Die Utopie der funktionalen Stadt – Stadtplanung in Wien zwischen 1945 und 1989 – VON NIKOLAUS SCHOBESBERGER

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadtplanung in Wien ganz auf das Modell der „funktionalen Stadt“ ausgerichtet. Bis in die 1980er-Jahre folgte die Stadtentwicklung der Maxime einer möglichst reibungslosen Beschleunigung des Verkehrs, setzte aber auch neue Maßstäbe im Wohnungs- und Siedlungsbau. – Ein historischer Essay von NIKOLAUS SCHOBESBERGER.

I. Einleitung: Das Konzept der funktionalen Stadt

Gesellschaftliche Utopien manifestieren sich immer auch im Raum. Durch bauliche Maßnahmen werden sie sprichwörtlich in Beton gegossen, um im Idealfall die Zeiten zu überdauern. In der Monarchie und in den diktatorischen Systemen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte die Stadtplanung weitgehend dem Primat der Repräsentation. Die Prachtstraßen, Sichtachsen und Prunkgebäude der Ringstraßenzeit spiegeln das Selbstbild der eigenen Größe und Machtentfaltung der Monarchie wider, so wie die glücklicherweise nie umgesetzten Planungen der NS-Zeit zu einer monumental umgestalteten Stadt, welche die „Utopie“ des „Tausendjährigen Reiches“ versinnbildlichen sollte.

Für die Stadtplanung der Moderne wurde das Konzept der „Funktionalen Stadt“ zur bestimmenden Utopie. Auf dem IV. Kongress der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne 1933 in Athen wurde unter dem Vorsitz des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier die Charta von Athen verabschiedet. Darin wurde festgehalten, dass die historisch gewachsenen Städte Europas nur in geringem Maße die Bedürfnisse des modernen industrialisierten Menschen erfüllen. Durch die Industrialisierung war die Harmonie des alten Stadtgefüges zerstört worden, die Arbeitsbedingungen der Menschen wären durch Maschinen bestimmt, genauso wie die Anordnung und Lage der Arbeitsstätten. Die Charta sah eine räumliche Umgestaltung der Stadt auf Grund der vorherrschenden Funktionen (Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen) als notwendig an. Ziel dieser neuen Stadtplanung war es, das Stadtgebiet optimal zu nutzen und die Funktionsgebiete für Wohnen, Arbeiten und Erholung durch weitläufige Grüngürtel zu gliedern und über Verkehrsachsen zu verbinden.

Hinter der Utopie der „Funktionalen Stadt“ stand das Konzept eines modernen Menschen, der durch Industrialisierung, Säkularisierung, Rationalität und Fortschrittsglaube geprägt ist. Die moderne Stadt sollte den Ansprüchen dieses materialistischen „Neuen Menschen“ in Bezug auf Wohnen, Mobilität, Arbeit und Freizeitgestaltung gerecht werden. Alte, über Jahrhunderte gewachsene Strukturen, mussten dafür umgestaltet und an die veränderten Bedürfnisse der Moderne angepasst werden. Für den möglichst reibungslosen Verkehr mussten Straßen verbreitert und begradigt werden, was vielfach nur auf Kosten des historischen Baubestands möglich war. Modernes Wohnen erforderte den Bau von Wohnungen mit ausreichend Annehmlichkeiten (Küche, Heizung, Bad und WC in der Wohnung). Abrisse und Neubauten waren, zumal nach dem Krieg, oftmals die billigere Alternative zum rekonstruierenden Wiederaufbau.

Obwohl erste Ansätze einer funktionalistischen Stadtplanung – wie der Primat des Wohnens als Zentrum aller städtebaulichen Bestrebungen – bereits in der Zwischenkriegszeit im Roten Wien verwirklicht wurden, konnte das Modell der „Funktionalen Stadt“ erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf Wien adaptiert werden. In der Enquete für den Wiederaufbau der Stadt Wien, die zwischen Juli 1945 und Jänner 1946 tagte, wurden 14 Punkte für den Wiederaufbau propagiert, die im Wesentlichen eine Auflockerung und Entmischung der Stadt, sowie eine bewusste Grünflächenpolitik forderten. Die Prämisse war, dass der Mensch als Individuum immer im Mittelpunkt aller Überlegungen und Planungen zu stehen habe, im Unterschied zu früheren Überlegungen, die abstrakte Staatsideen oder die Erfordernisse der Wirtschaft zur Ultima Ratio der Stadtplanung machten.

Abb. 1: Fotomontage einer Einschienenbahn auf der Mariahilfer Straße, 1958; aus: WStLA, Kleine Bestände
– Besondere Projekte, A46: 5 – Alwegbahn.

II. Hochhäuser, Automobilisierung und Einschienenbahn: Utopische Planungen in Wien

In den 1950er-Jahren veränderte sich das Wiener Stadtbild sukzessive durch funktionale Neubauten, aber auch durch die Errichtung von mehreren Hochhäusern. Der Bau von Hochhäusern wurde als Sinnbild einer utopischen Moderne gezielt durch die Politik gefördert. Ein Beispiel mit hoher symbolischer Bedeutung ist der 71 Meter hohe Ringturm. Das damals zu den höchsten Häusern Europas zählende Bauwerk, war noch zur Zeit der Alliierten Besatzung errichtet worden und kann als Symbol der Orientierung an den USA und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verstanden werden. Er stand gleichfalls für den beendeten Wiederaufbau und den Aufstieg Wiens zur Weltstadt. Die meisten frühen Hochhausbauten, wie etwa das Matzleinsdorfer Hochhaus, wurden jedoch im Kontext des sozialen Wohnbaus errichtet. So entstand noch in den frühen 1980er-Jahren mit dem vom Architekten Harry Glück erbauten Wohnpark Alt-Erlaa die sicherlich ikonischste Hochhaussiedlung Wiens.

1958 wurde Roland Rainer von der Stadt Wien zum Stadtplaner bestellt. Rainer hatte in diesem Jahr mit der Fertigstellung der Stadthalle eine architektonische Ikone der Wiener Architektur der Nachkriegszeit konzipiert. Mit seinem 1962 erschienenen 11-Punkte-Programm im Planungskonzept Wien verhalf er der funktionalistischen Stadtplanung in Wien endgültig zum Durchbruch. Rainers Planungskonzept sah vor, durch die Errichtung von innerstädtischen Autobahnen die Effizienz im Verkehr zu maximieren. Neben umgesetzten Projekten, wie der Südosttangente, waren Autobahnen am Flötzersteig und eine Gürtelautobahn in Hochlage projektiert. Die Westeinfahrt sollte durch die Wientalautobahn bis zum Karlsplatz reichen, wofür eine Verlegung des Naschmarkt notwendig gewesen wäre.

Generell konzentrierte sich die Stadtplanung im Sinn des funktionalistischen Modells auf den vermeintlich zukunftsweisenden motorisierten Individualverkehr. Gezielt wurde die Trennung der einzelnen Fortbewegungsmittel im Verkehrsraum vorangetrieben. Der Autoverkehr sollte in keiner Weise von anderen Verkehrsteilnehmern wie Fußgänger*innen oder Fahrradfahrer*innen behindert werden. In diesem Zusammenhang wurden sowohl die unterirdischen Fußgänger*innenpassagen am Ring (Opernpassage, Jonasreindl) und größere Verkehrsbauten wie die Unterführungen am Matzleinsdorferplatz oder Südtirolerplatz errichtet.

Ebenso wurde bereits in den 1950er-Jahren gefordert, öffentliche Verkehrsmittel möglichst aus dem Straßenraum zu verbannen, um den Autoverkehr ungehindert fließen zu lassen. Eine im Besonderen vom damaligen Finanzstadtrat Felix Slavik vorangetriebene Lösung, war die Errichtung einer Einschienenbahn der Firma ALWEG (benannt nach dem schwedischen Großindustriellen Axel Lenard Wenner-Gren). Die damals von der ÖVP propagierte Errichtung einer U-Bahn wurde als zu teuer abgelehnt. Der Zeitpunkt, U-Bahnen zu bauen, sei „von der christlichsozialen Stadtverwaltung“ vor dem Ersten Weltkrieg versäumt worden, der Bau eines U-Bahn-Netzes sei viel zu teuer, würde Jahrzehnte dauern und durch die Aushebungsarbeiten schwere Beeinträchtigungen des Stadtverkehrs bringen (vgl. Arbeiterzeitung 1958a: 1). Konkret wurde im Zusammenhang mit den Planungen der Gürtel-Autobahn (A 20) angedacht, eine Einschienenbahn über den Stadtbahnbögen am Gürtel zu errichten. Zwar war trotz anfänglicher Überlegungen und Fotomontagen zur Wahrung des historischen Stadtbilds keine Einschienenbahn auf der Ringstraße oder auf der Mariahilfer Straße vorgesehen, aber

„ein hoher, schlanker, architektonisch schöner Alweg-Viadukt etwa bei den Neubauten am Donaukanal oder beim Margaretengürtel über dem Wiental würde Wien ein wahrhaft weltstädtisches, geradezu utopisches Gepräge geben“. (Arbeiterzeitung 1958b: 2)

Abb. 2: Funktionalistisches Gliederungsschema Wien; aus: Rainer (1962): 68.

Auch die Neubaugebiete jenseits der Donau galten als ideales Gelände für das neue Massenverkehrsmittel mit „hypermodernem Aussehen und technischer Schönheit“ (Arbeiterzeitung 1958b: 2). Das Projekt wurde trotz großen Zuspruchs führender Politiker nicht umgesetzt, 1962 kam es aus technischen Gründen zur Einstellung der Einschienenbahnpläne. In Wien wurde schließlich über den Zwischenschritt von U-Straßenbahnen in den 1970er-Jahren die U-Bahn errichtet.

In die Periode der funktionalistischen Stadtplanung fielen mehrere Groß- und Prestigebauvorhaben, wobei eine räumliche Konzentration auf das Areal zwischen der Alten Donau und dem ehemaligen Überschwemmungsgebiet festzustellen ist. Bereits die Enquete für den Wiederaufbau der Stadt Wien formulierte als übergeordnete städtebauliche Zielsetzung, „Wien an die Donau“ zu bringen. Die Wiener Internationale Gartenschau 1964 im Donaupark, in deren Zuge auch der 252 Meter hohe Donauturm eingeweiht wurde, legte den Grundstein dieser Entwicklung. Nach der Entscheidung 1967, einen dritten Amtssitz der Vereinten Nationen in Wien zu eröffnen, kam es zur Abhaltung eines Architekturwettbewerbs für die UNO-City unter dem Vorsitz von Roland Rainer. Die drei bis zu 127 Meter hohen Bauten waren nach ihrer Errichtung 1979 die damals höchsten Hochhäuser in Wien. Mit dem Bau der Donauuferautobahn, der neuen Reichsbrücke, die auch eine U-Bahn-Anbindung ins Stadtzentrum ermöglichte und der Errichtung der Donauinsel wurde dieses neue urbane Zentrum erschlossen. Nach der Absage der geplanten EXPO 95 entwickelte sich hier mit der Donau-City ab 1991 das erste Hochhausquartier in Wien.

III. Altstadterhaltung und umweltbewusste Stadt

Ab Mitte der 1960er-Jahre regte sich in der Bevölkerung zunehmend Widerstand gegen die rein funktionale Umgestaltung des gewachsenen Stadtraums. Diese Bewegung, die stark von Kulturschaffenden getragen wurde, forderte die Erhaltung innerstädtischer historischer Viertel. Besonders heftige Proteste gab es etwa beim Abriss der barocken Rauchfangkehrerkirche mitten auf der Wiedner Hauptstraße, die 1965 für eine effizientere Verkehrsgestaltung abgetragen wurde. Der Autoverkehr, der von den Funktionalisten noch als Befreiung des Menschen angesehen wurde, erwies sich in der Realität mit Staus, Luftverschmutzung und Verkehrstoten (zum Vergleich: 1983: 169 Tote, 2020: 15 Tote) zunehmend als Belastung. Mit der Errichtung der U-Bahn und dem Bau von ersten Fußgängerzonen setzte die Stadtverwaltung ab den späten 1970er-Jahren zunehmend auf eine Zurückdrängung des Autos im Verkehrsraum. Gleichzeitig wurde 1972 mit der Altstadterhaltungsnovelle die Möglichkeit geschaffen, historische Ensembles unter Schutz zu stellen und vor dem Abriss, oder einer Überformung, zu bewahren.

Die Umweltbewegung, die sich durch die Proteste gegen das AKW Zwentendorf und die Besetzung der Hainburger Au konstituiert hatte, gewann spätestens ab Mitte der 1980er-Jahre auch in Wien an politischer Bedeutung. Zwar scheiterten die Grünen 1987 noch am Einzug in den Gemeinderat, die breite gesellschaftliche Forderung nach einem ökologischen Umdenken in der Stadtplanung setzte jedoch schon zuvor erste Akzente. So orientierte sich der Stadtentwicklungsplan 1984 neben den Prinzipien „Verteilungsgerechtigkeit“ und „sozialer Ausgleich“ explizit auch am „Umweltschutz“ und setzte auf Stadterneuerung ohne weitere Zersiedelung und auf die Zurückdrängung des Autoverkehrs. Die Stadt sollte durch höherrangige öffentliche Verkehrsmittel erschlossen werden. Der Bau von Fußgängerzonen wurde in lokalen Zentren gefördert. Auch das Fahrrad, das, als Fortbewegungsmittel der armen Leute verschrien, bis in die 1960-Jahre völlig aus dem Verkehrsbild verschwunden war, erlebte ein langsames Comeback als Verkehrsmittel. Der STEP 84 wich sukzessive vom funktionalistischen Konzept ab, Ziel war ein polyzentrisches Stadtmodell, orientiert an Entwicklungsachsen mit durchmischten städtischen Funktionen. Gleichzeitig wurde die Erhaltung der Grünflächen und Erholungsgebiete in der Stadt zur Maxime erhoben. Eine wesentliche Entwicklung war der Bau der Donauinsel, die entgegen früheren Überlegungen nicht als Baufläche für Hochhausprojekte, sondern weitgehend als Auenlandschaft mit einem Mindestmaß an Bebauung erhalten blieb.

Die „Funktionale Stadtplanung“ war mit der Absicht angetreten, den Menschen in den Mittelpunkt aller Planungen zu stellen, hatte jedoch die aus ihrer Sicht irrationalen menschlichen Bedürfnisse, wie etwa die Wertschätzung vom historischen Stadtbild und einer weitgehend intakten Natur, nicht berücksichtigt. Vielfach wurde in den Planungen der Mensch mit dem Auto gleichgesetzt, dem überproportional viel Raum zugestanden wurde. Durch wertkonservative Bürger*innenbewegungen, wie auch die Ökologiebewegung, wurden die fortschrittlichen Ideale des Funktionalismus, wie eine für alle Menschen zugängliche individuelle Mobilität, zunehmend in Frage gestellt.

NIKOLAUS SCHOBESBERGER

studierte Geschichte und Kartographie an der Universität Wien, arbeitet im Wiener Stadt- und Landesarchiv, wo er die Kartographische Sammlung und die Archivbestände der Planungsabteilungen der Stadt Wien betreut.

Literatur

  • Arbeiterzeitung (1958a): Alwegbahnen durch die Bundeshauptstadt? (Ausgabe vom 22. Jänner 1958).
  • Arbeiterzeitung (1958b): Stadtrat Slavik: Wien braucht eine Schnellbahn? (Ausgabe vom 15. Februar 1958).
  • Bernard, Erich & Feller, Barbara (1999): Amt macht Stadt. Das Wiener Stadtbauamt, In: Architektur Zentrum Wien (Hg.): Amt Macht Stadt. Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt, Salzburg: Residenz Verlag, 5–29.
  • Blau, Eve & Banik-Schweitzer, Renate (2003): Urban Form. Städtebau in der postfordistischen Gesellschaft, Wien: Löcker.
  • Brunner, Karl Heinrich (1952): Stadtplanung für Wien. Bericht an den Gemeinderat der Stadt Wien, Wien: Volk und Jugend.
  • Denk, Marcus (2008): Zerstörung als Chance? Städtebauliche Grundlinien, Leitbilder und Projekte in Wien 1945-1958, Duisburg/Köln: WiKu-Verlag.
  • Glausner, Andrea (2017): Vertikales Bauen in Europa, eine soziologische Analyse, Frankfurt/New York: Campus.
  • Hachleitner, Bernhard (2015): Infrastruktur, Topographie oder doch Politik und Kultur? Eine historische Analyse von Faktoren der Radverkehrsentwicklung Wiens im Vergleich mit anderen Städten, in: Zukal, Heinrich & Brezina, Tadej (Hg.), Radfahren in der Stadt, Wien: TU Wien, 117–127.
  • Korzendörfer, Helmut (1981): Stadtplanung vor dem Hintergrund der Stadtentwicklung 1945 bis 1981, Wien: Jugend & Volk.
  • Pirhofer, Gottfried & Stimmer, Kurt (2007): Pläne für Wien. Theorie und Praxis der Wiener Stadtplanung von 1945 bis 2005, Wien: Stadt Wien.
  • Platzer, Monika (2015): Schatten der Vergangenheit. Wien nach 1945. Die zweite Fassung der Perle? in: Architekturzentrum Wien (Hg.): „Wien. Die Perle des Reiches“. Planen für Hitler, Wien/Zürich: Architekturzentrum Wien/Park Books, 47–66.
  • Rainer, Roland (1962), Planungskonzept Wien. (= Der Aufbau 13), Wien: Jugend & Volk.
  • Reichow, Hans Bernhard (1959): Die Autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos, Ravensburg: Otto Maier Verlag.
  • Sterk, Harald: Bauen in Wien. Das letzte Jahrzehnt 1976 bis 1986, Wien: Herold.
  • Der Wiederaufbau (Hg.) (1973): Die „autogerechte“ + „autolose“ Stadt. Eine Utopie, Bremen: Verlag zur Förderung der Mitarbeit des Bürgers am Städtebau.
  • Zunke, Rudolf (1993): Wiener Stadtplanung in der Wiederaufbauära nach dem Zweiten Weltkrieg, Dipl.-Arb., Univ. Wien.