Der Tech-Feudalismus ist alles andere als notwendige Herrschaft VON SIGHARD NECKEL UND CHRISTIAN ZOLLES

Im Interview mit CHRISTIAN ZOLLES erläutert der Soziologe Sighard Neckel seine These der Refeudalisierung und bringt sie in Bezug zu aktuellen soziopolitischen Entwicklungen. Dabei geht es um die Erosion politischer und medialer Öffentlichkeit im Zeichen einer kapitalistischen Refeudalisierung. Beispiellos ist die ungeheure Reichtumskonzentration und das Zusammenspiel von ökonomischer und politischer Macht, die nun auch die (algorithmischen) Regeln für die bürgerliche Öffentlichkeit vorgeben möchte. Diese aggressiven oligarchischen Züge scheinen wie aus der Zeit gefallen, prägen aber heute die politische Gegenwart.

Christian Zolles (ZUKUNFT): Wir haben im öffentlichen Diskurs eine zunehmende Rückkehr zu Themen und Narrativen erlebt, die man eigentlich längst überwunden geglaubt hat: Staatsoberhäupter inszenieren sich als Souveräne, die wie selbstverständlich über der Gewaltenteilung agieren wollen; imperiale Denkmuster wurden reaktiviert, verbunden mit einer Remythisierung von nationalen Geschichtsbildern; alte Heldenstereotype werden propagiert usf. In ökonomischer Hinsicht wurden Begriffe wie ,Neo-‘ und ,Technofeudalismus‘ gebildet, um die neue Herrschaftsform von Megakonzernen und Techno-Giganten zu beschreiben. Und um die Einschätzung dieser Begriffe soll es im Folgenden gehen. Wie brauchbar halten Sie diese generell? Sollten wir tatsächlich auf eine an sich schon umstrittene mittelalterliche Feudalismus-Kategorie zurückkommen, um die Gegenwart im 21. Jahrhundert zu beschreiben, der doch eine komplett andere Sozial- und Wirtschaftsform zugrunde liegt?

Sighard Neckel: Zunächst würde ich Ihre Beobachtung teilen, dass wir so etwas wie eine Rückkehr von Kategorien und Denkweisen erleben, die scheinbar aus der Zeit gefallen sind, weil sie dem Geist eines demokratischen Kapitalismus widersprechen, von dessen Tragfähigkeit wir insbesondere nach dem Epochenbruch 1990 eigentlich überzeugt waren. Dieser Geist des demokratischen Kapitalismus ist in verschiedenster Weise unter Druck geraten: Ökonomisch, als sich die kapitalistische Marktwirtschaft in eine Richtung entwickelt hat, die sich als Kapitalismus ohne Bürgerlichkeit charakterisieren lässt. Politisch, als der demokratische Verfassungsstaat durch die rapide Zunahme oligarchischer und autoritaristischer Entwicklungen überall auf der Welt eine umfassende Delegitimierung erfährt. Heute beanspruchen auch in der westlichen Welt politische Machthaber Souveränität, ohne sich noch auf demokratische Prozeduren stützen zu wollen. Dies erleben wir gerade in den Vereinigten Staaten, wo die Trump-Administration gewissermaßen einen regierungsamtlichen Staatsstreich unternimmt, der darauf hinausläuft, demokratische Institutionen nicht nur zu schwächen, sondern im Interesse einer weitgehend unbeschränkten politischen Machtausübung vollständig umzubauen. Insofern ist es unbestreitbar, dass wir uns in einem Prozess gesellschaftlicher Regression befinden, in dem ökonomische Modelle und politische Herrschaftsformen wieder zur Geltung kommen, die wir meinten, längst überwunden zu haben.

Gegenüber den Bezeichnungen ‚Feudalismus‘ oder ‚Neofeudalismus‘ bin ich in dieser Generalisierung allerdings skeptisch. Diese Begriffe erwecken den Eindruck, wir würden in ein früheres Zeitalter zurückfallen. Davon kann aber so nicht die Rede sein. Natürlich leben wir nicht in einem Feudalismus, in dem eine geburtsständische Aristokratie herrschende Klasse ist, die das rechtlose Volk ausbeutet und deren politische Macht höchstens noch einer kaiserlichen Oberherrschaft untersteht.

DIE GLOBALE FINANZKRISE
VON SIGHARD NECKEL, LUKAS
HOFSTÄTTER UND MARCO HOHMANN
Frankfurt am Main: Campus
250 Seiten | € 34,00 (kartoniert)
ISBN: 9783593509006
Erscheinungstermin:
Juli 2018

ZUKUNFT: Und dennoch stützen Sie sich seit rund fünfzehn Jahren selbst auf den Begriff der ‚Refeudalisierung‘, wie ihn Jürgen Habermas in seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit Anfang der 1960er-Jahre eingebracht hat.

S. N.: Mit Refeudalisierung stelle ich auf einen Prozess ab, der in paradoxer Weise mit der Modernisierung des gegenwärtigen Kapitalismus aufs Engste verbunden ist. Was jetzt etwa als ‚neofeudal‘ bezeichnet wird, ist nicht ein Rückfall in die Vergangenheit, sondern Ergebnis der modernsten Entwicklungen des Kapitalismus selbst, der ökonomische Organisations- und politische Herrschaftsweisen hervorbringt, die sich mit den Maximen einer bürgerlichen Gesellschaft nicht vertragen. Am Ende einer solchen paradoxen Entwicklung der Modernisierung des Kapitalismus steht die Wiederkehr vormoderner politischer und ökonomischer Muster.

Refeudalisierung wird sichtbar zum einen an dem historisch beispiellosen Reichtumszuwachs bei den gesellschaftlichen Oberklassen. Noch nie in der Geschichte sozialer Ungleichheit hat es einen solch gewaltigen Unterschied zwischen den Milliardären und Multimillionären und den gewöhnlichen Bürger*innen gegeben. Dieser einmalige Reichtumszuwachs wiederum verdankt sich nicht zuerst unternehmerischen Erfolgen, sondern wesentlich einem eigentlich zutiefst unbürgerlichen Prinzip, nämlich dem Prinzip der Vererbung. Für die Pilgrimfathers, die in den Vereinigten Staaten den Geist des Kapitalismus geprägt haben, galt noch, dass ein ehrenwerter Mann mit leeren Taschen in die Grube fährt. Die Vordenker des Liberalismus, etwa Adam Smith, haben das Prinzip der Vererbung als Relikt der aristokratischen Epoche begriffen. Dieses unbürgerliche Prinzip stellt aber heute mehr und mehr die wichtigste Grundlage der enormen Reichtumskonzentration dar. 75 Prozent aller Milliardäre und Multimillionäre in Deutschland haben ein Gutteil ihres Vermögens ererbt.

ZUKUNFT: Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚Rentierskapitalismus‘ …

S. N.: Insbesondere nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008 wurde der Öffentlichkeit klar, dass sich die Profite der Finanzindustrie nicht Investitionen verdanken, die mit einem unternehmerischen Risiko verbunden wären, sondern schlicht den Besitztiteln auf Vermögensgrößen, für die man Gewinne in Form von Arbitragen, windfall profits oder Spekulationserträgen kassiert. Dies hat mehr Ähnlichkeit mit den Renten feudaler Grundherren als mit dem Mehrprodukt, das sich der bürgerliche Unternehmer aneignet. Der Kapitalismus war ja nicht zuletzt deswegen eine vielfach erfolgreiche Wirtschaftsweise, weil mit dem Streben nach Profit notwendigerweise ein produktiver Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung verbunden war – um deren Anteile dann soziale Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe entbrannt sind. Heute jedoch haben sich die Finanzmärkte von gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozessen weitgehend unabhängig gemacht. Mit Folgen auch für die Unternehmen, die ihr Investitionskapital heute überwiegend von den Finanzmärkten beziehen. Damit hat sich in der Wirtschaft insgesamt die Logik der Finanzmärkte verbreitet.

ZUKUNFT: Inwiefern trägt diese Entwicklung konkret zur Vertiefung sozialer Ungleichheit bei?

S. N.: Wir sehen das sozialstrukturell in einer geradezu ständisch geschlossenen Oberklasse, die sich fortwährend aus den eigenen Kreisen selbst reproduziert. Insgesamt verzeichnet die Ungleichheitsforschung einen gravierenden Rückgang sozialer Mobilität. Über die letzten Jahrzehnte hat sich mehr und mehr eine stationäre Sozialstruktur herausgebildet, in der insbesondere Aufstiegsprozesse eigentlich kaum noch zu beobachten sind, höchstens Abstiege vor allem aus der unteren Mitte. Mit dieser Entwicklung hat auch eine Refeudalisierung zentraler Normen eingesetzt. Etwa die faktische Erosion eines Leistungsprinzips, das zwar öffentlich andauernd beschworen wird, tatsächlich aber in keiner Relation mehr zu den Erträgen der wirtschaftlichen Oberklassen steht. So verdienen in Deutschland die DAX-Vorstände im Durchschnitt 41mal mehr als der Durchschnitt ihrer Beschäftigten, mit Spitzenwerten wie bei VW, wo der Vorstandsvorsitzende 72mal so viel wie im Durchschnitt die Beschäftigten des Unternehmens erhält. Niemand kann eine solch gewaltige Kluft noch mit Unterschieden in der jeweiligen Leistungserbringung erklären. Das ist Beutekapitalismus, rent-seeking-behaviour, eine Verabschiedung des Leistungsprinzips von oben, zugunsten des reinen finanziellen Erfolgs.

ZUKUNFT: Und dieser Prozess ist nur zu begreifen mit einer gleichzeitig stattfindenden Präkarisierung von Lohnarbeit?

S. N.: Die Aushebelung bürgerlicher Erwerbsprinzipien oben findet unten seine Entsprechung in der Prekarisierung der Arbeit. Immer mehr Menschen arbeiten nicht unter den rechtlichen Bedingungen von Arbeitsverträgen. Ständig größer wird der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor oder im Mindestlohn, weit unterhalb von Vergütungen, die nur in etwa ihren Leistungen entsprächen. Weltweit ist eine Rückkehr zu unfreier Arbeit zu beobachten, wo Menschen in Verhältnissen persönlicher Abhängigkeit stecken, die ihre Arbeitsleistungen erzwingen. Und das ist nicht nur in Indien oder Usbekistan der Fall, sondern auch bei uns, z. B. im Umfeld zahlloser dubioser Subunternehmen. Den nach Karl Marx „doppelt freien Lohnarbeiter“, der frei von Produktionsmittel ist und seine Arbeitskraft daher zu Markte tragen muss, der dabei aber auch rechtlich frei in seinen Entscheidungen ist, wird man hier immer weniger finden.

ZUKUNFT: Das bedeutet, dass für diese Lohnarbeit auch keine Sozialpolitik mehr greift?

S. N.: Sozialpolitik wurde im demokratischen Kapitalismus als eine staatliche Aufgabe begriffen, um die sozial schädlichsten Auswirkungen der Arbeitsmärkte zu begrenzen. Der Neoliberalismus hat all diese sozialpolitischen Einrichtungen seit den 1980er-Jahren geschliffen. Stattdessen wird Sozialpolitik privatisiert. In der Reichtumsklasse nimmt das häufig die Form von Charity an: Stiftungen mit immensen Summen, die nach dem Gutdünken Einzelner die Welt verbessern sollen, denken wir etwa an Bill Gates. Das soll hier gar nicht verurteilt werden. Nur, würde man diese extrem hohen Vermögen tatsächlich anständig besteuern, bräuchte es die Charity der Reichen und Superreichen nicht, die auf rein private Willkür gegründet ist. Verzichtet man darauf, breitet sich die Vorstellung aus, Wohlfahrt sei am besten privat zu organisieren, wie im Grunde genommen der Staat überhaupt.

ZUKUNFT: Elon Musk ist monatelang im Weißen Haus ein- und ausgegangen, ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler landete nach dem Ausscheiden aus der Politik postwendend in der Gruppe von Peter Thiel. Das sind Beispiele für das, was Sie schon beschrieben haben, die Aufhebung der Trennung von ökonomischer und politischer Sphäre. Sie stehen aber auch eng im Zusammenhang mit der Erosion von Öffentlichkeit. Inwiefern?

S. N.: Bisher war es eher so, dass die Klasse reicher Investoren zwar zunehmend die Weltmärkte beherrschte – die Politik aber hat man Stellvertretern überlassen und sich selbst nicht aktiv eingemischt. Diese Zeit ist vorbei. Heute erleben wir, dass insbesondere die Tech-Kapitalisten selbst danach streben, die politische Ordnung zu bestimmen. Und da spielt natürlich der Einfluss auf die Öffentlichkeit eine große Rolle.

Für den demokratischen Kapitalismus galt ja zumindest ideell die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, von Wirtschaft und Politik, von Privat und Öffentlich. All diese Unterscheidungen werden gerade zunichtegemacht. Natürlich haben wirtschaftlich einflussreiche Kreise immer schon versucht, auch die Öffentlichkeit zu beherrschen. Aber das Ausmaß, in dem jetzt die Tech-Konzerne vermittels der Plattformen und der Social-Media-Kanäle Einfluss auf die Öffentlichkeit nehmen, ist beispiellos. Mehr noch, was wir einst unter Öffentlichkeit verstanden, wird selbst umgebaut. Öffentlichkeit als eine selbstständige Sphäre, die sich auch gegen ökonomische und politische Mächte behaupten kann, verwandelt sich in einen privaten Besitz und wird über die Steuerung der Algorithmen von den Mächtigen selber beherrscht. Man muss kein idealisiertes Bild von Öffentlichkeit haben, um darin einen Niedergang zu sehen, von dem sich etwa Jürgen Habermas, der Philosoph der Öffentlichkeit, noch gar keine Vorstellung machen konnte.

ECHNO-FEUDALISMUS
WAS DEN KAPITALISMUS TÖTETE
VON YANIS VAROUFAKIS
München: Kunstmann
320 Seiten | € 28,79
(Gebundendes Buch)
ISBN: 978-3956146046
Erscheinungstermin:
12. September 2024

    ZUKUNFT: Was halten Sie von Analysen wie diejenige von Janis Varoufakis, die von einem ‚Technofeudalismus‘ sprechen?

    S. N.: Recht hat Varoufakis meines Erachtens darin, dass das ökonomische Prinzip, nach dem der Tech- oder Plattform-Kapitalismus funktioniert, nicht eigentlich kapitalistisch ist, sondern auf Prinzipien beruht, die wesentlich älter als der Kapitalismus sind. Die Tech-Kapitalisten besitzen die Plattformen und die Algorithmen, nach denen sie funktionieren. Als User*innen stellen wir den Plattformen unsere Arbeitskraft quasi unentgeltlich zur Verfügung, weil wir mit unseren Aktivitäten diese Algorithmen permanent anreichern und optimieren. In Zeiten von Künstlicher Intelligenz ist das ein besonders lohnendes Geschäft. Die Tech-Kapitalisten erwirtschaften auf diese Weise Gewinne wie Großgrundbesitzer in vorkapitalistischen Zeiten. Sie stellen uns ihren digitalen Grund und Boden gewissermaßen als Lehen zur Verfügung, für dessen Nutzung sie unbezahlte Arbeit von uns erhalten. Wenn Varoufakis in diesem Zusammenhang von Technofeudalismus spricht, dann ist da schon etwas dran.

    Kritisch bin ich bei seiner Behauptung, dass sich damit der Kapitalismus selbst abschaffen würde. Aus meiner Sicht ist der Tech-Feudalismus eher eine Bestätigung meiner Refeudalisierungstheorie, wonach aus den modernsten Entwicklungen des Kapitalismus selbst heraus vormoderne Wirtschafts- und Herrschaftsformen entstehen. Das ist aber kein Abschied vom Kapitalismus, da tragende Institutionen des Kapitalismus wie Privateigentum oder Profit nicht nur weiter bestehen, sondern noch einmal auf das Äußerste gesteigert werden. Insofern erleben wir kein Ende des Kapitalismus, sondern erneut einen gravierenden Formwandel der kapitalistischen Ökonomie.

    ZUKUNFT: Wie sieht es konkret mit dem ideologischen Überbau dieser Zusammenballung ökonomischer, politischer und medialer Macht aus?

    S. N.: Peter Thiel etwa vertritt schlicht die These, dass Freiheit und Demokratie nicht zu vereinbaren sind, wobei er unter Freiheit die individualistische Freiheit der Besten und Reichsten versteht, die von der demokratischen Staatsform nur an ihrer Entfaltung gehindert würden. Souveränität bezieht sich allein auf die Autonomie der Mächtigen, nicht auf die politische Ordnung aller. Historisch betrachtet, kann man darin so etwas wie die Wiederkehr der reaktionären Kritik sehen, die von den Eliten des ancien régime an der Französischen Revolution geübt worden ist. Auch damals hieß es, dass Demokratie die besten Kräfte bremse, weshalb sich aristokratische Prinzipien auch in der Demokratie am Ende immer wieder durchsetzen würden.

    Faktisch erleben wir heute aber eine extrem eigennützige Privatisierung des Staates. Als etwa Elon Musk vom amerikanischen Präsidenten mit der Deregulierung der Wirtschaftsgesetze in den Vereinigten Staaten beauftragt wurde, schaffte er im politischen Auftrag wirtschaftliche Regulierungen ab, die ihn als Unternehmer selbst betroffen haben. Er handelte also politisch im rein privaten Interesse. Das sehen wir derzeit überall in den USA. Donald Trump verwendet sein politisches Amt zur Maximierung seines persönlichen und familiären Reichtums, wie er ja auch nur mit Hilfe der immensen Zuwendungen der Milliardärsklasse ins Amt gelangen konnte – allein von Elon Musk bekam er 270 Millionen Dollar für seine Kampagne. Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie die Trennung von Gesetz und Wirtschaft in sich zusammenfällt und sich die wirtschaftliche Macht Einzelner nunmehr bruchlos in die Beherrschung des Staates und des Gemeinwesens übersetzt. Und auch dies ist ein Zeichen von Refeudalisierung.

    ZUKUNFT: Kommen wir zu den noch verbliebenen Möglichkeiten, autonome bürgerliche Handlungsräume zu bewahren. Sind wir bereits unausweichlich den Plattformen, Algorithmen und Cloud-Kapitalien ausgeliefert oder sind doch noch Alternativen denkbar?

    S. N.: Im Augenblick bin ich, ehrlich gesagt, zu optimistischen Aussagen über die gesellschaftliche und politische Entwicklung kaum fähig. Aber natürlich bleiben Alternativen denkbar. Man könnte sogar auf ein altes Modell des gesellschaftlichen Wandels zurückgreifen, das einst von Karl Marx begründet und dann von Theoretikern der Frankfurter Schule wie Herbert Marcuse noch einmal aufgenommen wurde – dass nämlich gesellschaftliche Veränderungen möglich werden, wenn bestehende Institutionen Ausdruck einer überflüssigen Herrschaft sind, die für die gesellschaftliche Reproduktion überhaupt nicht benötigt wird.

    Nehmen wir den Tech-Feudalismus. Er hat sich den weltweit vernetzten digitalen Raum zur monopolistischen Beute gemacht, obgleich diese weltweiten Netzwerke solcher Monopolisten im Grunde genommen gar nicht bedürfen. Es sind durchaus andere digitale Eigentumsformen denkbar, und die weltweite Vernetzung von Informationen würde auch ohne diese Monopolisten funktionieren, wahrscheinlich sogar erheblich besser. Der Tech-Feudalismus ist mit anderen Worten alles andere als „notwendige Herrschaft“.

    In der jüngeren Generation mit ihren ganzen digitalen Kompetenzen regt sich ein verbreiteter Unmut gegen ihre tech-feudalistische Abhängigkeit, vor allem dagegen, wie Algorithmen systematisch manipuliert werden. Und diese Generation verfügt über die ganzen Skills des digitalen Zeitalters, die sie auch gegen die Feudalherren des Internets in Anschlag bringen könnte. Wer weiß, ob aus ihrem Unmut nicht auch ein politischer Kampf um die demokratische Souveränität im digitalen Raum werden kann.

    Sighard Neckel © Kathrin Spirk

    SIGHARD NECKEL
    ist Professor Emeritus für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg und Senior Permanent Fellow der dortigen DFG-Kolleg-Forschungsgruppe Zukünfte der Nachhaltigkeit. Er hat umfangreich zur Gesellschaftsanalyse des modernen Kapitalismus publiziert und zuletzt zu den sozialen Konflikten um Nachhaltigkeit. Weiterführende Informationen online unter: www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/ueber-den-fachbereich/personen/neckel-sighard.html

    CHRISTIAN ZOLLES
    ist Kulturhistoriker und Hochschul-/Lehrer. Er lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/

    Das Interview wurde im Rahmen eines Projektvorhabens zur Aufarbeitung des Nachlebens feudal-aristokratischer Formen und Haltungen in demokratischen Gesellschaften durchgeführt. Die Forschung daran wurde unterstützt durch den österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF, Grant-DOI: 10.55776/J4728).