Was Europa von Wien lernen kann: Mut in der Wohnungspolitik – VON MICHAELA KAUER

Im Juni 2024 werden die Bürger*innen der EU über den Kurs entscheiden, den Europa in den kommenden Jahren einschlagen soll – nicht zuletzt in der Wohnungspolitik. Warum das Thema Wohnen in den Wahlprogrammen der Parteien nicht fehlen darf, erklärt MICHAELA KAUER und sieht das Wiener Modell des sozialen Wohnbaus als Vorbild für mutige Eingriffe in einen Markt, der nicht liefert, was die Menschen brauchen: gutes, sicheres und bezahlbares Wohnen für alle.

I. Ein Modell geht um die Welt

Als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 1919 in Wien an die Macht kam, machte sie den Wohnungsbau zu ihrer obersten Priorität, und das vor dem Hintergrund grassierender Krankheiten wie der Tuberkulose – damals als die Wiener Krankheit bekannt, der Rückkehr von beamtetem und militärischem Personal samt ihren Familien aus den Ländern der ehemaligen Monarchie und nicht zuletzt einer großen Zahl von Flüchtlingen, insbesondere aus Galizien. Die Partei hielt ihr Wahlversprechen nicht nur ein, sondern übertraf es sogar: Statt der angekündigten 25.000 neuen Gemeindewohnungen wurden zwischen 1923 und 1934 63.000 Einheiten mit fließendem Wasser und Innentoiletten gebaut. Ermöglicht wurde dies durch die Einführung der von Hugo Breitner, Finanzstadtrat im Roten Wien, entwickelten Wohnbausteuer. Der Größenunterschied zu den früheren Wohnungen war eher gering – 35 bis 42 Quadratmeter pro Wohnung –, aber da die Mieten niedrig waren, gab es keine Untermieter*innen und Bettgeher*innen mehr, und so wurde zumindest für einen Teil der Bevölkerung Privatsphäre möglich. Diese „Paläste der Arbeiterklasse“ mit „Licht, Luft und Sonne“ machten den Unterschied, der es Wien ermöglichte, die Lebensqualität der Vielen, nicht nur der Wenigen, zu erhöhen.

II. Die Wohnungskrise ist im Mittelstand angekommen

Sicherer, gesunder und angemessener Wohnraum ist heute für viele Menschen in Städten und Regionen in ganz Europa oft unerschwinglich geworden; die Krise trifft nicht nur die einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen, sondern hat sich schon längst auf den Mittelstand ausgeweitet[i]; das Thema Wohnen wird zunehmend zum wahlentscheidenden Faktor. 2024 ist das Jahr, in dem auf europäischer Ebene erneut die Weichen gestellt werden, in welche Richtung sich die Europäische Union entwickeln wird, nicht zuletzt für bezahlbares Wohnen für alle. Im Juni wird das Europäische Parlament gewählt und im Herbst/Winter wird sich die neue Europäische Kommission konstituieren. Davor, im März, treffen die Wohnungsbauminister*innen unter belgischer EU-Ratspräsidentschaft in Lüttich zu einer Konferenz zusammen. Das Frühjahr ist daher der perfekte Zeitpunkt, um ein starkes Signal für bezahlbaren Wohnraum in Europa und eine dem Gemeinwohl dienende Wohnungspolitik zu setzen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die EU in der neuen Legislaturperiode einen starken Schutzschild gegen Spekulationen auf den europäischen Wohnungsmärkten errichtet, eine Offensive für mehr öffentliche Investitionen in bezahlbaren Wohnraum für die Bevölkerung setzt und die Maßnahmen ihrer Klima- und Energiepolitik sozial ausgewogen gestaltet. Wer wird sich in der europäischen Politik für eine europäische Initiative „Wohnen für das Gemeinwohl“ stark machen, gut 100 Jahre nachdem die Wiener Sozialdemokratie den Weg für ein breites und stabiles Konzept des Wohnens als Recht geebnet hat, das inzwischen als solide und krisenresistent anerkannt ist?

Geschulte Eurokrat*innen wissen, dass das Wohnungswesen nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union fällt, sondern die Gestaltung der Wohnungspolitik im Sinne der Subsidiarität bei den Mitgliedstaaten, oft gar auf subnationaler Ebene liegt. Der jungen Angestellten in Barcelona, die noch bei ihren Eltern wohnt, weil sie angesichts der Airbnb-Flut keine bezahlbare Wohnung findet, ist dies jedoch völlig gleichgültig. Ebenso der Familie aus Bratislava, die mit ihren Kindern über die Grenze in ein österreichisches Dorf zieht, weil es in der slowakischen Hauptstadt zu teuer ist, oder der alleinerziehenden Mutter in Antwerpen auf der Suche nach einer angemessenen Wohnung, die Kinderbetreuung und Dienstleistungen in unmittelbarer Nähe benötigt. Sie wollen und brauchen lokale Lösungen, in der Nähe ihrer Familien, Freund*innen und Arbeitsplätze.

III. Wohnen ist wahlentscheidend

In den letzten Jahren haben Kommunalpolitiker*innen und Bürger*innen zunehmend und immer lauter die Wohnungsnot artikuliert, oft Seite an Seite mit Mieter*innenorganisationen, durch Resolutionen, Bürger*inneninitiativen, Referenden, Protestaktionen und sogar Hausbesetzungen. Auch auf europäischer Ebene wurden in zahlreichen Initiativen Lösungsansätze aufgezeigt, die zum Teil zu Schritten aufseiten der Europäischen Kommission führten; hervorzuheben sind hier die Empfehlungen der thematischen Partnerschaft zum Wohnungswesen im Rahmen der EU-Städteagenda, die in einem dreijährigen Prozess entstanden,[ii] und zahlreiche Verbesserungsvorschläge auf EU-Ebene aufzeigen. Vor allem die Frage der Möglichkeiten der Städte und Regionen, in leistbares Wohnen zu investieren, wurde aus verschiedenen Perspektiven angesprochen. Dazu zählt die schon lange geforderte und jüngst von den EU-Minister*innen für das Wohnungswesen erstmals aufgenommene Änderung im EU-Beihilfenrecht, die einen breiteren Ansatz für soziales und leistbares Wohnen einmahnt. Es ging aber auch um den Schutz vor Gentrifizierung und spekulativem Leerstand, um die unkontrollierte Höhe der Mieten und den Ausverkauf des öffentlichen oder sozialen Wohnungsbestands. Die Finanzialisierung der Wohnungsmärkte hat die Eigentumsverhältnisse so undurchsichtig gemacht, dass Mieter*innen nicht mehr wissen, wem die Wohnung, in der sie leben, eigentlich gehört;[iii] und mangels klarer Ansprechpartner*innen suchen sie Hilfe und Rat bei ihren Bürgermeister*innen. Diese unternahmen, soviel sie konnten, wie wir während der Coronavirus-Pandemie und später bei der Inflations- und Energiekrise gesehen haben, indem sie viel Mut für harte Interventionen zeigten, aber noch mehr, indem sie ihre Sozialbudgets bis zum Äußersten strapazierten – und dass auf Kosten ihrer Investitionsmöglichkeiten.[iv] Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass die Handlungsfähigkeit der Städte und Regionen meist durch die nationale Gesetzgebung bestimmt wird, ja eingeschränkt ist. Dem EU-Rechtsrahmen wurde bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl er eine wichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, den Handlungsspielraum der Städte und Regionen bei der Steuerung ihrer lokalen Wohnungspolitik zu bestimmen.

In ganz Europa ist die „Logik“ der Wohnungsmärkte aus gesellschaftlicher, ökologischer und wirtschaftlicher Sicht inzwischen höchst irrational, denn der Markt liefert nicht entsprechend der Nachfrage, sondern rein zum Zweck der Profitmaximierung. Der Wohnungsbau ist zu einem Vermögenswert in den Bilanzen von Real Estate Investment Trusts (REITs) geworden und weit weg von einer Dienstleistung im Sinne der Daseinsvorsorge, wie sie in der Grundrechtecharta der EU oder der Europäischen Säule sozialer Rechte angesprochen ist. Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen; sie ist das Ergebnis davon, dass die Wohnungsmärkte zu lange von reinen Marktinteressen bestimmt wurden. Wann immer Politiker*innen beschließen, die Versorgung ihrer Bürger*innen mit Wohnraum dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen, stellen sie eher früher als später fest, dass dies für viel zu viele Menschen nicht funktioniert. Aber selbst dann sind ihre Gegenmaßnahmen oft nur schwach und punktuell. Wie es scheint, vermeiden sie um jeden Preis, dass man ihnen nachsagt, sie würden die Marktkräfte angreifen oder untergraben, Investoren verschrecken und wirtschaftsfeindlich sein. Sie halten daher an Steuervergünstigungen für die großen Hedgefonds fest und ergreifen keine ernsthaften Maßnahmen gegen Gentrifizierung oder Finanzialisierung. Auch die internationalen, europäischen und nationalen Regeln gegen Geldwäsche bleiben zahnlos.

IV. Wien – Eine Blaupause für den Erfolg?

Eine Stadt sticht heraus, wenn es um soziales und leistbares Wohnen geht, das für die Bürger*innen funktioniert: Wien, das über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg eine Vorreiterrolle in der Wohnungspolitik gespielt hat. Die Stadt hat in den Jahren nach dem Finanzcrash weiter antizyklisch investiert und neue Wohnungen gebaut, was zusammen mit anderen Maßnahmen wie dem beitragsfreien Kindergarten für alle Kinder bis zur Grundschule enorme Erleichterungen für Familien mit sich brachte, gleichzeitig die Kaufkraft erhöhte und so der Wirtschaft half – und nicht zuletzt auch Frauen mehr Chancen im Arbeitsmarkt eröffnete.[v] Mitten in der Covid-19-Pandemie begann die Stadt sogar mit dem Bau eines neuen städtischen Wohnkomplexes speziell für alleinerziehende Mütter und veranstaltete 2022 die „Internationale Bauausstellung“, die sich mit der künftigen Stadtentwicklung befasste. Als wachsende Stadt mit zwei Millionen Einwohner*innen hat sich die Wiener Regierung darüber hinaus verpflichtet, ihre Klimaziele bis 2040 zu erreichen, und beschleunigt die Renovierung ihres Gebäudebestands, um ihn energieeffizienter und unabhängig von Gas zu machen.

Heute lebt jede*r vierte Wiener*in in einer Gemeindewohnung und insgesamt etwa zwei Drittel (64 %) der Bevölkerung wohnen in kommunalen, geförderten oder preisregulierten privaten Mietwohnungen.[vi] Die österreichische Bundeshauptstadt ist wiederholt Spitzenreiter in Sachen Lebensqualität in weltweiten Rankings. Nicht nur die schiere Menge, vor allem die Vielfalt des Angebots an sozialem und leistbarem Wohnraum wirkt sich positiv dämpfend auf den Markt aus.[vii]

Was Wien in den mehr als 100 Jahren seines Engagements für den sozialen und leistbaren Wohnbau geleistet hat, ist keine Raketenwissenschaft. Es geht darum, institutionellen Investor*innen, Spekulant*innen und ausbeuterischen Vermieter*innen den Appetit zu verderben, indem man ihre Freiheit einschränkt, ihr eigenes Regelwerk zu schreiben. Wien stellt sicher, dass die Wohnungspolitik in ein solides Stadtentwicklungskonzept eingebettet ist und rundet dies mit Qualitätskriterien für den Neubau oder die Renovierung bestehender Wohnungen, eine strenge Kontrolle der Flächennutzung sowie den Schutz und die Stärkung der Rechte von Mieter*innen ab. Dies geht natürlich Hand in Hand mit einem starken Schutzschild, einem Rechtsrahmen, der sicherstellt, dass die Menschen nach der Sanierung des Gebäudes in ihrer Wohnung bleiben.

V. Ein verlässlicher Rechtsrahmen für die Wohnungsgemeinnützigkeit

Dieses erfolgreiche und vielfach gelobte Modell beruht auf den drei landesweiten Säulen einer soliden Verwaltung, einer stabilen Finanzierung und eines starken institutionellen Rahmens. Das österreichische Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz regelt die Gestaltung, Steuerung, Finanzierung und Verwaltung von sozialem, genossenschaftlichem und leistbarem Wohnraum in allen Regionen. Das österreichische Mietrechtsgesetz garantiert immer noch, v. a. bei älteren Verträgen und im kommunalen sowie gemeinnützigen Sektor, ein hohes Maß an Sicherheit mit unbefristeten Verträgen und geregelten Mieten. Und schließlich ist die finanzielle Basis des Systems gesund, denn der lohnabhängige Wohnbauförderungsbeitrag wird sowohl von Arbeitgeber*innen als auch von Arbeitnehmer*innen entrichtet und fließt in die Wohnbaubudgets aller neun österreichischen Bundesländer ein, darunter auch Wien.

Kommunale Wohnungsunternehmen (das größte ist Wiener Wohnen mit mehr als 220.000 Wohnungen für 500.000 Einwohner*innen), Genossenschaften und gemeinnützige Wohnbaugesellschaften stellen rund ein Viertel – 24 Prozent – aller Wohnmöglichkeiten in Österreich zur Verfügung.[viii] Ihr Geschäftsmodell ist sehr effektiv – und gut für die öffentlichen Haushalte –, da sie auf revolvierenden Mittelflüssen basieren und jeder Gewinn (der gesetzlich begrenzt ist) wieder in den Erwerb von Grundstücken, Renovierungen oder Neubauten investiert werden muss. Jegliche Aktivitäten, die nicht dem eigentlichen Geschäftszweck dienen, sind strengstens untersagt, und es gibt ein System klarer und transparenter Rechnungsprüfungsvorschriften. Im Gegenzug sind sie von der Körperschaftssteuer befreit.

Mit all diesen Elementen empfiehlt die OECD anderen Ländern immer wieder das österreichische Wohnungsmodell als Blaupause für einen stabilen Wohnungsmarkt. Erst kürzlich sah eine „Peer Review“ der OECD das Wiener Modell des sozialen Wohnbaus als Vorbild für die belgische Hauptstadtregion Brüssel und EU-Sozialkommissar Schmit, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokrat*innen, war jüngst voll des Lobs bei einer Konferenz in Berlin.

VI. Das Recht auf Wohnen Tag für Tag umsetzen

Das Wiener Modell beruht auf der klaren Überzeugung, dass Wohnen ein Menschenrecht ist und dem Gemeinwohl dienen muss. Die „Governance“, also das Gesamtpaket der rechtlichen, planerischen und finanziellen Instrumente zur Steuerung und Umsetzung folgt diesen Grundsätzen in Wien seit über 100 Jahren und wird ständig weiterentwickelt, experimentell verbessert und umfasst alle wesentlichen Schlüsselelemente. Dazu zählen seit jeher die Mietpreisregulierung und Mietpreiskontrolle, auch der Schutz der Mieter*innen vor Spekulation, sei es durch Schlichtungsstellen und Gebietsbetreuungen, sei es durch eine starke und anerkannte Mieter*innenvereinigung. Zentral ist ebenso die Kontrolle über den Grund und Boden, die unterschiedliche Formen annehmen kann: Wien hat eine langjährige Tradition in der Bildung von Grundstücksreserven durch einen eigenen Fonds; zusätzlich stellt eine neue Flächenwidmungskategorie sicher, dass zwei Drittel jedes neuen Entwicklungsprojektes geförderte Wohnungen sind. Anstatt das Land zu verkaufen, werden langfristige Pachtverträge mit Bauträgern abgeschlossen. Die jüngste Maßnahme der Stadt zur Verhinderung der Ausdünnung des Angebots ist eine Änderung der Bauordnung, die eine stärkere Kontrolle der kurzfristigen touristischen Vermietung ermöglicht.[ix]

Gleiche Qualitätskriterien für alle Wohnbauprojekte als Vorbedingung für jedes Projekt unter Berücksichtigung von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit, Kosten und Architektur sorgen dafür, dass es abgesehen von der Rechtsform keinen sichtbaren Unterschied zwischen verschiedenen Projekten gibt, und der beste Qualitätscheck für gute Alltagstauglichkeit kommt aus der geschlechtersensiblen Stadtplanung. Aus Sicht der Stadt Wien ist es nicht unangebracht, private Investoren an Bedingungen zu binden, damit sie sich um kommunale Dienstleistungen kümmern und zu den allgemeinen Infrastrukturkosten beitragen. Der Schutz der Mieter*innen vor Spekulation und Gentrifizierung, die Schaffung lebenswerter Grätzln gemeinsam mit der Bevölkerung und der Wille, eine soziale Durchmischung im gesamten Stadtgebiet zu erhalten, sind entscheidende Elemente für den langjährigen Erfolg Wiens. All dies verbindet sich zu einem einzigartigen „Living Lab“ des Wohnens für das Gemeinwohl, das soziale, ökologische und wirtschaftliche Ziele zu einer prägnanten Stadtentwicklung verbindet, die europaweit Schule macht, v. a. auch, weil sie strukturell auf Geschlechtergleichstellung und Partizipation schaut und die Menschen sich auf einen starken Schutzschild verlassen können, der von der Stadt getragen wird, die vor dem Hintergrund der Teuerung eine Mietenbremse im Gemeindebau und neue Unterstützungsmaßnahmen bei den Wohnkosten eingeführt hat.

VII. Upscaling des Wiener Modells?

Oftmals kommen Besucher*innen nach Wien mit der Vorstellung, dass Menschen in Sozialwohnungen immer die am stärksten benachteiligten Gruppen sind, für die es spezielle, aber streng kontrollierte Programme geben muss. In vielen Ländern wird dies genauso praktiziert; und dieser Ansatz hat häufig zu einer Stigmatisierung von Bürger*innen, die in Sozialwohnungen leben oder sich um eine solche bewerben, geführt. Wo das der Fall ist, werden Sozialwohnungen als eine eher unbequeme politische Notwendigkeit oder ein Akt der Wohltätigkeit gesehen, die bauliche Qualität ist schlecht, die Architektur lieblos und die Adresse wird zum Absagegrund bei Jobgesprächen. Diese Denkweise führt dazu, dass Betroffenen die Frage gestellt wird, ob sie auch wirklich alles getan haben, um sich selbst zu helfen – oder ob sie nicht falsche Angaben über ihre Lebenssituation oder ihr Einkommen machen. Sozialhilfeempfänger*innen werden von Vornherein als potenzielle Sozialbetrüger*innen behandelt; wer „wirklich und wahrhaftig“ arm ist und sich noch dazu gut benimmt, kommt dann gnädigerweise in den Genuss der Hilfe. Einmal im sozialen Wohnbau angekommen, müssen die Betroffenen wiederholt beweisen, dass sie der Hilfe weiter würdig sind, mit der ständigen Unsicherheit, wie es weitergeht. Das ist zynisch, menschenverachtend und steht völlig im Widerspruch zu einer Sozialpolitik, die auf Rechten und der Stärkung und Emanzipation der Menschen beruht.

Michaela Kauer Porträt © Sebastian Philipp 2020

VIII. Die Wohnungsarmut ist weiblich

Dies ist angesichts der Tatsache umso wichtiger, dass die Wohnkosten immer mehr zu einem entscheidenden Faktor für das Armutsrisiko werden. Die Wohnkostenbelastung ergibt sich aus dem Verhältnis von Wohn- und Energiekosten einerseits und Einkommen andererseits, wobei das Statistikamt Eurostat immer noch Ausgaben von 40 Prozent des Haushaltseinkommens für das Wohnen als zumutbar erachtet. Dieser Indikator ist weit weg von der Realität; aber weder die globale Finanzkrise mit ihren Folgen, noch die Wohnungskrise oder die Energie- und Teuerungskrise haben hier etwas geändert. Wer am dringendsten Lösungen für das leistbare Wohnen braucht, sind Frauen aufgrund der geschlechtsspezifischen Lohn- und Pensionsunterschiede. Der Lakmustest jeglicher Wohnungspolitik ist, ob die Maßnahme zu einer Stärkung oder zu einer weiteren Abhängigkeit von Frauen führt (sei es von Sozialhilfe oder dem Partner). Energie- und Teuerungskrise haben uns vor Augen geführt, dass Klimapolitik und Lohnpolitik mehr denn je für mehr Gleichstellung sorgen müssen; ein geregelter Wohnungsmarkt ist Voraussetzung, dass Einkommenssteigerungen nicht gleich von den Wohnkosten aufgesogen werden, gerade auch aus Sicht der Frauen.

Zurück zu unseren Besucher*innen aus dem Ausland: die begreifen in Wien erstaunt, dass es auch anders geht und sogar gut für den öffentlichen Haushalt ist, nicht nur für die Menschen und das Klima, wie das System funktioniert. Die einkommensabhängige Wohnbausteuer speist das Wiener Wohnbaubudget, das sich auf rund 500 Millionen pro Jahr beläuft und Neubau, Renovierung und individuelle Förderungen bei Bedarf ermöglicht. Und nicht nur, dass rund 75 Prozent der Wiener*innen Anspruch auf sozialen und geförderten Wohnraum haben, sie müssen nur einmal – bei Vertragsabschluss – nachweisen, dass sie die Einkommensgrenzen erfüllen. Das sichert eine stabile, menschenwürdige Wohnversorgung, die den Bürger*innen Sicherheit bei der Lebensplanung gibt. Der kommunale, genossenschaftliche und öffentlich geförderte Wohnungsbau ist über das gesamte Stadtgebiet verteilt und zeichnet sich durch eine große Vielfalt in der Architektur und Wohnumfeldgestaltung aus; Wien hat aus den Fehlern der 1970er- und 1980er-Jahre gelernt. Für junge Menschen ermöglicht das SMART-Programm leicht zugängliche Wohnungen; die Wartezeit auf eine städtische Wohnung beträgt höchstens zwei Jahre. Und während 1922 in vielen Höfen der städtischen Wohnkomplexe Kinderfreibäder gebaut wurden, ist die moderne Version davon manchmal ein gemeinsames Schwimmbad auf dem Dach oder in den Gemeinschaftsflächen. Die Philosophie und die Politik sind heute wie damals dieselben: Menschen haben das Recht auf eine menschenwürdige, sichere, gesunde, bezahlbare und nicht zuletzt schöne Wohnung mit einem guten Umfeld, und der Staat hat die Pflicht, das Menschenrecht auf Wohnen zu gewährleisten. Die österreichische Bundesverfassung trägt dem Rechnung, als sie die Verantwortung des Staates für das Volkswohnungswesen in der Vollziehung den Bundesländern überträgt.[x] Leider gestaltet die Bundesregierung ihre Wohnungspolitik sehr zögerlich, wenn es um den Schutz der Mieter*innen in der Teuerung und angesichts der Energiekrise geht, während sie Investoren gerne und großzügig mit Steuererleichterungen umgarnt.

IX. „Housing for the Common Good“

Die politischen Parteien tun daher gut daran, in ihren Wahlprogrammen alle Ebenen der Verantwortung für die Wohnungspolitik anzusprechen, einschließlich der europäischen Arena, und noch mehr in ihren Regierungsprogrammen, wenn sie daran interessiert sind, echte Lösungen für die Vielen zu finden. Nicht zuletzt in ihren Plänen für Europa sollten sie das Thema deutlich ansprechen, wenn sie für ihre Wähler*innen und Bürger*innen glaubwürdig sein wollen. Steuerhinterziehung, Finanzialisierung und Geldwäsche in diesem Sektor können nur auf europäischer Ebene angegangen werden, Miet- und Steuerrecht obliegen meist den nationalen Gesetzgeber*innen, während die Einbettung von Wohnungsbauprogrammen in eine solide Stadt- und Regionalentwicklung die lokale Entscheidungsebene erfordert. Es braucht ein solides Zusammenspiel aller Akteur*innen auf Augenhöhe, um gemeinsam zu guten Lösungen zu gelangen; sich dafür einzusetzen, ist mit Sicherheit lohnend.

In der nun anstehenden politischen Entscheidung über den künftigen Kurs der Europäischen Union in der Wohnungspolitik wird es daher wichtig sein, aufzuzeigen, welchen Beitrag die EU leisten muss, um das Recht auf Wohnen und einen Richtungswechsel zu einer starken Gemeinwohlorientierung zu erreichen. Es geht darum, klar zu machen, dass ein*e neue*r Wettbewerbskommissar*in erst einmal ordentlich an den Schrauben des Beihilfenrechts drehen muss, dass ein*e neue*r Finanzkommissar*in öffentliche Investitionen ermöglichen und Steuerhinterziehung bekämpfen muss. Es geht darum, dass ein*e neue*r Regional- und Städtekommissar*in die Vielfalt der wohnungspolitischen Lösungen in Europa mit Förderungen unterstützt. Kurz, es geht darum, wem die Menschen glauben werden, wenn es um die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, die Sicherung unserer Umwelt und ihrer Ressourcen für künftige Generationen und den sozialen Zusammenhalt geht, damit alle ein gutes Leben haben. Wien hat sich als Sieger in Sachen Lebensqualität erwiesen, weil es in der Vergangenheit, in der Gegenwart und für die Zukunft genau solche mutigen Entscheidungen getroffen hat. Da kann sich die EU, auf Wienerisch gesagt, „ruhig ein Scheiberl abschneiden“.

MICHAELA KAUER

leitet das Verbindungsbüro der Stadt Wien zur EU in Brüssel und ist Expertin für Städte-, Wohnungs- und Genderpolitik in Europa. Sie hält regelmäßig Vorträge und publiziert im In- und Ausland und hat Lehraufträge im Bereich Stadt- und Regionalpolitik, European Public Management und Urban.
Kontakt: michaela.kauer@yahoo.com


[i] OECD (2019): Under Pressure: The Squeezed Middle Class, OECD Publishing, Paris, 113f.

[ii] Urban Agenda for the European Union (2018): Action Plan of the Housing Partnership, online unter: https://www.urbanagenda.urban-initiative.eu/partnerships/housing (letzter Zugriff: 20.01.2024).

[iii] Van Heerden, Sjoerdje/Ribeiro Barranco, Ricardo/Lavalle, Carlo (Hg.) (2020): Who owns the city? Exploratory research activity on the financialisation of housing in EU cities, EUR 30224 EN, Luxembourg: Publications Office of the European Union, online unter: http://tinyurl.com/mryve4t6 (letzter Zugriff: 20.01.2024).

[iv] Koessl, Gerald (2017): Public expenditure on housing: the shift from capital spend to housing allowances. A European trend?, online unter: http://tinyurl.com/5n78zxu9 letzter Zugriff: 20.01.2024).

[v] Bachtrögler, Julia/Bock-Schappelwein, Julia/Eckerstorfer, Paul/Huber, Peter/Mayrhuber, Christine/Sommer, Mark/Streicher, Gerhard (2019): Wachstumsfaktor Gleichstellung – Der ökonomische Nutzen von Gender Budgeting, Wien, online unter: http://tinyurl.com/5dzp932r (letzter Zugriff: 20.01.2024).

[vi] Amann, Wolfgang/Struber, Christian (Hg.) (2022): Österreichisches Wohnhandbuch 2022, Wien: Linde, 19.

[vii] Klien, Michael/Huber, Peter/Reschenhofer, Peter (WIFO), Gutheil-Knopp-Kirchwald, Gerlinde/Kössl, Gerald (GBV) (2023): Die preisdämpfende Wirkung des gemeinnützigen Wohnbaus, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung – Österreichischer Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen, im Auftrag des Magistrates der Stadt Wien, Wien, online unter: http://tinyurl.com/29s39jwr (letzter Zugriff: 20.01.2024).

[viii] Amann, Wolfgang/Struber, Christian (Hg.) (2022): Österreichisches Wohnhandbuch 2022, Wien: Linde, 20.

[ix] Landesgesetzblatt für Wien, Jahrgang 2023, Ausgegeben am 13. Dezember 2023, Bauordnung für Wien, Wiener Kleingartengesetz 1996, Wiener Garagengesetz 2008; Änderungen (Bauordnungsnovelle 2023), online unter: http://tinyurl.com/bdh32heu (letzter Zugriff: 20.01.2024).

[x] Siehe Artikel 11 (1) 3, Bundesverfassungs-Gesetz (B-VG), online unter:
http://tinyurl.com/2z2xyxad (letzter Zugriff: 20.01.2024).