Die Menschenrechte stellen auf lokaler und globaler Ebene einen allgemeinen normativen Rahmen dar, in dem die Menschenwürde als Teil der Demokratie auf mehreren Ebenen geschützt ist bzw. verteidigt werden kann. Denn – so die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 – alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren, sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen. Damit entsprechen sie den Grundannahmen des Humanismus, den rationalen Prinzipien der Aufklärung und den revolutionären Idealen der Französischen Revolution.
Deshalb sind die Menschenrechte auch tief in die programmatische Tradition der Sozialdemokratie eingelassen, die sich in ihrer Geschichte und Gegenwart zu (liberaler) Freiheit genauso bekennt wie zu (sozialer) Gleichheit und eben zu Solidarität. Dabei bleibt zu betonen, dass die Menschenrechte als ethische und juristische Form nicht durch empirische Missstände in Frage gestellt werden können, sondern einen allgemeinen Kompass darstellen, der unsere Handlungen orientieren kann. Sei es, dass z. B. Politiker*innen ihre Entscheidungen an den Menschenrechten ausrichten müssen, oder sei es auch, dass wir in unserer konkreten Alltagspraxis darauf verwiesen sind, die Menschenwürde aller anderen zu achten. Fassen wir deshalb die Goldene Regel einfach zusammen: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.
So ist es auch angesichts des 300sten Geburtstags von Immanuel Kant nicht verwunderlich, dass Ingrid Nowotny mit ihrem Beitrag an den Kategorischen Imperativ erinnert: Denn Freiheit heißt nicht grenzen- und rücksichtslos seinen Willen durchzusetzen, sondern muss sich in kollektivem und gemeinschaftlichem Sinne mit dem Freiheitsstreben der Mitmenschen verbinden und also die Menschenrechte achten. Gerade aus dieser juristischen und ethischen Perspektive diskutiert unsere Autorin die normative Kraft der Menschenrechte, untersucht sie in ihrer historischen Entwicklung im Blick auf Österreich und erläutert ihre Rolle und Funktion in der Gegenwart. Dabei steht vor allem angesichts des Rechtspositivismus und der an Kant orientierten Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen das Spannungsfeld zwischen Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit im Blickpunkt des Erkenntnisinteresses. Wenn wir als Demokrat*innen bereit sind, unsere „offene Gesellschaft“ zu achten und zu verteidigen, so gilt es auch zwischen Recht und Gerechtigkeit zu unterscheiden, weshalb sich für Nowotny aus den Prinzipien der (liberalen) Freiheit angesichts der Menschenrechte und ihrer Rolle im Völkerrecht auch eine Verantwortung für (soziale) Gleichheit ergibt. Conclusio: Niemand darf unterdrückt oder einer sozialen oder wirtschaftlichen Macht unterworfen werden – was aber nicht Absage an gesellschaftliche oder staatliche Ordnungsprinzipien heißt. Vielmehr ist es staatspolitisch geboten, sich dem ständigen Diskurs über die Menschenrechte zu stellen und ihre Konkretisierung zu fordern und umzusetzen.
Auch der neukantianische Philosoph Wolfgang Wein reflektiert das Verhältnis von Vernunft, Freiheit und Universalismus, wenn er Immanuel Kants Grundlegung der Aufklärung und der Menschenrechte zum Gegenstand unserer Diskussion macht. Denn zwischen dem „Reich der Notwendigkeit“ und dem „Reich der Freiheit“ (Kant) unternimmt er es, grundlegende Begriffe der Aufklärung in ihrer dringlichen Aktualität zu diskutieren. Dabei wird im Blick auf ihre Prinzipien und Voraussetzungen nicht nur deutlich, wie stark wir gerade im Blick auf die Menschenrechte nach wie vor von der Aufklärung getragen werden, sondern auch, was angesichts der gegenwärtigen Diskussionen der politischen Philosophie als heutige Aufklärung begriffen werden muss. Im Rückgriff auf Descartes Dualismus geht auch Wein von der Freiheit der Menschen aus, um daran zu erinnern, dass die Philosophie Kants mit der Deklaration der Menschenrechte im Rahmen der Französischen Revolution zutiefst verbunden war. Insgesamt schließt Wein mit einem deutlichen Plädoyer für den Universalismus der Aufklärung, ohne den die Allgemeinheit und Normativität der Menschenrechte weder gedacht noch realisiert werden kann.
Ganz in diesem Sinne kümmert sich auch Georg Koller um die Gefahr der Zerstörung des Universalismus, die nicht zuletzt aus der Ecke des Kulturrelativismus und der Postmoderne droht. Denn angesichts von Post- oder Transhumanismus ist es mehr als nötig, das „Verschwinden“ (Foucault) oder das „Durchschneiden“ (Luhmann) des Menschen aus rationaler und humanistischer Perspektive scharf zu kritisieren. Gerade angesichts der Menschenrechte benötigen wir einen allgemeinen Begriff der Menschengattung, der als philosophische und d. i. kritische Anthropologie in der (individuellen) Freiheit die (kollektive) Gleichheit und in der (gemeinschaftlichen) Gleichheit die (subjektive) Freiheit fassen und sehen kann. Aus dieser Perspektive können Humanismus, Aufklärung und moderne Wissenschaft gerade nicht negiert und relativiert werden, weil logisches Denken, rationale Kritik oder wissenschaftliche Argumentation die Grundlage für eine richtige Bestimmung der objektiven Realität und damit auch gesellschaftlicher Problemlagen darstellen. Koller verdeutlicht dies, indem er z. B. die Sprachspieltheorie Lyotards darauf bezieht, dass sie jede Objektivität verunmöglicht und damit à la longue auch die Allgemeinheit der Menschenrechte ihre konkrete Verankerung verliert.
Über unser Schwerpunktthema hinaus freut es die Redaktion der ZUKUNFT mit dem Beitrag von Roland Benedikter der Zukunftsforschung breiten Raum geben zu können. Denn Ende November 2023 fand in Dubais Museum der Zukunft das zweite Weltzukunftsforum statt. Es ist das jährlich größte Treffen von Zukunftsexpertinnen der Welt mit mehr als 2500 Teilnehmerinnen aus 100 Ländern von 100 Institutionen. Die Themen reichten von neuen Technologien über die Revolution in der Landwirtschaft bis zum Weltraum und neuen Kulturhaltungen. Der Politikwissenschaftler, Soziologe und Zukunftsforscher Benedikter nahm daran teil und berichtet im Namen der ZUKUNFT über die wichtigsten Eindrücke. So geht es im Blick auf eine nachhaltige Zukunftsgestaltung in einem ersten Schritt darum, falsche Vorstellungen von Zukunft abzubauen, um Raum für das wirklich Mögliche zu schaffen. Dieses Mögliche zu realisieren, setzt gerade im Rahmen der Demokratie eine hohe Qualität der sozialen Interaktion voraus, wie auch eine Offenheit für mehrerer „Zukünfte“ unabdingbar ist. Das Dubai Zukunftsforum wird im September 2024 mit der dritten Auflage – bei ähnlichen bis identischen Themenschwerpunkten – fortgesetzt.
Die Leser*innen der ZUKUNFT konnten sich schon mehrfach über die Zusammenfassungen von ZEITGESPRÄCHEN freuen. Denn im Juni 2020 hat die SPÖ-Bundesbildungsorganisation in Zusammenarbeit mit der SPÖ-Bundesgeschäftsstelle, dem Karl-Renner-Institut, dem Roten Rathausklub und der Wiener Bildungsakademie das neue Kommunikationsformat ZEITGESPRÄCHE mit Gerhard Schmid gestartet. Und so können wir auch in dieser Ausgabe ein bemerkenswertes Gespräch mit dem sozial hoch engagierten Hip-Hopper Kid Pex alias Petar Rosandić präsentieren, der gegen Ungerechtigkeit und Ausländerfeindlichkeit rappt und sich als Obmann von SOS-Balkanroute nachdrücklich für Flüchtlinge einsetzt. Dabei formuliert der Wiener „Tschuschenrapper“, wie Rosandić sich selbst nennt, deutliche Kritik an Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit, um ganz konkret von diesbezüglichen Problemlagen zu berichten. Er war in vielen Krisengebieten, hat humanitäre Katastrophen und menschenunwürdige Lebensbedingungen gesehen, etwa die Flüchtlingslager Vučjak und Lipa nahe der Grenze zu Kroatien. Bei seinen Hilfsprojekten kommt ihm seine Fähigkeit, über konfessionelle, ideologische und nationale Grenzen hinweg, vermitteln und organisieren zu können, zugute, was für uns alle als menschliches Vorbild dienen kann.
Bereits mit dem letzten Heft der ZUKUNFT haben wir mit unserer Bildstrecke das Projekt Turning the Tide vorgestellt, an dem sehr renommierte, internationale Künstler*innen teilnehmen, weshalb es uns auch mit dieser Ausgabe freut, das Werk der griechischen Ausnahmekünstlerin Eva Andronikidou präsentieren zu dürfen. Die Umweltkrise und insbesondere das Element Wasser waren in ihren jüngsten Kunst- und Architekturarbeiten von großer Bedeutung, wofür unsere gesamte Bildstrecke steht. Bernd Herger hat Andronikidou interviewt, weshalb sie am Ende unserer Ausgabe mehr als deutlich macht, worum es in ihren Bildern geht.
Der Herausgeber legt mithin im Namen der Redaktion eine Ausgabe vor, die sowohl theoretisch als auch praktisch den allgemeinen Rahmen der Menschenrechte abstecken soll. Es ist uns im Sinne von Humanismus, Aufklärung und Wissenschaft ein eminentes Anliegen politische Philosophie und politische Praxis im Namen der Menschenwürde zu verbinden, um demokratische „Zukünfte“ für alle Bürgerinnen wirklich werden zu lassen. Wir wünschen den Leserinnen unserer ZUKUNFT ganz in diesem Sinne anregende Stunden der Lektüre …
Es sendet herzliche und freundschaftliche Grüße
Alessandro Barberi