Nicht zuletzt angesichts des Pride-Monats – und auch in Erinnerung an die Ausgabe 05/2021 der ZUKUNFT, die den Titel Vielfalt als soziale Frage trug – hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, dem Thema Geschlechterverhältnisse eine eigene Ausgabe zu widmen. Denn zwischen den klassischen Beständen des Feminismus und der gender theory ergaben und ergeben sich wichtige Parallelen, aber auch eminente Unterschiede. Ist das binäre Geschlechtermodell etwa eine anthropologische Konstante, oder – wie im durchgängigen Rekurs auf poststrukturale Theorie(n) immer wieder betont wird – sind sex und gender gleichermaßen Effekt von diskursiven Konstruktionen? Im Blick auf notwendige (theoretische) Diskussionen im Rahmen der Sozialdemokratie wäre es dahingehend nötig, sowohl die körperorientierten Geschlechtsmodelle, als auch die (De-)Konstruktionsargumente zusammenzuführen, um gerade in Fragen der progressiven Frauenpolitik strategisch und taktisch gemeinsam – und auch geschlechterübergreifend – vorgehen zu können. Erinnert sei dabei nur an den Schlagabtausch, der sich 2017 zwischen Alice Schwarzer und Judith Butler ergeben hat. Aus diesen und anderen Gründen stellen wir mit dieser Ausgabe der ZUKUNFT Geschlechterverhältnisse eigens zur Diskussion …
Diese beginnt mit einem Interview, das die Redaktionsassistentin der ZUKUNFT, Bianca Burger, mit Gloria Dimmel, der Künstlerin unserer Bildstrecke, über ihre Kunst, Politik und Sexismus geführt hat, um die in dieser Ausgabe präsentierte Ästhetik von Gipsabdrücken zu erläutern. Dimmel erklärt dabei, was sie dazu motiviert hat, Frauen die Gelegenheit zu geben, ihre Vulva mittels Gipsabdruck zu verewigen und wie bzw. wo solche Sitzungen stattfinden. Die Beweggründe der Teilnehmerinnen sind verschiedene, genauso was anschließend mit den Abdrücken geschieht. Auch wenn es sich dabei um ein Projekt handelt, mit dem Dimmels künstlerische Karriere erst so richtig startete, wünscht sie sich dennoch eine Welt, in der dieses Projekt gar nicht notwendig wäre, weil jede*r weiß, um was es sich bei einer Vulva handelt und keine Frau sich mehr dafür schämt. Dem kann die Redaktion der ZUKUNFT nur auf allen Ebenen zustimmen.
Die Irritation traditioneller Geschlechterverhältnisse analysiert dann der Beitrag von Jan Obradovic, der einen Blick auf das Verhältnis von Drag, ästhetischer Bildung und Heteronormativität wirft. Er rahmt dabei die Kunstform des Drag theoretisch, um sie in einen Bezug zur Ästhetik setzen zu können und beschreibt, inwiefern sie eine subversive ästhetische Erfahrung auslösen kann. Dabei geht der Artikel von Drag im Mainstream aus, also etwa vom Reality-TV-Format RuPaul’s Drag Race, um die mediale (und soziale) Rolle von Parodie und Queerness in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang erscheint Drag als Träger*in ästhetischer Erfahrung(en) und zeigt, dass Körper geschlechtlich verschieden markiert werden (können). Insgesamt steht damit die Hoffnung im Raum, dass die Wandelbarkeit von Drag und der Wille der Drag-Performenden, dazu führt, starre gesellschaftliche Geschlechternormen aufzubrechen.
Michael Burger widmet sich in der Folge mit seinem Essay der Verhandlung von Geschlechtlichkeit und Geschichte im Videospiel, genauer gesagt der Dekonstruktion von Geschlecht im 12. Teil der Assassin’s Creed Spielreihe: Valhalla. Die Besonderheit besteht darin, dass es den Spieler*innen ermöglicht wird, zwischen den Geschlechtern zu wechseln, wodurch auch im virtuellen Raum des Computerspiels heteronormative Geschlechtsvorstellungen unterwandert werden. Dies ist unter anderem deswegen möglich, weil die Macher*innen mehr oder weniger auf geschlechtliche Attribute verzichtet haben. Burger zeichnet die Entwicklung der Spielreihe im allgemeinen und Valhalla im Besonderen nach und macht deutlich, welche Veränderungen die Reihe hinsichtlich der spielbaren Charaktere durchgemacht hat. Von einer binären Geschlechtsvorstellung hin zu einer Geschlechtskonstruktion, in der die Geschlechtsidentität zu einer fluiden Kategorie wird.
Bei Uwe Schütte steht anschließend die Musik im Mittelpunkt, besser gesagt die Popsozialisation. In seinem Review-Essay stellt er zwei Neuerscheinungen zur Popmusik ins Zentrum und bereichert sie im Blick auf Bands wie Can, Neu! oder Kraftwerk durch seine musikhistorischen Reflexionen. Neben der wissenschaftlichen Analyse kommen auch Schilderungen autobiografischer Erfahrungen nicht zu kurz, wenn er etwa im Werk von Jens Balzer – auch dies ein Beitrag zu unserem Themenschwerpunkt – die Entwicklung des männlichen Gitarrenrocks zur Dominanz von Musikerinnen wie Amy Winehouse oder Adele als grundlegende Transformation der Geschlechtermatrix im Rahmen der Pop-Musik-Historie im 21. Jahrhundert vor Augen führt. So liest sich der Artikel auch im Sinne von Erkundungen über die Erfindung von Pop, Nerds und eben den aktuellen Siegeszug von Sängerinnen …
Den Auftakt für den literarischen Abschnitt dieser Ausgabe macht in der Folge Zarah Weiss mit ihrer Erzählung Blasse Tage. Sie erzählt die Geschichte von Sonia und Mascha, die beide den gleichen Kurs an der Universität besuchen. Während Sonia jede noch so kleine Regung von Mascha wahrnimmt, scheint diese keine Notiz von ihr zu nehmen; eine Geschichte, wie sie häufig vorkommt, direkt aus dem Leben gegriffen, feinfühlig und beeindruckend in einem literarischen Loop erzählt. Während Weiss von einer Schwärmerei und einer sich möglicherweise entwickelnden gemeinsamen Zukunft berichtet, stellt Lorena Pircher dann eine vergangene, unerfüllt gebliebene Liebe in den Mittelpunkt ihrer Erzählung Revenir. Es geht dabei um Rückkehr, Aussöhnung und selbstbestimmte Neuanfänge. Die Verbindung zum Thema dieses Heftes besteht dabei in der an verschiedenen Stellen durchscheinenden Diskussion von weiblicher Identität.
Den Abschluss bildet schließlich die Laudatio Minesweeper des ZUKUNFT-Redakteurs Thomas Ballhausen, der diese im Rahmen der Verleihung des Clemens-Brentano-Preises 2021 der Stadt Heidelberg an den österreichischen Schriftsteller Simon Sailer halten durfte. Sailers Literatur ist nicht zuletzt von männlichen Protagonisten bestimmt, die einem unheimlichen Schicksal ausgeliefert sind. Insofern thematisiert auch Ballhausen Geschlechterverhältnisse und reflektiert in diesem Erstabdruck seiner Rede aktuelle Debatten in und um Literatur. Simon Sailer erhielt den Clemens-Brentano-Preis 2021 übrigens für seine Novelle Die Schrift. Wir dürfen zum Schluss dieser Ausgabe und an dieser Stelle buchstäblich einen Schriftauszug veröffentlichen, in welchem Sailer mit der Anlage seines tragischen Helden an Traditionen der Romantik sowie der Moderne anschließt.
Insgesamt hoffen wir erneut, dass die ZUKUNFT mit ihren Themenschwerpunkten die wissenschaftlichen, politischen und ethischen Interessen der Sozialdemokratie abdeckt, um gerade im Bereich der Geschlechterverhältnisse progressive Politik mit einer linken Kante zu ermöglichen …
Wir senden Ihnen im Namen der gesamten Redaktion
herzliche und freundschaftliche Grüße,
Bianca Burger und Alessandro Barberi
BIANCA BURGER ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/