverrückbaren Naturgewalten sind, sondern durch politisches Engagement immer auch verändert werden können. Dabei setzt Frey unermüdlich auf Dialog und Austausch, die das Theater – wie auch unsere Gesellschaft und Demokratie insgesamt – im Innersten zusammenhalten. Theaterarbeit ist also immer Gemeinschaftsarbeit, in der gelungener Austausch und Neugier nicht abhandenkommen dürfen, auch wenn man mitunter herbe Enttäuschungen einstecken muss.

Der Beitrag von Gideon Maoz eröffnet dann eine Serie von Interviews, die er für unsere Leser*innen mit vier jüdischen Theatermacherinnen geführt hat, und spricht im Blick auf die Zustände am Theater von einer Revolution im Samtsessel, die großspurig daherkommt, aber genau nichts ändert. Er betont einleitend die mehr als bedenkliche Situation im Kunstbetrieb, kritisiert die am deutschsprachigen Sprechtheater weit verbreitete notorische „Israelkritik“ und berichtet von den Folgen für jüdische Theaterschaffende im Schatten des Massakers vom Siebten Oktober. Dabei erinnert er an Jean Amérys Kritik am linken Antisemitismus und analysiert u. a. die „theatralische Selbstverteidigung“ am Theater. Damit wird auch im Blick auf die Wiener Festwochen deutlich, dass der Antisemitismus im Kleid des Antizionismus keineswegs vor dem Theater haltgemacht hat, sondern weit verbreitet ist.

Aus diesem Grund beschreibt Tania Golden im Interview mit Gideon Maoz, wie sie als Jüdin und Künstlerin nach dem Siebten Oktober Dreiundzwanzig mit zunehmendem Antisemitismus konfrontiert ist, der oft als Kapitalismus- oder Israelkritik getarnt wird. Sie betont die Schwierigkeit, diesen versteckten Antisemitismus zu entlarven und die Notwendigkeit, trotz Gefahren standhaft zu bleiben und klare Positionen einzunehmen. Als Künstlerin setzt sie gerade deshalb auf Humor und Satire, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken und eine transformative Kraft zu entfalten. Ihre Vision ist angesichts des Theaters, durch gemeinsames Lachen und Weinen den Menschen zu helfen, die Realität zu ertragen und zu verändern.

Auch die Schauspielerin und Sängerin Shlomit Butbul schildert ihre frühen Erfahrungen mit Antisemitismus und betont ihre Bewunderung für die Resilienz der Israelis nach dem Siebten Oktober. Besonders beeindruckt sie die Fähigkeit des Landes, sich auch nach schwersten traumatischen Ereignissen neu zu organisieren und zu behaupten. Für Butbul liegt die Wurzel des Antisemitismus in der Angst, der nur mit Empathie und positivem Engagement zu begegnen ist – sowohl auf der Bühne als auch im Alltag, um Brücken zu bauen und Vorurteile nachhaltig zu überwinden. Deshalb braucht das Theater Stücke, in denen der Frieden im Mittelpunkt steht, denn es kann Menschen zusammenbringen, statt sie zu trennen.

Die Bühnenbildnerin Ari Elbert kritisiert in der Folge, dass jüdische Perspektiven im Theater unsichtbar bleiben, obwohl jüdische Themen und historische Ereignisse oft thematisiert werden. Trotz intensiver persönlicher Bemühungen gelingt es kaum, einen Dialog über lebendige jüdische Realitäten zu etablieren. Die antizionistische Perspektive dominiert, während echte Diskussionen über Antisemitismus und Demokratie selten stattfinden. Elbert fordert mehr Sichtbarkeit und Zusammenarbeit jüdischer Kulturschaffender, um differenzierte, demokratische Debatten zu fördern. Auch sie sieht in der Betonung des Gemeinsamen am Theater den einzigen Ausweg für eine friedliche Zukunft. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Die Schauspielerin Nadine Quittner beschreibt dann die Einsamkeit und Isolation jüdischer Theatermacher*innen, die nach dem Terrorangriff der Hamas am Siebten Oktober Dreiundzwanzig im letzten „Jahr der Brüche“ zu intensiven Reflexionen über jüdische und israelische Identität führten. Auch sie betont trotz diverser Herausforderungen die Bedeutung von Gemeinschaft sowie die Notwendigkeit, jüdisches Leben sichtbar zu machen, um die Komplexität der aktuellen Lage im öffentlichen Diskurs zu vermitteln. Im Theater sieht sie deshalb nach wie vor einen wichtigen Raum, um Empathie zu wecken, Vorurteile abzubauen und jüdische Kultur neu zu kommunizieren.

Des Weiteren freut es die Redaktion der ZUKUNFT erneut auf die ZEITGESPRÄCHE mit Gerhard Schmid verweisen zu können. Bereits im Juni 2020 hat die SPÖ-Bundesbildungsorganisation in Zusammenarbeit mit der SPÖ-Bundesgeschäftsstelle, dem Karl-Renner-Institut, dem Roten Rathausklub und der Wiener Bildungsakademie das neue Kommunikationsformat ZEITGESPRÄCHE gestartet. Insgesamt haben bisher hundert Zeitgespräche stattgefunden, wie auch das hier präsentierte mit Erwin Leder zeigt, das rundum betont, dass Gesellschaft Kultur braucht. Leder – bekannt geworden durch den Film Das Boot – ist sehr vielseitig: Er ist Schauspieler, Regisseur, Musiker, Maler, Tänzer. Und Gewerkschafter ist er auch. Als Vorsitzender der Fachgruppe Freiberufliche Schauspieler/innen und Sprecher/innen (Film, Elektronische Medien, freie Produktionen) in der Gewerkschaft younion spricht er im Rahmen dieses Gesprächs u. a. über die soziale und ökonomische Situation von Künstler*innen und erklärt, warum es mehr Budget für die Kunst braucht.

Die ZUKUNFT versteht sich darüber hinaus auch als ein theoretisches Organ, das die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung nicht aus dem Blick verlieren will. Deshalb präsentieren wir zum Abschluss dieser Ausgabe eine Rezension, die Eckhard Jesse für unsere Leser*innen geschrieben hat. Denn vor 100 Jahren wurde in Frankfurt am Main das Institut für Sozialforschung ins Leben gerufen. Philipp Lenhard hat deshalb den Band Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule (2024) publiziert, um die Geschichte des Instituts in seinen ersten 50 Jahren zusammenzufassen. Obwohl bereits eine Reihe von einschlägigen Publikationen vorliegt, fördert Lenhard durch sein Vorgehen neue Erkenntnisse zutage. Ihm geht es, wie Jesse betont, vornehmlich darum, den vielfältigen Netzwerken des Instituts nachzuspüren, die zutiefst mit dem Roten Wien und dem Austromarxismus verbunden waren und sind.

Gemäß unseres Schwerpunktthemas ist es der Redaktion eine große Freude, zahlreiche Theaterarbeiten des Bühnenbildners Bernhard Hammer im Rahmen unserer Bildstrecke zeigen zu dürfen. Ihm ist die Performanz der Bühne wichtig: Die Bühne wird zum Mit- und Gegenspieler für die Schauspieler*innen, ist Reibungsfläche, zwingt auf und ermöglicht eine andere Wirklichkeit, die vielleicht die eigentliche Wirklichkeit ist. Wie seine mannigfaltigen Bühnenkonzepte zeigen, sind unterschiedliche Positionen der Zuschauer*innen ein wichtiges Element für den Ausnahmekünstler, der Zuschauer*innen oft in den Raum mit einbezieht, um sie vorzubereiten, ihre Wahrnehmung herauszufordern und auch zu fördern. Denn da, wo der klassische, geschützte Raum der Guckkastenbühne verlassen wird, kann sich die Sehgewohnheit verändern. Sitzen die Zuschauer*innen nicht im souveränen, leicht ermüdeten Zustand, wird der gewohnte Blick irritiert. Er öffnet sich neuen Perspektiven und schärft die Aufmerksamkeit. Man kommt dabei nicht aus, zu schauen, zu hören, zu spüren. Deshalb hoffen wir, dass unsere Leser*innen mit dieser Ausgabe nicht nur schriftlich, sondern auch visuell angeregt werden, über das Theater nachzudenken.

Die Herausgeber*innen der ZUKUNFT legen mithin im Namen der Redaktion eine Ausgabe vor, die uns angesichts des aktuellen Theaterbetriebs ganz im Sinne der sozialen Demokratie daran erinnern soll, wie wichtig Kunst und Kultur für die Demokratie sind. In diesem Sinne steht das Theater grundlegend für den Zustand unserer Gesellschaft ein …

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

Alessandro Barberi und Hemma Marlene Prainsack

BÜHNENBILDER DER GESAMTEN AUSGABE: BERNHARD HAMMER

BÜHNE / RAUM / OBJEKT / BILD / WIEN

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.

HEMMA MARLENE PRAINSACK

ist Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin. Seit 2020 schreibt sie aus Überzeugung für die ZUKUNFT.