In ihrem Appell an Europa betont RUTH MANNINGER die Bedeutung der europäischen Union bei der Umsetzung nationaler Ziele in der Frauenpolitik und zeichnet das Bild von einer sozialdemokratisch geprägten, feministischen Allianz als Bollwerk gegen antidemokratische Tendenzen in Österreich und Europa.
I. Einleitung
Der Schock wirkt immer noch nach. Dass in Europa wieder Frauen an den Folgen politischer Entscheidungen sterben würden, wäre zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur Wenigen in den Sinn gekommen. Doch in den vergangenen Jahren ist etwas in Bewegung gekommen – eine Art politischer Plattentektonik, die etablierte Systeme zum Beben bringt und deren seismische Wellen sich weltweit ausbreiten. Plötzlich wurden Frauenrechte, über Jahrzehnte mühsam erkämpft und etabliert, wieder in Frage gestellt oder sogar zurückgenommen – nicht bloß in autoritär geführten Staaten wie China oder Russland, nicht nur in „Wackelstaaten“ wie Brasilien, sondern selbst in etablierten Demokratien wie den USA. Und auch mitten in Europa.
In Polen kostete die Einführung eines de-facto-Abtreibungsverbots durch die national-klerikale PiS-Regierung mindestens sechs Frauen das Leben, weil ihnen Ärzte aus Angst, sich strafbar zu machen, Schwangerschaftsabbrüche verweigerten. Zu diesem Schluss kam eine Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments 2022. In Ungarn treibt Viktor Orbán mit Herdprämien und Streichung von Gender Studies den Umbau des Landes zum patriarchalen Modellstaat voran, sehnsüchtig betrachtet von der deutschen AfD, die von ähnlichen Verhältnissen träumt. In Italien haben Frauen seit der Machtübernahme der Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni erhebliche Schwierigkeiten, einen Abtreibungstermin zu bekommen.
Die Welle hat auch Österreich längst erreicht. ÖVP und FPÖ überbieten einander in bierdunstigen Heimatbeschwörungen. Das Frauenministerium ist quasi nicht vorhanden, weil die zuständige ÖVP-Bundesministerin lieber an einem „Leitkultur“-Katalog bastelt, statt an Lösungen für Gewaltschutz oder den Gender Pay Gap. Die Volkspartei trat in den vergangenen Jahren zudem eine Debatte über Schwangerschaftsabbrüche los und fordert die Einführung einer Abtreibungsstatistik, anhand derer unfreiwillig Schwangere unter Druck gesetzt werden könnten. Zugleich verzögerte die Partei über Jahre den bundesweiten Ausbau der Kinderbildungseinrichtungen und Kinderbetreuung. Die FPÖ befeuert indes das Fantasiebild der glücklichen Hausfrau und Mutter und verspricht orbánsche Herdprämien – das Direkt-Ticket in die Abhängigkeit vom Ehemann und weiter in die Altersarmut.
Frauenrechte, so stellen Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung in diesen Tagen ernüchtert fest, stehen nicht auf festen Grundpfeilern, sondern auf tönernen Füßen.
II. Österreich als Erdbebengebiet
Österreich ist in Frauenfragen ein Erdbebengebiet: Bei Femiziden liegt unser Land seit Jahren über dem EU-Durchschnitt. Allein sieben Fälle gab es im ersten Quartal dieses Jahres. Schwangerschaftsabbrüche bleiben im Strafgesetzbuch, was die medizinische Betreuung auf Krankenschein verunmöglicht und den Ausbau des Angebots für den Eingriff behindert. Immer noch liegt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern über dem EU-Durchschnitt: 2023 verdienten Frauen brutto pro Stunde um 18,8 Prozent weniger als Männer (Statistik Austria 2023).
Die Pandemie von 2020 bis 2022 wirkte als antifeministischer Brandbeschleuniger: Die Verdrängung von Müttern aus dem Erwerbsleben und ein rasanter Anstieg bei häuslicher Gewalt markieren die Statistiken als trauriges Zeugnis dieser Krise – und zeigten, wie schnell doch Frauen aus ihren Positionen innerhalb der Gesellschaft gedrängt werden können.
III. Erst geht es gegen die Frauen, dann gegen alle
Das Liebäugeln mit antifeministischen Positionen ist eine besondere Eigenschaft illiberaler Politik. Wo Frauenrechte zurückgedrängt werden, sind Bürgerrechte insgesamt in Gefahr. In Polen präsentierte die national-klerikale PiS-Regierung sich nicht nur als frauenfeindliche, sondern generell als rückschrittliche Law-and-Order-Partei, die von der Wiedereinführung der Todesstrafe träumte, dem Präsidenten mehr Macht einräumen und die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu schwächen versuchte. In Ungarn gibt es unter der Fidesz-Regierung de facto keine freie Presse mehr. Auch Österreichs rechtskonservative Parteien ÖVP und FPÖ zeigen illiberale Tendenzen, wie die jüngsten Versuche, die freie Presse einzuschränken – durch ein Zitierverbot (ÖVP) oder die Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (FPÖ) – oder die öffentlichen Attacken auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zeigen. Dazu kommen Verbindungen zu autoritären und rechtskonservativen Parteien in Europa, etwa jene der FPÖ zur deutschen AfD und die Erinnerung an den Freundschaftsvertrag der FPÖ mit Vladimir Putins Partei „Einiges Russland“.
Fast jede illiberale oder autoritäre politische Kraft präsentiert sich dieser Tage als antifeministische Bastion. Warum das so ist, darüber wagen Politikwissenschafter*innen einen neuen Gedanken: Wo lange die Meinung herrschte, Frauenrechte seien stets eine Folge der Demokratisierung, zeigt das 21. Jahrhundert, dass es auch umgekehrt sein kann – und es die Frauenrechtsbewegungen sind, die Demokratisierungsprozesse entscheidend antreiben.
IV. Die natürlichen Feinde der Autokraten
Es gilt als gesichert, dass die Niederlage der PiS bei den Parlamentswahlen in Polen 2023 eine Folge der Massenproteste gegen ihre lebensgefährliche Politik war. Wenn Frauen an politischen Massenbewegungen mitwirken, schlussfolgern die Politikwissenschafterinnen Erica Chenoweth und Zoe Marks von der Harvard-Universität, haben diese Bewegungen mehr Chancen zu reüssieren. In ihrer Publikation Die Rache der Patriarchen. Warum Autokraten die Frauen fürchten (Chenoweth/Marks 2022) beschäftigen die beiden Politikwissenschafterinnen sich eingehend mit den Instrumenten autoritärer und zu autoritärer Politik neigender Kräfte. Sie führen unter anderem ins Treffen, dass Frauen 2019 eine entscheidende Rolle in den Protesten gegen den algerischen Staatschef Bouteflika spielten, die zu dessen Rücktritt führten (vgl. Kennedy 2019). Auch die Wahlniederlage des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro 2022 wird auf die wortstarke Beteiligung von Frauen an den Massenprotesten gegen den frauenhassenden Staatschef zurückgeführt.
Feministische Bewegungen haben mehr als ein Jahrhundert Erfahrung im Kampf gegen hierarchische Machtstrukturen, bei denen die Macht in den Händen weniger liegt. Das macht sie zu einer starken Kraft und zu einer Bedrohung für antidemokratische Bestrebungen. Die Antwort der Autokraten: Sexismus als politische Strategie – weg mit den Frauen aus dem politischen Raum, zurück an den Herd! Als verlässliche Partner erweisen sich ihnen dabei fundamentalistische religiöse Institutionen.
Über 700 Millionen US-Dollar flossen allein von 2009 bis 2018 aus den USA, Russland und Europa in rechtskonservative Bewegungen (vgl. European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights 2021). Es geht um die Kontrolle der Frau und die Realisierung einer religiös bis romantisch verklärten, patriarchalen Machtfantasie, die ihrem Wesen nach niemals demokratisch, sondern nur autoritär sein kann.
Die Gefährdung der Frauenrechte in einem Staat erweist sich als verlässlicher Seismograf für die Demokratiegefährdung des ganzen Landes. Fazit der Harvard-Wissenschafterinnen Chenoweth und Marks:
„Wer die Welle des Autoritarismus bekämpfen will, muss die Förderung der politischen Beteiligung von Frauen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen“.
Und weiter:
„Demokratische Regierungen sollten Inhalte priorisieren, die direkte Auswirkung auf die Möglichkeiten von Frauen haben, um eine gleichberechtigte Rolle im öffentlichen Leben zu spielen“.
Es geht also um Themen wie reproduktive Autonomie, häusliche Gewalt, wirtschaftliche Chancen, Gesundheitsvorsorge und Kinderbildung. Der Appell der beiden Wissenschafterinnen lässt keine Missverständnisse zu:
„Diese Fragen sind zentral im breiteren Kampf für die Zukunft der Demokratie (…) und sollten als solche behandelt werden“.
V. Die Sozialdemokratie stärkt Demokratie
Angesichts der illiberalen Bestrebungen innerhalb der Mitgliedsländer gilt es noch mehr als sonst, Frauenrechte in der EU abzusichern – auch als wirksame Waffe gegen antidemokratische Tendenzen. Die wichtigste Kraft in diesem Kampf ist und bleibt die Sozialdemokratie. Keine Partei – auf nationaler wie auf europäischer Ebene – kann auf längere Erfahrung und mehr Erfolge verweisen als die SPÖ und ihre europäischen Schwesterparteien. „Wir sind die Partei des Feminismus“, heißt es im Manifest der PES, der Europäischen Sozialdemokratischen Partei, das zu Beginn des Jahres in Rom präsentiert wurde (PES 2024). Darin wird unter anderem das Ziel festgehalten, bis 2030 den Lohn-, Care-Arbeits- und Pensions-Gap zu schließen.
Unsere EU-Spitzenkandidatin Evelyn Regner hat als Vizepräsidentin des EU-Parlaments und Vorsitzende des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) die Lohntransparenzrichtlinie mitverhandelt. Wir pflegen die Vision einer europaweiten Umsetzung des „isländischen Modells“, in dem Lohntransparenz und Gender Budgeting – also die geschlechtergerechte Aufteilung des Budgets – gesetzlich verankerter Bestandteil des Wirtschaftslebens sind.
VI. Österreich braucht Druck von Europa
In Österreich harrt die Lohntransparenzrichtlinie ihrer Umsetzung ebenso wie die Istanbul-Konvention, das große europäische Gewaltschutzprogramm, an dem österreichische Sozialdemokrat*innen entscheidend mitgewirkt haben und das ausgerechnet bei uns noch nicht bundesweit etabliert wurde. Unsere Bundesfrauenvorsitzende Eva-Maria Holzleitner brachte es bereits zu Beginn dieses Jahres auf den Punkt: „Es geht in Europa um einen gemeinsamen Weg bei Frauen- und Menschenrechten, und auch bei Arbeitnehmer*innenrechten“, erklärte sie in der Aktuellen Europastunde im Nationalrat. Österreich müsse sich an der EU orientieren, denn: „Europa geht voran“.
Österreich braucht den Druck von Europa, um soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. Wie stark dieser Druck werden kann, hängt von den Mehrheiten im Europäischen Parlament ab. Mit einer starken Sozialdemokratie können Frauenrechte und damit die demokratischen Grundpfeiler Europas für die kommenden Jahre und Jahrzehnte abgesichert und „erdbebensicher“ gemacht werden. Die Rolle der EU darf sich dabei nicht darauf beschränken, den antifeministischen Backlash abzufedern, sondern es gilt die Chance zu nützen, eine progressive feministische Zukunft zu entwerfen.
VII. Internationaler Schulterschluss der Frauen
Frauenrechte auf EU-Ebene zu zementieren, bedeutet auch, in Solidarität mit Frauen weltweit am politischen und sozialen Frieden zu arbeiten. Die Unterstützung von Frauenbewegungen im Iran oder in Afghanistan ist dabei ebenso essenziell wie konkrete Maßnahmen für Einzelne. Die Forderung der SPÖ-Frauen nach legalen Fluchtrouten für Frauen bleibt ebenso aktuell wie die Aufmerksamkeit auf weitere Rückschritte in Frauenfragen weltweit. Wenn etwa wie aktuell in Gambia die dortige Regierung bemüht ist, die weibliche Genitalverstümmelung wieder zu legalisieren (vgl. Shafique, Nafisa Binte/Rose, Sarr 2024), kann die Europäische Union diesem katastrophalen Rückschritt effektiver entgegentreten als einzelne Staaten.
So beunruhigend die Bestrebungen autoritärer politischer Kräfte weltweit auch sind – wir sind dagegen nicht machtlos. Die Demokratie hält, wo wir sie stützen. Der „Backlash vom Backlash“ in Polen kann als Warnung an politische Parteien verstanden werden, über die Körper von Frauen hinweg zur Macht zu streben.
Dass mit Giorgia Meloni, Alice Weidel & Co. europaweit auch Frauen an der Demontage von Frauenrechten arbeiten, zeigt, wie gleichgültig illiberalen Politiker*innen der Mensch an sich ist, und darf nicht davon ablenken, dass wir mehr Frauen in Entscheidungspositionen brauchen. Das Bild von der 60. Münchner Sicherheitskonferenz, wo einmal mehr eine reine Männerrunde fürs Gruppenfoto posierte, ist ein Zeichen dafür, dass der Kampf um den Platz der Frauen an den Verhandlungstischen weitergeht. Nicht nur, um Teilhabe zu ermöglichen, sondern um echte Verbesserungen zu erwirken. Wie die große Johanna Dohnal treffend anmerkte: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn den Männern zu überlassen.“
Ein starkes, feministisches Europa ist eines, das sich als Bollwerk gegen autoritäre Kräfte bewähren kann. Eine Gesellschaft, in der Frauen alle Freiheiten und Rechte besitzen, ist eine Gesellschaft, in der es allen gut geht. Einmal mehr gilt es Dohnal zu zitieren, die es einst in klaren, einfachen Worten ausdrückte:
„Die Vision des Feminismus ist nicht eine ,weibliche Zukunft‘. Es ist eine menschliche Zukunft.“
Nicht mehr und nicht weniger bedeutet feministische Politik, in Österreich wie in Europa.
RUTH MANNINGER
ist Bundesfrauengeschäftsführerin und Mitglied des Bundesparteivorstands der SPÖ.
Literatur
Chenoweth, Erica/Marks, Zoe (2022): Revenge of the Patriarchs. Why Autocrats Fear Women, in: Foreign Affairs, Nr. 2/2022, online unter: https://www.foreignaffairs.com/articles/china/2022-02-08/women-rights-revenge-patriarchs (letzter Zugriff: 04.04.2024).
European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (2021): Tip of the Iceberg: Religious Extremist Funders against Human Rights for Sexuality & Reproductive Health in Europe, June 2021, online unter: https://www.epfweb.org/node/837 (letzter Zugriff: 04.04.2024).
Kennedy, Dana (2019): Djamila Bouhired, the 83-Year-Old Woman Revolutionary Leading Algeria’s New Uprising, in: Daily Beast, March 09/2019, online unter: https://www.thedailybeast.com/djamila-bouhired-the-83-year-old-woman-revolutionary-leading-algerias-new-uprising (letzter Zugriff: 04.04.2024).
PES (2024): PES manifesto for the 2024 European elections, online unter: https://tinyurl.com/3psdy97p(letzter Zugriff: 04.04.2024).
Shafique, Nafisa Binte/Rose, Sarr (2024): UNICEF and UNFPA alarmed by proposed repeal of law banning FGM in The Gambia, UNICEF, March 22/2024, online unter: https://www.unicef.org/press-releases/unicef-and-unfpa-alarmed-proposed-repeal-law-banning-fgm-gambia (letzter Zugriff: 04.04.2024).
Statistik Austria (2023): Pressemitteilung: 13 019-047/23: Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern trotz Rückgang über dem EU-Durchschnitt, online unter: https://tinyurl.com/58eev4ph(letzter Zugriff: 04.04.2024).