Kulturrelativismus und Universalismus. Ein Schauplatz der Menschenrechtsdebatte – VON GEORG KOLLER

GEORG KOLLER kümmert sich in seinem Beitrag um die Gefahr der Zerstörung des Universalismus und der Aufklärung, die nicht zuletzt aus der Ecke des Kulturrelativismus und der Postmoderne droht. Denn angesichts von Post- oder Transhumanismus ist es mehr als nötig, das „Verschwinden“ (Michel Foucault) oder das „Zerschneiden“ (Niklas Luhmann) des Menschen aus rationaler und humanistischer Perspektive scharf zu kritisieren.

„Indessen gibt es eine Stärkung und tiefe Beunruhigung,
wenn man bedenkt, daß der Mensch lediglich
eine junge Erfindung ist, eine Gestalt,
die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt,
eine einfache Falte in unserem Wissen,
und daß er verschwinden wird, sobald unser Wissen
eine neue Form gefunden haben wird.“
Michel Foucault (1966):
Die Ordnung der Dinge

„Die Konsequenz dieser Theorieentwicklungen,
in denen sich heute all das sammelt,
was intellektuell fasziniert, ist meines Erachtens,
daß man von verschiedenen emergenten Ebenen des Ordnungsaufbaus
der Realität ausgehen muß,
die den Menschen sozusagen durchschneiden.“
Niklas Luhmann (1995):
Die Soziologie und der Mensch

„Oft werden die Unterdrückungen und
Menschenrechtsverletzungen lokaler Mächte,
die nach traditionellen Wertesystemen
[…] erfolgen, mit kulturrelativistischer Argumentation
gerechtfertigt und die Kritiker dieser Unterdrückungen
als Imperialisten diffamiert […].“
Arash Guitoo (2024):
Die westlichen Linksprogressiven
und der Rest der Welt

I. Problemstellung

Michel Foucault, der Meister der Archive, hat uns ein schweres Erbe hinterlassen. Unübertroffene historische Gelehrsamkeit paarte sich mit – durch Nietzsche inspiriertem – französischem Kulturrelativismus, saussure- und wittgensteinscher Sprach(spiel)theorie, sowie einer eher unausgesprochenen Metaphysik Martin Heideggers, die dort Platz griff, wo man Kant nicht mehr wahrhaben wollte. Kombiniert mit einer politischen Weltsicht, die stets das Vorherrschende – und damit auch die Aufklärung – für das Schlechte nimmt, wird der Mensch nunmehr zur „Falte in unserem Wissen“ und damit auch der Humanismus zur Tyrannei. In einer übersteigerten Applikation dieser Inspirationen auf das, was man einst Realität nannte, schreibt etwa Jean-François Lyotard:

„So hängt die kommende Gesellschaft weniger von einer Newtonschen Anthropologie (wie der Strukturalismus oder die Systemtheorie) und viel eher von einer Pragmatik der Sprachpartikel ab. Es gibt viele verschiedene Sprachspiele – das ist die Heterogenität der Elemente. Sie führen nur mosaikartig zu Institutionen – das ist der lokale Determinismus.“ (Lyotard 1986: 15)

Im Anschluss führt Lyotard die „Entscheidungsträger“ (ebd.) an, womit eine arbiträre politische Machtförmigkeit aller Diskurse besiegelt ist. D. h. Objektivität war gestern. Wer das nicht zu verstehen glaubt oder meint, nicht das nötige Vorwissen zu besitzen, sei bloß auf den hier verwendeten Begriff „Newtonschen Anthropologie“ hingewiesen. Was ist aber eine Newtonsche Anthropologie? Leider hat dies nichts damit zu tun, dass Einstein die Newtonsche Mechanik ablösen musste, um Satelliten in den Orbit zu schießen, sondern dies ist ein Gleichnis. Und dieses Gleichnis besagt, dass selbst der naturwissenschaftliche Diskurs, ausschließlich Sprach- bzw. kultursoziologisch aufzufassen ist – und letztlich durch Machtinteressen gesteuert wird. Der Umstand, dass auch Michel Foucault eine Brille getragen und Lyotard wohl eine messbare Körpertemperatur hatte, ist dabei nebensächlich. Es geht schließlich nur um Diskurse, die sich im Labyrinth der Macht verlieren. Ganz so, als könne es sein, dass die Sonne nur für Pygmäen und ein Kühlschrank nur für US-Amerikaner*innen aufgeht.

Einer/einem Naturwissenschaftler*in, die angesichts solcher (künstlicher) Weltvorstellungen zu lachen beginnt, sei gesagt: Von der Bose-Einstein-Kondensation wissen nur wenige etwas zu sagen. Vom Kulturrelativismus aber viele. Und die haben Macht. Pseudosoziologie erschlägt sogar die Naturwissenschaften. Alles ist sprachspielerischer Raum. Alles wird mit Lyotard, Foucault & Co. zum lokalen, postmodernen und relativen Partikularwissen. In eben diese Kerbe schlägt auch eine Systemtheorie, die quasi alles als System unter Systemen begreift. Der Umstand, dass Luhmann sich mit Jürgen Habermas gestritten hat (Habermas/Luhmann 1971), musste ersteren dabei nicht beunruhigen. Ohne Subjekt gibt es keinen Ärger. Aber damit auch keine Menschenrechte. Das Existente sind die „autopoietischen Systeme“.

II. Vom Postmodernismus

Der französische Postmodernismus wie auch die Frankfurter Schule hatten sicher nichts weniger im Sinne als die Kritikfähigkeit der Gesellschaft zu knebeln. Doch das paranoide Narrativ von der Machtförmigkeit der Diskurse, hat selbst eine Hegemonie gewonnen, die gnadenlose Zensur am aufklärerischen Humanismus und damit auch an den Menschrechten übt. Arash Guitoo, homosexueller, iranischstämmiger Islamwissenschaftler, schreibt ganz in diesem Sinne:

„Wie kommt es, dass Akteure, die in einer Welt leben, die dank der Idee der Aufklärung zu einem historisch beispiellosen Ort individueller Freiheit geworden ist, die Aufklärung als solche und im Zusammenhang mit außereuropäischen Gesellschaften als das größere Übel wahrnehmen als die Tradition?“ (Guitoo: 358)

Eine grobe Antwort kann relativ leicht gegeben werden: Bereits die Protoindustrialisierung profitierte am naturwissenschaftlichen Weltbild und erzeugte qua neuerer technischer Möglichkeiten einen Bedarf an Arbeitskraft, der u. a. durch Kolonialismus gedeckt wurde. Mit dem Aufkommen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes beginnt aber das Primat der aufgeklärten, gottlosen Vernunft, von der der britische, marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton (*1943) mit Edward Burke schreibt:

„Der biblische Gott ist durch seine Personalität klar im Vorteil, während die Vernunft in ihrer personlosen Überheblichkeit entschieden un-göttlich erscheint. Edmund Burke erklärt es an unserer Haltung zum Gesetz: Wir mögen eine solche Autorität verehren – lieben können wir sie kaum. Die Vernunft schenkt uns keine ekstatische Erfüllung und keinen Gemeinschaftssinn: und ganz sicher wischt sie nicht die Tränen der Trauernden ab.“ (Eagleton 2014: 51)

Wem dieser Sprung zu groß erscheint, sei daran erinnert, dass Foucault von der „politischen Spiritualität“ Ruholla Chomeinis sprach. Es ist kaum zu glauben, aber mit unseren Postkolonialist*innen bleibt obiger Gott im Vorteil. Auch wenn sie selten an einen solchen glauben und sich allenthalben auf marxistische Theorien berufen.

Manche Proponent*innen der Postkolonialen Studien, der Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung übersehen, dass Aufklärung (zumindest nach Kant, letztlich auch nach Marx) und industrielle Ausbeutung zweierlei sind. Das sind nicht zwei Seiten einer Medaille, bloß weil sie historisch synchron verlaufen mussten. Die feudale, koloniale und letztlich industrielle Ausbeutung des Menschen wurde fast immer durch männliche, weiße Autoritäten gesteuert. Aber welche geistige Strömung ermächtigte den Menschen zur Kritik und zu Auflehnung gegen unbotmäßige Autoritäten? Die Aufklärung mitsamt ihrer Vernunft. Wie kann diese aber heute im Misskredit stehen? Indirekt aber vielsagend erklärt denn auch der Religionsphilosoph und Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi (*1979) die angeblichen Defizite der Aufklärung:

„Die Aufklärung in Europa war eine Bewegung, die aus der Opposition zum Christentum entstand. Wenn man meint, Aufklärung wäre die Lösung aller Probleme, dann muss man erklären, wie es dazu kam, dass in einem Land wie Deutschland Millionen von Juden vergast wurden. Von sehr aufgeklärten Menschen. Die Aufklärung ist nicht die Lösung aller Probleme. Sie wird dann selbst zu einer Ideologie, die, wie Foucault sagte, Menschen zur Aufklärung erpressen will.“ (Karimi/Nimmervoll: 2019)

In diesem Zitat spiegelt sich jene Dämonisierung der Sachlichkeit und Verkürzung der Rationalität, wie sie unter Propagandist*innen einer bewussten oder unbewussten Religiosität auftritt. Die Aufklärung ist kein sektiererisches Moment unter vielen, die sich einst gegen das Christentum aufgelehnt hat, sondern eine naturwissenschaftliche, liberale Weltauffassung, deren Effekte wir hic et nunc antreffen können. Sie geriert sich nicht als „Lösung aller Probleme“, sondern ist Ermöglichungsbedingung, z. B. Obiges überhaupt und ohne Zensur zitieren zu dürfen.

Und es waren keine „sehr aufgeklärten Menschen“, die den industriellen Massenmord geplant hatten, sondern ziemlich verrückte Okkultisten. Himmler betete zu dem 936 verstorbenen Liudolfinger Heinrich I und wenn es auch bezweifelbar ist, dass Hitler sich bei Lanz von Liebenfels Ostara-Heftchen geliehen hat, ist doch historisch gesichert, dass Johann von Leers, Hans F. K. Günther, Alfred Rosenberg u. a. wohl nur im Dritten Reich als Intellektuelle galten und die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V. kaum ein Werk herausgegeben hat, dass auch nur annähernd den (damaligen) wissenschaftlichen Standards entsprochen hätte.

Wie kann ein habilitierter Wissenschaftler wie Ahmad Milad Karimi übersehen, dass die populistische Mechanik des Dritten Reiches einen dunklen Antagonismus zur Aufklärung darstellte? Die Antwort ist erschreckend einfach: Weil alleine schon die Berufung auf Foucault dies legitimiert. Im Namen des Papstes ist, wie bei der woken Erweckungsbewegung, alles möglich. Geschichtswissenschaften? Who cares?

III. Die Philosophen

Das Misstrauen der Postmoderne gegenüber der Aufklärung geht mit dem Nationalsozialismus einher, der bildhaft für den mörderischen Einsatz von Technik, Logistik, Propaganda, Rassismus und Antisemitismus steht. Dass die krude Ideologie dahinter einen historisch eigenen Entwicklungsstrang hat, wird trotz der Kritik an der Deutschen Romantik (etwa bei Georg Lukács) ausgeblendet und der ethische Ballast des Nazitums der Aufklärung zugespielt, da sie u. a. für Technik und Naturwissenschaften steht. Demgemäß verschwinden Humanismus und Mensch(en) auch nach Foucault:

„Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in der Ordnung der Dinge, eine Konfiguration auf jeden Fall, die durch die neue Disposition gezeichnet wird. Daher stammen alle Schimären neuer Humanismen, […].“ (Foucault 1974: 26)

Und weiter im Text:

„Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht. Er existierte ebensowenig wie die Kraft des Lebens, die Fruchtbarkeit der Arbeit oder die historische Mächtigkeit der Sprache. Es ist eine völlig junge Kreatur, die die Demiurgie des Wissens eigenhändig vor nicht einmal zweihundert Jahren geschaffen hat.“ (ebd.: 373)

Der Wind weht von Nietzsche her, welcher schreibt:

„Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, […]. Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden […].“ (Nietzsche 1988: 880)

Ganz in diesem Sinne gilt auch nach Heiddegger: „Die Sprache ist das Haus des Seins“ (Heidegger 1976: 313). Was bedeutete es aber, wenn Wahrheit nur ein „bewegliches Heer von Metaphern“, der Mensch nur ein „Riß in der Ordnung der Dinge“, das Sein, mit Heidegger, alleine im sprachlichen „Haus des Seins“ daheim und Gott mit Nietzsche, bekanntermaßen, tot ist? Es bedeutet, dass diesmal nicht der Feudalismus, der Kapitalismus und der Rassismus einen angemessenen Menschenbegriff deklassieren, sondern der postmoderne Dekonstruktivismus. Man ist ja identitätspolitisch für social justice und damit immer gegen die Unterdrückung des Menschen! Aber wenn man das leidende Subjekt zum wolkenartigen Sprachspiel unter vielen herunterbricht, dann ist da ganz viel Platz für Unterdrückung, weil man Subjekten, welche in Sprachspiele zerfallen, keine Gewalt antun kann und die Settings in denen dies doch geschieht, beliebig interpretiert werden können.

IV. Von der objektiven Realität

Das hat ganz reale Auswirkungen auf die Interpretation der Realität, wie man etwa an den Reaktionen der US-amerikanisch-jüdischen Starintellektuellen Judith Butlers zum Nahost-Konflikt sowie dem 07. Oktober 2023 erkennen kann. Eines vorweg: Selbst, wenn man absolut der (m. E. unreflektierten) Meinung ist, dass der israelische Staat die Hauptschuld am ganzen Nahost-Konflikt trägt, bleibt eine extrem irritierende dekonstruktivistische Zerstreuung des Menschen und Zersetzung der Realität. Trotz einer gewissen Distanzierung sind Hamas und Hisbollah für Butler Teil einer „globalen Linken“, sozial, progressiv und antiimperialistisch (vgl. Weinthal 2023). Dazu nur Folgendes: Die globale Linke existiert nicht (mehr) und in den genannten, religiös-fundamentalistischen Terrororganisationen würde man sich über diese Zuordnung schieflachen bzw. tut es.

Aber es kommt noch schlimmer: Am 03. März 2024 verlangt Butler im Rahmen einer „postkolonialen“ Podiumsdiskussion in Paris Beweise für sexuelle Gewalt an Israel*innen im Rahmen des jüngsten Überfalls der Hamas, obwohl die Täter ihre Taten selbst gefilmt haben (vgl. Cazés 2024). Butler unterstellt, dass zivile palästinensische Opfer weniger betrauert würden als andere. Aber wie steht es mit den fundamentalsten Menschenrechten israelischer Opfer, wenn für sie nicht einmal die Filmaufnahmen der Täter sprechen dürfen? Foucaults Arroganz gegenüber den Menschenrechtsverletzungen im Iran war ähnlich (vgl. Gauß 2024). Natürlich fußen derartige Interpretationen auf Antizionismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus und nicht zuletzt auf Selbstbetrug und Selbstzerstörung. Aber die Möglichkeit dieser Realitätsferne hat seine Wurzeln in der relativierenden Tradition des postmodernen Denkens, das je nach politischem Bedarf das gequälte Subjekt ein- oder ausblenden kann.

V. Die westlichen Linksprogessiven

In einem ebenso beeindruckenden wie bestürzenden Beitrag hat der homosexuelle, iranischstämmige Islamwissenschafter Arash Guitoo etwas beschrieben, das er mit Der tatsächliche Kulturschock betitelte (Guitoo: 347). Seine Kommiliton*innen in Deutschland verstanden ihn nämlich nicht, da er weder antizionistische Tendenzen zeigte noch die iranische Gesellschaft, aus der er kam, verteidigen wollte. U. a. war es das Buch des deutschen Arabisten Thomas Bauer Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam (Bauer 2011), das ihn erregte. Bauer suggeriert tatsächlich, dass erst der Kontakt mit Aufklärung und Moderne islamische Gesellschaften doktrinär homophob gemacht hätte. Guitoo, ein tatsächlich Leidtragender, schreibt aber u. v. a., dass die

„Strafgesetze, die gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit unmenschlichen Strafandrohungen bedrohten […], Vorschriften aus dem klassischen islamischen Recht und Hunderte von Jahren alt [waren].“ (ebd. 354)

Die Sozialtheoretikerin Ulrike Marz schreibt in diesem Zusammenhang:

„Denn der moderne Rassismus mitsamt seinen Rassentheorien ist in der Zeit der aufklärerischen Moderne entstanden. Die Gleichzeitigkeit von Moderne und Rassismus […] wird in vielen Theorien zum Grund für eine grundsätzliche Zurückweisung von (westlicher) Aufklärung und Moderne mit ihren universalistischen Prämissen von Emanzipation, Individualismus und ihrem Freiheits- und Gleichheitsversprechen.“ (Marz 2022: 41–42)

Dass damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, liegt auf der Hand. Die seltsamen Blüten, die solch eine Haltung treibt, beschreibt der Sozialwissenschaftler Sebastian Wessels:

„Wenn eine Gesellschaft strukturell rassistisch ist, kann – streng genommen – keine Handlung der von diesen Strukturen privilegierten Menschen nicht rassistisch sein, […].“ (Wessels 2022: 69)

Dass das deutsche Grundgesetz in Art 3 Absatz 3 u. a. Diskriminierung nach „Rasse“ untersagt, kann demgemäß nur rassistisch sein:

„Der Grund, aus dem Rassismus und Machtverhältnis […] nicht zu trennen sind, ist, dass nur die jeweils mächtigere Gruppe … die weniger mächtige schädigen könne, […].“ (ebd. 74)

Das ist natürlich unlogisch und lebensweltlich unhaltbar. Der Kulturrelativismus überholt sich hier selbst und wird zum starren, binären System, welches marginalisierten Gruppen absolutes handlungstheoretisches Unvermögen, indirekt aber auch absolute moralische Oberhoheit zuspricht. So gesehen können z. B. Palästinenser Israelis gar nicht schädigen, was perfekt in das Konzept Judith Butlers passt, die Beweise verlangt, wo sie in erschreckendster Fülle gegeben sind. D. h. aber auch, dass nur als marginalisiert wahrgenommene Personengruppen überhaupt Träger von Menschenrechten sein können, womit sich deren Begriff auflöst.

Diese Kultur der (ethischen) Beliebigkeit ist aber kein neueres Phänomen. Sie trat besonders in der deutschen Linken nach dem Sechstagekrieg (1967) auf. Jean Améry schreibt dazu 1969:

„Da nun einmal der nationalrevolutionäre Aufstand gleichsam zum eisernen Bestand junglinken Denkens oder Nichtdenkens geworden war, hat unausweichlich um den Widerstand der Palästina-Araber der Enthusiasmus der Neuen Linken sich konzentrieren müssen – und damit der Hass gegen den israelischen »Oppressor« sich entzündet. Vietnam, der Kampf bolivianischer Guerrilleros, der Widerstand in Griechenland, die Black-Panther-Bewegung, der [sic! G. K.] El-Fatah, das galt mit einemmal gleichviel.“ (Améry 2024: 57–58.)

Hier sei bemerkt, dass Améry sich als Kritiker des israelischen Staates gezeigt hatte. Er war vom Zionismus ebenso enttäuscht wie von der damals jungen Linken, die mit ihrer Widerstandsromantik auch antisemitische Narrative ihrer verhassten Elterngeneration wiederbelebte.

VI. Kant, der Rassismus und die Menschenrechte

Der Umstand, dass dekonstruktives Denken Anstoß sein kann, menschliche Realitäten im Dienste einer Sache zu verlieren, die dunkler ist als die Aufklärung, sollte bedacht werden. Die schiere Betonung der Bestialität des (kolonialistischen) Okzidents und der Aufklärung ist keineswegs Dienst am Menschenrecht. Es ist ein gewisser Universalismus vonnöten, welcher das vernaturwissenschaftlichte und später dekonstruierte Subjekt quasi rettet. Diesem Problem widmen sich z. B. Omri Boehm in seinem Werk Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität (Boehm 2022) und Susan Neiman in Links ≠ Woke (Neimann 2023).

LINKS ≠ WOKE
VON SUSAN NEIMAN
Berlin: Hanser
176 Seiten | € 22,70 (Gebundenes Buch)
ISBN: ‎978-3446278028
Erscheinungstermin: 2023

Mit Terry Eagleton kann man sagen, dass der Tod Gottes die Menschheit jener Klammer beraubte, die seelische Größen als solche kenntlich werden lässt, verbindet und zu Subjekten analoger Leidensfähigkeit macht. Doch dieses Problem könnte m. E. bereits gelöst sein. Kant führte den vorerst abstrakten Begriff der universellen Menschenwürde ein und fundierte diesen in der gesellschaftsstiftenden Funktion der Vernunft, womit dieser Begriff praktisch wird.

Aber Kant war doch Rassist! Eine Zuschreibung die vornehmlich einer Vorlesungsankündigung aus dem Jahre 1775 mit dem Titel Von den verschiedenen Rassen der Menschen entspringt (Kant, AA II: 429). Der deutsche Philosoph Karlfriedrich Herb (*1957) geht auf diese Problematik ein, und schreibt „Kant […] schwimmt im Mainstream [der Zeit]“, und „[ist selbst in einen] Zustand der selbstverschuldeten Unmündigkeit [geraten.]“ (Herb: 2018: 385) kommt aber zu dem Urteil:

„Es fällt allerdings auf, dass Kant von einer durchgängigen Diskreditierung der nicht-weißen Rasse Abstand nimmt“. (vgl. Herb 2018: 386)

M. E. darf man Kants Rassismus, der sich allerdings auf eine protodarwinistische Vorstellung der Rassenentstehung durch geografische Klimazonen bezieht, nicht überschätzen. Gegenüber späteren Rassisten hat er nämlich einen klaren ethischen Vorzug: In den Vorarbeiten zum Privatrecht der späteren Metaphysik der Sitten schreibt er:

„Die Schwierigkeit wegen des obersten Rechtsprincips ist daß man das Menschenrecht (das Verhältnis der Freyheit in Raum und Zeit) hat abhandeln wollen ehe man das Recht einer Person überhaupt (als Noumenon) unternommen hat. Daher sind die schwierigkeiten der Anwendung der Principien für schwierigkeiten der reinen Principien a priori gehalten worden.“ (Kant, AA XXIII: 300)

Damit fällt nicht nur Kants Rassimus als Teil eines eigenen Konzeptes heraus, sondern begründet sich auch eine universalistische Ethik, die von den supranaturalistischen Vorstellungen der früheren Aufklärung (Rassimus) verschont bleiben muss. Das homo noumenon (Verstandeswesen) hat weder Hautfarbe noch „Schlitzaugen“ oder Kraushaar und ist auch nicht „weiß“ oder männlich. Es gebiert „Recht einer Person überhaupt […]“ (ebd.). An keiner Stelle der Akademieausgabe wird von Kant irgendeinem Menschen das Verstandeswesen abgesprochen. Wer nun den Fehler machen will, diesen Menschenrechtsbegriff, den Kant nicht als seine (persönliche) Idee, sondern als eine Logik der Ethik verstanden wissen wollte, einer spezifischen („weißen“) Kultur zuzuordnen, entledigt sich aller überkulturellen Rechte, und überließe – wenn natürlich unbewusst – der superioren kulturellen Vereinigung, ggf. auch dem Nationalsozialsimus, wer man sein will.

VII. Conclusio

Wer also nicht bloß „X“ (Nietzsche), „Falte“ (Foucault), „Sprache“ (Heidegger) oder „Durschnittenes“ (Luhmann) sein will, sollte sich unter der Aufklärung mehr als nur ein patriarchalisches weißes Projekt vorstellen, das mit seinem Licht alles andere in den Schatten stellen wollte. Wem das immer noch nicht reicht, sollte sich fragen, warum das aufklärerische „Menschenrecht auf Bildung“ (digitale) Bibliotheken und Universitäten zugänglich gemacht hat, in denen die Kritik an der Aufklärung allenthalben ventiliert wird, die es aber allererst möglich machen, dass auch den Vertreter*innen der Postmoderne ein Licht aufgeht. Sapere aude!

Literatur

Améry, Jean (2024): Die Linke und der Zionismus, in: Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.): Jean Améry. Der neue Antisemitismus, Stuttgart: Klett-Cotta, 51–62.

Bauer, Thomas (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, Berlin: Suhrkamp.

Boehm, Omri (2022): Radikaler Universalismus: Jenseits von Identität, Berlin: Propyläen.

Cazés, Laura (2024): Judith Butler ist nicht irgendwer, online unter: https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/judith-butler-ist-nicht-irgendwer/ (letzter Zugriff: 01.08.2024).

Eagleton, Terry (2014): Der Tod Gottes und die Krise der Kultur, München: Pattloch.

Elbe, Ingo/Henkelmann, Katrin et al. (Hg.) (2022): Probleme des Antirassismus. Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik, Berlin: Verlag Klaus Bittermann (Edition TIAMAT).

Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gauß, Karl-Markus (2024): Der kritische Beobachter Karl-Markus Gauß über Antisemitismus heute, in: derstandard.at, online unter: https://www.derstandard.at/story/3000000204782/der-kritische-beobachter-karl-markus-gauss-ueber-antisemitismus-heute (letzter Zugriff: 01.08.2024).

Guitoo, Arash (2024): Die westlichen Linksprogressiven und der Rest der Welt, in: Vukadinović, Vojin Saša: Siebter Oktober Dreiundzwanzig, Berlin: Querverlag.

Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 347–372.

Heidegger, Martin (1976): Brief über den Humanismus, in: ders., Wegmarken (1919–1961), Band 9, Heidegger-Gesamtausgabe, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 313–364.

Herb, Karlfriedrich (2018): Unter Bleichgesichtern. Kants Kritik der kolonialen Vernunft, in: Zeitschrift für Politik, Vol. 65, Baden-Baden: Nomos.

Kant, Immanuel (1775): Von den verschiedenen Racen der Menschen: Zur Ankündigung der Vorlesung zur physischen Geographie im Sommerhalbenjahr 1775, in: AA II: 429 ff.

Kant, Immanuel (1900): Akademieausgabe der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, online unter (u. a.): http://www.korpora.org/Kant/ (letzter Zugriff: 01.08.2024).

Kant, Immanuel (o. J.): Vorarbeiten zum Privatrecht, in: AA XXIII: 300ff.

Karimi, Ahmad Milad/Nimmervoll, Lisa (2019): Islamwissenschafter: Die Aufklärung ist nicht die Lösung aller Probleme, in: www.standard.at, online unter: https://www.derstandard.at/story/2000095506853/islamwissenschafter-die-aufklaerung-ist-nicht-die-loesung-aller-probleme (letzter Zugriff: 01.08.2024).

Lyotard, Jean-François Lyotard (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Böhlau.

Marz, Ulrike (2022): Theoretische Einordnung und Grenzen des Ansatzes für die Rassismuskritik in Deutschland, in: Elbe, Ingo/Henkelmann, Katrin et al. (Hg.): Probleme des Antirassismus, Berlin: Verlag Klaus Bittermann, 15–46.

Neiman, Susan (2023): Links ≠ Woke, Berlin: Hanser.

Nietzsche, Friedrich (1988): Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, KSA 1, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter, 873–890.

Vukadinović, Vojin Saša (Hg.) (2024): Siebter Oktober Dreiundzwanzig, Berlin: Querverlag.

Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter, online unter: https://www.gutenberg.org/files/51221/51221-h/51221-h.htm (letzter Zugriff: 01.08.2024).

Weinthal, Benjamin (2013): The Jew in a Box, in: Foreign Policy, online unter: https://foreignpolicy.com/2013/04/04/the-jew-in-a-box/ (letzter Zugriff: 01.08.2024).

Wessels, Sebastian (2022): Vorurteil plus Macht? Zur Inkohärenz des systemischen Rassismusbegriffs in: Elbe, Ingo/Henkelmann, Katrin et al. (Hg.) (2022): Probleme des Antirassismus, Berlin: Verlag Klaus Bittermann, 67–79.

GEORG KOLLER
ist Schriftsteller und Angestellter im öffentlichen Bildungsbereich. Er lebt und arbeitet in Wien.