In seinem Essay schreibt der Beststellerautor DANIEL WISSER über die Krise der Demokratie in Zeiten eines neokonservativen und reaktionären Revisionismus. Er stellt fest, dass, wenn es heute eine Krise der Demokratie gibt, es eine Krise der Weiterentwicklung der Demokratie ist. Alle Vorstellungen davon, zu alten, überwundenen Herrschaftsformen zurückzukehren, erweisen sich als weltfremd, verkitscht und ungenau.
Kapitalistische Politik braucht Krisen. In Krisen ist es einfacher, die Gesellschaft zu manipulieren, Preissteigerungen zu begründen, die Produktion zu straffen. Und gibt es keine Krise, dann wird die Krise eben produziert. Der wesentliche Effekt bei der Konstruktion einer Krise ist also eine Mehrbelastung der Arbeitenden und Konsumenten gleichzeitig. Dazu kommt, dass die Krise Chancen des Revisionismus bietet, also dem Umschreiben der Geschichte. Autoritäre Herrschaftsformen betreiben stets Revisionismus. Sie erlauben keine dialektische Geschichtsbetrachtung, sondern Erschaffen eine einseitige Geschichtsbetrachtung, die der Selbstmotivation dient.
Die Krise der Demokratie von der heute die Rede ist, ist eine Krise, die die immer stärkere Kumulation des Kapitals und der Produktionsmittel in den Händen weniger sehr reicher Konzerne und Einzelpersonen hervorgerufen hat. Ihr Kapital gibt ihnen die Möglichkeiten Personen, Medien, Parteien, ja ganze Staaten unter Druck zu setzen, zu korrumpieren, zu kaufen. Dabei interessiert sie ausschließlich ihr eigener Vorteil. Die Demokratie steht dabei im Weg, die Arbeitsbedingungen und Kapitalfluss reguliert, politischen Wettbewerb zulässt, Meinungs- und Redefreiheit fordert. All das ist zum Feindbild der Kapitalkumulation geworden.
Die Vergangenheit wird bemüht, um verklärte sehnsuchtsvolle Blicke in frühere Zeiten zu werfen. Das ist in Österreich besonders leicht. Die Zeiten der sogenannten Donau-Monarchie haben in der Populärkultur von jeher für verkitschte und das Totalitäre der neoabsolutistischen Herrschaft völlig ausblendende Darstellungen gesorgt. Etwa in den immer noch populären Sissi-Filmen. Aber auch in jüngeren Machwerken, wie dem Song I Am from Austria, der mit dem Satz Dei’ hohe Zeit ist längst vorüber beginnt. Vor jedem Fussballmatch der österreichischen Nationalmannschaft wird dieses Lied gesungen. Zigtausende haben seinen Text im Kopf. Sie denken nicht an die Gewalt und den Schrecken der Monarchie, daran, dass diese Monarchie die Brutstätte für das Aufkeimen eines militanten, gewaltsamen Anti-Semitismus war, der später die Demokratie und das Land abermals zerstören sollte. Sie denken nicht daran, dass diese Monarchie sich durch das Anzetteln eines sinnlosen, brutalen Kriegs, der Millionen Menschen das Leben gekostet hat, selbst vernichten sollte.
Die Vorstellungen von der Monarchie in den Köpfen der neo-faschistischen Oligarchen, sind wohl nicht sehr elaboriert. Das ist auch nicht nötig. Der Milliardär Peter Thiel, der oft zur Absonderung seiner als Zukunftsvisionen getarnten Schwurbeleien von Medien eingeladen wird, hat offen ausgesprochen, dass er gegen die Demokratie ist und sich für die Etablierung einer Monarchie ausgesprochen. Wie er sich das konkret vorstellt, sagt er nicht. Inmitten seiner Visionen von Kryonik, Unsterblichkeit und einem Neo-Neo-Absolutismus gehen die Details auch unter. Und vielleicht gibt es sie auch einfach nicht. Er spricht aber damit aus, was das Selbstverständnis des Oligarchen ist: die Vererbbarkeit seines Supremats.
Hier wird also an einer neuen feudalistischen Selbstverständlichkeit gearbeitet, die den Groß-Kapitalisten nicht mehr als hervorragendes Individuum der Demokratie präsentiert, der es vom Tellerwäscher zum Milliardär gebracht hat (das wäre der American Dream). Hier geht es um eine gottgegebene oder naturgegebene, jedenfalls nicht hinterfragbare Klassengesellschaft (das ist der Silicon Dream). Was Thiel sagen will ist, dass er Kaiser sein will. Er will nach eigenen Aussagen die Menschheit von der Sterblichkeit heilen. Das heißt: Fragen des Erbschaftsrechts werden dann hinfällig.
Das Aufblicken zu den Oligarchen, die scheinbare Machtlosigkeit gegen den nun voll entfesselten Rausch nach individueller Macht, wie sie sich in den tagtäglichen atemlosen Ankündigungshalluzinationen Donald Trumps manifestieren, die die Medien leider viel zu bereitwillig und unkritisch kolportieren, ersetzt den Diskurs, den Blick auf tatsächliche politische Mechanismen durch das Wort des absoluten Monarchen. Es entfernt das Individuum von seiner demokratischen Möglichkeit und Pflicht der Partizipation. Oder anders gesehen: Endlich entlastet es die Menschen von der Mühe der Selbstbestimmung. Endlich kann man jeden Missstand hinnehmen und ihn achselzuckend der höheren Macht überantworten. Als ich ein Kind war, war es im Winter ein beliebter Scherz, Klassenkameraden ihre Wollmützen übers Gesicht zu ziehen und dabei auszurufen: Der Kaiser hat g’sagt, Licht sparen!
Es wird heute überall von einer Zeit großer Krisen gesprochen. Im großen Wohlstand der westlichen Welt kommt mir das ein wenig leichtfertig, ja verdächtig vor. Ich vergleiche die heutige Zeit immer wieder gerne mit der Zeit um meine Geburt im Jahr 1971. Auch 1971 und in den folgenden Jahren erschütterten Terroranschläge die Welt, z. B. 1972 bei der Olympiade in München. Auch damals tobten Kriege auf der Welt. Die Ölkrise musste mit politischen Maßnahmen bewältigt werden. Und Westeuropa war längst nicht durchwegs demokratisch regiert. Es gab noch Diktaturen in Ländern, die heute Mitglieder der Europäischen Union sind: Spanien, Portugal, Griechenland. Ja, es gab noch in den 1980er-Jahren Militärputschs oder Putschversuche.
Im Journalismus ist es heute Mode geworden, überall das Wort Post voranzustellen: Es ist die Rede von Post-Kolonialismus, Post-Moderne, Post-Demokratie, Post-Faktischem usw. usf. Aber ist nicht der Kolonialismus noch in vollem Gange? Ist nicht die Demokratie in der Krise, weil wir ihre konsequente Weiterentwicklung aufgegeben haben? Basiert der neue Feudalismus der Oligarchen nicht darauf, dass er atavistische Vorstellungen von Macht bemüht, die tief in unserer Gesellschaft vergraben sind und – wenn wir ehrlich sind – kaum ausgegraben, analysiert und kritisiert werden? Zu meiner Schulzeit kam es jedenfalls zu keiner brauchbaren politischen Aufarbeitung der Monarchie. (Und auch nicht des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus.)
Der Siegeszug neokonservativer und reaktionärer Politik, die heute wieder gegen Abtreibung, Gleichbehandlung der Frau, Friedensbemühungen, Abrüstung, gegen Umweltschutz und Umverteilung erfolgreich auftritt, zeigt vor allem eines: Die Verankerung egalitärer Grundsätze in unserer Gesellschaft und ihrem Kern – der Verfassung – wackelt. Sie war vielleicht immer problematisch und ihre Verankerung ist wohl eher durch die zunächst klare Zuordnung zu den beiden großen politischen Blöcken der Konservativen und der Sozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Diese Analyse hat hier keinen Platz. Klar ist aber, dass der demokratische Konsens der Zweiten Republik, bei allen Schwierigkeiten, über Jahrzehnte gefestigt war.
Heute ist das anders. Heute steht das Ignorieren von Gesetzen durch die Politik im Raum. Ja, heute steht die Missachtung der Bundesverfassung durch die Politik im Raum – von Menschen, die es besser wissen müssen. Eine Politikerin, die Juristin ist, spricht davon, dass die Menschenrechte neu definiert werden müssten. So als wäre also ein menschliches Grundrecht anders zu definieren, wenn sich die politische Lage ändert? Wenn das so wäre, dann folgte das Recht der Politik, wie es ja auch schon einmal ein österreichischer Minister gefordert hat.
Die Krise wird in der Politik bemüht, um anlassbezogen jene Änderungen herbeizuführen, die einer Regierung oder Partei genehm sind. Teuerung und Inflation, Verschärfung der Überwachung der Gesamtbevölkerung, Aufrüstung und totalitäre Ansinnen werden als Krisenbekämpfung getarnt. Donald Trump redet von einem Anstieg der Kriminalität, um mit Militärs immer genau jene Städte zu bedrohen, in denen seine Republikaner keine Mehrheit haben. Die großen politischen Herausforderungen der Zeit aber werden unter dem Vorwand der Krisenbekämpfung ignoriert oder hintangestellt.
Im Schatten des aufkeimenden Totalitarismus, der Kriminalität und Zuwanderung mit falschen Statistiken und falschen Nachrichten motiviert und so die Menschen stärker reguliert und kontrolliert, keimt das unregulierte Wachsen digitaler Räume, die uns inhaltlich immer mehr beherrschen. Und auch zeitlich. Bis zu acht Stunden verbringen Jugendliche heute am Tag mit dem Handy. Ihre Eltern haben keine Ahnung, was sie dort tun und erfahren und austauschen.
Die Krise unserer Zeit, wenn man von einer solchen sprechen will, ist nicht die Auswirkung einer Entwicklung, in der sich der Neo-Konservatismus durch finanzielle Übermacht und Populismus überall an die Macht kämpft, sondern das atavistische Zurückkehren der Masse zu einer selbstverständlichen Passivität. Sie geht einher mit einer Entpolitisierung, die Partizipation an der Wurzel angreift: Grundsätze und Ideologien werden als etwas Negatives, der Entwicklung hinderliches dargestellt.
Ich möchte nicht zu den gehören, die im Kant-Jubiläumsjahr seinen Namen benutzen, um simple Gesellschaftsanalysen abzugeben. Es muss aber schon als bemerkenswert angesehen werden, wie in der Aufklärung versucht wurde, ein grundsätzliches Weltbild aus Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik zu entwerfen, das als Anhaltspunkt für eine Weiterentwicklung der Menschheit gelten soll. Gerade eine solche grundlegende Motivation fehlt heute. Die Ablösung der Philosophie und der Wissenschaften von praktischem gesellschaftlichem Handeln, lässt solche Überlegungen heute in einem luftleeren Raum zurück.
Die Post-Moderne hat ein Ende aller Verbindlichkeiten ausgerufen. Ihr Anything goes ist zum Credo des heutigen Kapitalismus geworden, der keine Philosophie, ja nicht einmal eine Ideologie ist, sondern der sich aus allen bestehenden Ansätzen jene aussucht, die er gerade braucht. Die Krise unserer Zeit, wenn man von einer solchen sprechen will, ist, dass wir dem Kapitalismus nichts mehr entgegenzusetzen haben. Seine Hegemonie ist ein Problem. Und ihm werden nun Demokratie, Fakten und Moderne ein Problem; daher die Rede ist von Post-Demokratie, Post-Faktischem und Post-Moderne.
Die Krise unserer Zeit ist aber auch eine Orientierungslosigkeit derer, die gegen die übelsten Auswüchse des Kapitalismus kämpfen wollen. Wir sehen ihre Fraktionierung in fast allen Ländern. Wir sehen, wie sie blindwütig lieber die bekämpfen, die eigentlich dasselbe wollen, wie sie, sich aber in Detailfragen anders positionieren. Wir sehen, wie das, was eine Opposition gegen den Kapitalismus darstellen soll, sich hoffnungslos verläuft.
Gleichzeitig ist der Kapitalismus mit seinem eigenen Wachstum unzufrieden. Aus dieser Unzufriedenheit entwickelt er den neuen Feudalismus, den Traum von unendlicher Herrschaft und von der Unsterblichkeit. Die Naivität dieser Allmachtsphantasien ist augenscheinlich. Gerade die USA werden von diesem Allmachtsdenken heute in eine große wirtschaftlich Krise gedrängt. Die ganz offensichtliche wirtschaftliche Abhängigkeit der USA von China, das außenpolitische Buckeln des Landes vor Russland und China zeigt, was weltpolitisch vor sich geht: Die einstige Supermacht Nr. 1 wird stark geschwächt und von innen ausgehöhlt.
Viel zu lange ist es unterblieben, sinnlose Praktiken, wie die Entsendung von Wahlmännern und das verquere amerikanische Wahlrecht überhaupt zu reformieren. Viel zu lange ist es unterblieben, demokratische Kontrollmöglichkeiten zu etablieren, um zu verhindern, was nun eben vor unser aller Augen geschieht. Ja, die Präsidentialrepublik ist im Grund eine längst reformbedürfte konstitutionelle Konstruktion, die der Reform oder Überwindung bedürfte.
Wenn es heute eine Krise der Demokratie gibt, dann ist es eine Krise der Weiterentwicklung der Demokratie. In solchen Krisen tauchen freilich Sehnsüchte auf, zu alten, überwundenen Herrschaftsformen zurückzukehren. Doch die Vorstellungen dieser Herrschaftsformen sind weltfremd, verkitscht und ungenau. Es sind Phantasmen, die in Fernsehfilmen und Streamingserien ihren Platz haben mögen. Doch auch dort richtet ihr Revisionismus Schaden an.
Wenn es überhaupt möglich sein wird, die große Krise unserer Zeit, nämlich die Hegemonie des Kapitalismus, ein wenig einzudämmen, dann braucht die Menschheit zuallererst die Überzeugung und Gewissheit, dass dieser Kampf gemeinsam geführt werden muss, von allen demokratischen Kräften – so verschieden ihre Ansichten in manchen Punkten sein mögen. Alle anderen Krisen schafft der Kapitalismus selbst – und er freut sich über jede von ihnen, weil er sie zum Anlass für seine weitere Expansion nimmt. Im Zentrum der Krise liegt der mangelnde Wille zur Selbstbestimmung. Die Sehnsucht nach Fremdbestimmung allerdings ist wie eine Droge, die kurze Zeit wirkt uns danach mit noch größeren Problemen wieder aufwachen lässt.

SMART CITY VON DANIEL WISSER
München: Luchterhand
412 Seiten | € 25,70 (Gebundenes Buch) ISBN: 978-3641295820
Erscheinungstermin: 27. August 2025
DANIEL WISSER
geboren 1971, lebt in Wien und schreibt Prosa, Essays, Songtexte. 1994 Mitbegründer des Ersten Wiener Heimorgelorchesters. 2018 für den Roman Königin der Berge mit dem Österreichischen Buchpreis und dem Johann-Beer-Preis ausgezeichnet. 2021 war er mit seinem Roman Wir bleiben nochauf der SWR- und der ORF-Bestenliste. 2023 erschien der Roman 0 1 2, für den er den Wiener Buchpreis und den Würdigungspreis für Literatur der Stadt Wien erhielt. Derzeit im Handel der neue Roman Smart City. Weitere Infos online unter: www.danielwisser.net.
