Zur rassismusbetonten Kant-Rezeption oder „ … Alle Neger stinken“ – VON GEORG KOLLER

Extremismus ist immer auch ein Extremismus der Auslegung von Texten. Dass dies nicht immer nur religiöse Schriften betrifft, sondern auch Philosophie und Sozialwissenschaften, belegt GEORG KOLLER am Beispiel Immanuel Kants, der am 22. April 2024 seinen 300. Geburtstag feierte.

„Woraus denn folgt: daß ein Ausrottungskrieg,
wo die Vertilgung beide Theile zugleich
und mit dieser auch alles Rechts treffen kann,
den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe
der Menschengattung statt finden lassen würde.
Ein solcher Krieg also,
mithin auch der Gebrauch der Mittel,
die dahin führen,
muß schlechterdings
unerlaubt sein.“
Immanuel Kant (1795): Zum ewigen Frieden

I. Vorbemerkung

Ist es eigentlich notwendig, kulturwissenschaftliche Klassiker in Hinblick auf Diskriminierung nach Gender und Ethnie zu beleuchten? Es gibt vielfältige Gründe dies mit einem klaren „Ja“ zu beantworten. U. a., da dies kritisches Vorwissen befördert, welches vielleicht verhindert, dass man ein Buch angewidert aus der Hand legt, das man vielleicht doch lesen sollte. Weiters sollten die Fehler von Ries*innen nicht wiederholt bzw. für unlautere Zwecke benutzt werden können. Klare Distanzierungen seitens des Wissenschafts- und Kulturbetriebes können dies sichern. Dass man diese Texte aus der Zeit heraus lesen muss, sollte dabei weniger Exkulpierung des/der Autor*in sein, als Arbeitsauftrag und Leitlinie der Lesart. Es ist schon gut zu wissen, was für gefährliche Irrtümer auch die größten Köpfe einst verbreiten konnten.

So sagt Kant etwa in seiner Physischen Geographie:

„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“ (Kant: AA IX: 316)

So ein Zitat schreckt ab! Nicht nur den/die heutige*n Leser*in, sondern auch jemanden, der die historischen Quellen betrachtet, denn Kant hat niemals ein Werk herausgegeben, dass sich Physische Geographie nennt, auch wenn dieses seitens der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften (die sogenannte Akademieausgabe, kurz AA) publiziert wurde und im Internet abrufbar ist. 1801/2 hat der deutsche Theologe und Hochschullehrer Friedrich Theodor Rink ein solches Buch unter dem Titel Immanuel Kant’s physische Geographie (Rink: 1802) publiziert. Allerdings begannen Kants diesbezügliche Vorlesungen 1756 und Rink ist 1770 geboren. Der Marburger Philosoph und Sozialwissenschaftler Werner Stark hat über die Rezeptionsgeschichte jener Physischen Geographie eine dreizehnseitige Abhandlung verfasst (Stark: 2008).

Keine Sorge! Man muss sich, als Leser*in deshalb nicht in den editionsgeschichtlichen Wahnsinn stürzen und jede unangenehme Stelle bibliophil hinterfragen. Man sollte sich aber bewusst werden können, was man liest. Kant hat die Abfassung Rinkes allerdings autorisiert. Sollen wir sein Werk daher zur Seite legen? Ich denke, dass zwischen Werk und Autor*in maßvoll zu unterscheiden ist. Al Capone hat keine szientistisch wertvolle Historie der US-amerikanischen Zwischenkriegszeit geschrieben. Ich bin aber sicher, dass solch ein Werk öfter gelesen würde als die Schriften Kantens, obwohl der Name Capone nicht unbedingt für Seriosität steht. Grundsätzlich besteht die Frage, ob wir nun über philosophische Konzepte reden oder Namen, unter denen etwas subsumiert wird. Beschäftigen wir uns mit Arendt oder mit der Banalität des Bösen? Beschäftigen wir uns mit Einstein oder der Relativitätstheorie? Beschäftigen wir uns mit Darwin oder der Evolutionstheorie? Wenn ich in die Steckdose greife, verpasst mir nicht der italienische Physiker Allessandro Volta (*1745; † 1827) einen Stromschlag, sondern die elektrische Spannung und Stromstärke. Dabei ist mir wichtig zu betonten, dass alle Autor*innen eine Entwicklung durchlaufen und es gute Gründe dafür gibt, dass späte verschriftlichte Positionen eher für die/den Autor*in stehen als frühere Quellen. Die Kritik der reinen Vernunft wurde 1781 gedruckt. Kants Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) kann nicht ohne Federlesens als vorkritisch gelten, da sie 1788 in überarbeiteter Fassung erschien. Völlig klar ist aber, dass Kants Schrift Zum ewigen Frieden (Kant: 1795: AA VIII) praktisch alle Positionen revidiert, die uns heute im gegenständlichen Sinne im Rahmen seines Gesamtwerks problematisch erscheinen (vgl. Herb 2018: 395).

II. Vom inflationären Rassismus

Heute befindet sich die Macht der Aufklärer*innen im Rückzugsgefecht. Abseits von historisch verstandener Philosophiegelehrtheit haben die Postmoderne, die Dekonstruktion und der Postkolonialismus das Heft in der Hand. Philosophische Klassiker degenerieren zu Zielscheiben postkolonialer Kritik. Abseits ihres Inhalts werden sie zu publizistischen Reibebäumen und Negativ-Beispielen. Man mag glauben, die klassische Philosophie mithilfe des Diskriminierungsbegriffs entmachtet zu haben. Das ist auch sinnvoll, wo es stimmig ist. Man darf auch die Ahnen bzw. Ries*innen, auf deren Schultern wir stehen, geißeln. Doch dieser Ikonoklasmus birgt die Gefahr des Schweinefleischzyklus, des Hufeisens und der Pendelbewegung. Man möge darauf achten, dass einem die gefällte Statue nicht auf die Füße fällt, indem nachweisbar wird, dass man sie ungenügend gelesen und interpretiert hat. Man erweist sonst dem/der politischen Gegner*in einen Dienst. Rassismus und Diversitätsfeindlichkeit haben Macht. Man soll dieser nicht durch Unglaubwürdigkeit in die Hände spielen. In der Zeitschrift konkret spricht der deutsche Philosoph Christoph Türke bereits 1993 von einer „Inflation des Rassismus“ (Türk 1993: 35).

ZUM EWIGEN FRIEDEN
VON IMMANUEL KANT
Ditzingen: Reclam
112 Seiten | € 5,40 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3150143827
Erscheinungstermin: 09. November 2022

Hier die Äußerungen der führenden Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak, die Kant in ihrem Werk Kritik der postkolonialen Vernunft (2013) kritisiert und im Interview mit Friedrich Weißbach auf die Frage, ob Kant Rassist gewesen sei, Folgendes zu Protokoll gegeben hat:

Spivak: Unterschwelliger Rassismus ist das, was die Welt am Laufen hält. Deshalb bin ich nicht daran interessiert, mich mit Fragen wie ‚War Kant oder Marx ein Rassist?‘ zu beschäftigen, und habe das auch nie getan.“

Weißbach: Aber in ihrem Buch Kritik der postkolonialen Vernunft kritisieren Sie Kant dennoch.

Spivak: [Ich erkannte], dass Kant in der Kritik der Urteilskraft [KU], um die Antinomien im Abschnitt über die teleologische Urteilskraft zu lösen, gezwungen war zu sagen, diese sei nicht zu lösen, so lange die ‚Wilden‘ auch als Menschen betrachtet werden.“ (Spivak 2024: 83)

Gehen wir also zu folgender Stelle über die „Wilden“: Sie steht unter §67. VOM PRINZIP DER TELEOLOGISCHEN BEURTEILUNG ÜBER NATUR ÜBERHAUPT ALS SYSTEM DER ZWECKE (Kant 1790: AA V: 267).

Der konkrete Satz – denn es gibt nur drei Mal den Begriff des „Wilden“ in der Kritik der Urteilskraft und nur diesen einen unter den Antinomien – lautet:

„Oder die Mosquitomücken und andere stechende Insecten, welche die Wüsten von Amerika den Wilden so beschwerlich machen, seien so viel Stacheln der Thätigkeit für diese angehende Menschen [Hervorhebung von G. K.], um die Moräste abzuleiten und die dichten den Luftzug abhaltenden Wälder licht zu machen und dadurch, imgleichen durch den Anbau des Bodens ihren Aufenthalt zugleich gesünder zu machen.“ (Kant 1790: AA V: 379)

Es lässt sich z. B. elektronisch ganz leicht überprüfen, dass es wirklich nur diese „angehende[n] Menschen“ sind, die Spivak zu dem so bedenklichen wie inhaltlich komplexen Schluss führt, dass Kant die „Wilden“ ausschließen musste, um seine Antinomie zu lösen. Dies gilt ausdrücklich auch für synonym gebrauchte Begriffe zum „Wilden“ oder zu „angehende[n]“ Menschen.

Man braucht von der Kritik der Urteilskraft (KU) wirklich nichts verstehen, darf und soll sich von dieser Begrifflichkeit Kantens auch abgestoßen fühlen und kann trotzdem begreifen, dass es sich bei dieser Auslegung um eine katastrophale Überinterpretation handeln muss. Kant hatte eine produktive Schwäche für Taxinomien à la Buffon und Linné. „Angehende Menschen“ sind aber bei Kant nicht definiert. Hier greift tatsächlich die Aufforderung, Kant im Kontext seiner Zeit und ihren (unsensiblen) Begrifflichkeiten zu lesen. Zudem gibt es bei Kant die implizite Idee, dass sich menschliche Subjekte auch durch Erwerb entwickeln, was auch seine „Negers“ etc. nicht ausschließt. Kolonialismus- und Aufklärungskritik bezieht sich häufig auf den Umstand, dass indigene Bevölkerungsgruppen auch unter guten Absichten gelitten hätten, häufig aber betrogen wurden.

Kant schreibt dazu 1793 in der Metaphysik der Sitten:

„[…]; denn alle diese vermeintlich gute Absichten [der Kolonisatoren, G. K.] können doch den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen.“ (Kant: AA: VI: 353)

Und davor:

„[…]; wenn es aber Hirten- oder Jagdvölker sind (wie die Hottentotten, Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen), deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt, so würde dies [die Besitznehmung der Länder dieser Völker durch ein anderes Volk, G. K.] nicht mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien geschehen können, […]“ (Kant 1793: AA VI: 353; vgl. auch Herb 2018: 394)

KRITIK DER POSTKOLONIALEN VERNUNFT
VON GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK
Stuttgart: Kohlhammer
464 Seiten | € 41,02 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3170224308
Erscheinungstermin: 21. November 2013

Abgerundet wird dieser „Vertrag zwischen Völkern“ durch Kants Spätschrift von 1895 Zum ewigen Frieden (Kant: AA VIII: 341–381), womit die Philosophie Kants und damit die Aufklärung wunderbar zu einem Wort des Doyens des Postkolonialismus, nämlich Achille Mbembe, passt, der es freilich mehr als kritisch meint:

„Das Projekt einer gemeinsamen, auf dem Prinzip der ‚Gleichheit‘ der Anteile und der fundamentalen Einheit des Menschengeschlechts basierende Welt ist ein universelles Projekt.“ (Mbembe 2017: 322; vgl. auch Herb 2018: 396)

In welchem Dilemma mithin Spivak steckt, zeigt sie, in dem sie vom Rassismus Kantens nicht sprechen will, es aber an der falschen Stelle, nämlich der KU, hypersensibel tut, und anders lautende Stellen – wie die soeben zitierten – bei Kant unerwähnt lässt. Außerdem – ist es tatsächlich „unterschwelliger Rassismus“ der immer strukturell ist und „die Welt am Laufen hält?“ Und was heißt das eigentlich genau? Im Grunde ist genau das eine wirklich extreme Position. So brauchten etwa die amerikanischen Südstaaten den Rassismus, um ihre Sklavenarbeit zu rechtfertigen. Hier zeigt sich tatsächlich die unheilvolle Allianz zwischen Kapital und Rassismus. Aber Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus. Mit der billigen Arbeitskraft handelten sich die Südstaaten nicht nur botanische Monokulturen (Baumwolle), sondern auch ökonomische ein, was zur Folge hatte, dass ein Agrarstaat im Bürgerkrieg gegen den industrialisierten Norden unterlegen sein musste. Was bei Spivak hier auch immer laufen mag, Rassismus kann jedenfalls auch eine Bremse sein. Ich möchte aber betonen, dass Spivak eine extrem verdienstvolle Autorin ist, die in Sachen Feminismus und Antirassismus hervorragende Leistungen erbracht hat. Moralisch ist sie über jeden Zweifel erhaben. Ich möchte im Folgenden zwei Autoren anführen, bei denen das wahrlich nicht so sicher ist.

III. Trittbrettfahrer der Aufklärungskritik

Thomas Bauer, Professor für Arabistik und Islamwissenschaften, schreibt in seinem Buch: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams (2011):

„Heute halten wir westliche Kategorien nicht nur für universell, sondern auch für überzeitlich gültig und fragen deshalb, ob Schuberts inniges Verhältnis zu Mayrhofer nur eine enge Freundschaft war oder ob es sich um eine Liebesbeziehung handelte, was wiederum bedeuten würde, daß Schubert und Mayrhofer ‚homosexuell‘ waren. Die beiden hätten die Frage aber überhaupt nicht verstanden, weil ihnen die Kategorien, mit denen der moderne Westen das Begehren vereindeutigt hat, nicht eingeleuchtet hätten. Schubert und Mayrhofer lebten allerdings in einer Zeit, in der sich der Zwang, Männerbeziehungen eindeutig zu machen, bereits bemerkbar gemacht hatte, wenn auch noch nicht in Kontinentaleuropa, so doch in England, wo sich kapitalistische Wirtschafts- und Denkweisen früher durchgesetzt hatten. Kapitalistisches Konkurrenzdenken und einfühlsame Freundschaft sind aber schwer miteinander zu vereinbaren.“ (Bauer 2011: 275)

Die Trias die Bauer hier bedienen will lautet: Aufklärung / Kapitalismus / Intoleranzexport. Bauer will tatsächlich in seinem Buch beweisen, dass die Intoleranz des heutigen Islamismus gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen aus dem kolonialisierenden Westen und seinem variantenlosen Kategoriendenken entstammt. Die Beweisführung geht über die Dekonstruktion menschlicher Beziehungen überhaupt, die in unseren Breiten – Schubert war 1797 und Mayerhofer 1787 geboren – offenbar erst im Biedermeier zu einer Ausdifferenzierung zwischen Homosexualität, Heterosexualität und Freundschaft gelangt, da die beiden oben Genannten die Frage angeblich nicht verstanden hätten. Warum sich der stolze Islam, in all seinen Spielarten, ausgerechnet die Homophobie vom aufgeklärten Westen abgeschaut haben will, bleibt m. E., trotz umfangreicher Recherche Bauers, unklar.

Gleichzeitig würde ich in der aufgeklärten, kapitalistischen Systematisierung von sexueller und nicht-sexueller Zuneigung zwischen Subjekten eher eine psychische Entlastung sehen, da es sonst nicht auszudenken ist, in welch erotischer Überforderung unsere Ahnen bis vor Kurzem gelebt haben müssen. Da „kapitalistisches Konkurrenzdenken und einfühlsame Freundschaft [aber] schwer miteinander zu vereinbaren [sind]“ (siehe oben), doch einfühlsame Freundschaft häufiger auftritt, lässt sich daraus ableiten, das kapitalistisch denkende Menschen, ausschließlich mit Kommunist*innen verkehren sollten bzw. umgekehrt, da sich sonst ein unkuscheliges Konkurrenzdenken ergibt. Leider ist diese Polemik fast schlüssiger als obiges Zitat Bauers, das sich auch im Gesamtzusammenhang nicht anders liest als hier. Klar ist, dass Homosexualität zu Schuberts und Mayerhofers Zeit juristisch strafbar und damit auch distinkt fassbar war. Klar ist auch, dass sowohl im Alten Testament (Levitikus 18,22) wie auch im Koran (Sure 7, 80–81) gleichgeschlechtlicher Verkehr explizit als abartig dargestellt wird.

Dass Homophobie erst mit der Aufklärung eintritt, weil sie davor als solche gar nicht kenntlich war und daher dekonstruiert werden muss, ist schlichtweg falsch. Klare Homosexuellenprozesse gab es, wenn auch oft politisch motiviert, bereits im Hochmittelalter. Man kann Bauer natürlich auch stark lesen. Das osmanische Reich war, u .a. in diesem Bereich, sehr tolerant. In Orient und Okzident war diese Frage oft Gegenstand religiöser Exegese und Bauer hat recht, dass wir dbzgl. bisweilen ein unterkomplexes Weltbild haben. Bauers Problem liegt aber in einer sektiererischen Übersteigerung des angeblich so totalen Normierungsanspruches der Aufklärung, die, zumindest als Weltbild, wenig Anteil an der heutigen muslimischen Homosexuellenverfolgung hat. Kant kommt in diesem Buch nicht vor. Bauers Schubert/Mayerhofer-Beispiel ist m. E. deshalb so vielsagend für unser Thema, da bei den heute so häufigen Anschlägen auf die Aufklärung keine Rücksicht auf innere Widersprüche mehr genommen wird. Zu Lebzeiten der beiden waren bereits die ersten profitträchtigen Raddampfer unterwegs, Aufklärung und Kolonialismus also hochaktuell. Wenn die Definitionsmacht der Aufklärung tatsächlich so groß ist, warum sollten dann gerade gebildete Europäer des 19. Jahrhunderts keine Ahnung davon gehabt haben, ob sie in einer homosexuellen Liebesbeziehung stünden?

DIE KULTUR DER AMBIUITÄT.
EINE ANDERE GESCHICHTE DES ISLAMS
VON THOMAS BAUER
Berlin: Suhrkamp
463 Seiten | € 37,00 (Gebundenes Buch)
ISBN: 978-3458710332
Erscheinungstermin: 23. Mai 2011

Und freilich darf dann eine (postkoloniale) Zutat nicht fehlen: Israel ist nach Bauer natürlich ein „neuer Kolonialstaat in der Mitte der arabischen Welt“ (vgl. Bauer 2011: 399). Eine Auffassung die offenbar von Bauer eben nicht dekonstruiert worden ist.

Immerhin enthält Bauers Werk umfangreiches Faktenwissen, denn es gibt unabhängig von ihm auch Leute, die sich auf die Schultern von Riesen stellen, nur um ihnen auf den Kopf zu pinkeln, wie in diesem Fall:

„Immanuel Kant (1724–1804) ist der Begründer dessen, was man moderne Philosophie nennt, obgleich mit Liebe zur Weisheit – dies nämlich bedeutet Philosophie – nichts zu tun hat das bloße sich tummeln Lassen [sic! G. K.] des Intellektes, das Turnen des kalten Verstandes, die Reduktion des Menschen auf eine drittklassige Rechenmaschine, jedem ältlichen Kalkulator hoffnungslos unterlegen.“ (Senecio 2015: 6)

Wer hier so schreibt ist nicht etwa ein eifersüchtiger Privatgelehrter des ausgehenden 18. Jahrhunderts der von Kant keine Empfehlung bekommen hat, sondern ein 1973 geborener Altertumswissenschaftler, der sich Lucius Annaeus Senecio nennt, und offenbar dringend eine Publikation brauchte. Warum Kant dann so berühmt geworden ist, beantwortete Senecio folgendermaßen:

„Diese Frage ist leicht zu beantworten: Immanuel Kant hat den Intellekt des Menschen endgültig von Gott und Gewissen emanzipiert, ihn, um deutlicher zu sprechen, von seinem Ursprunge und natürlichen Lenker gewaltsam getrennt und so dem kalten Verstand Bahn gebrochen, auf daß dieser die Welt künftig ohne irgend Rücksichten sich unterwerfe, beraube, entvölkere.“ (Senecio 2015: 7)

Senecios Kant-Kompetenz ist offenbar umgekehrt proportional zur künstlichen Antiquiertheit seines Duktus. Kant wollte den Menschen vor einem mechanistischen Weltbild („Rechenmaschine“) gerade retten. Gegen „Unterwerfung“ der Welt war er ausdrücklich und gerade der kategorische Imperativ verbindet eindeutig Verstand und Gewissen. Das von Senecio herausgegebene und mit einem Vorwort versehene Werk nennt sich nun: Kant. Von den verschiedenen Rassen der Menschen oder – Alle Neger stinken (2015). Hier das Originalzitat zum vom Herausgeber angehängten Untertitel:

„Der Überfluß der Eisentheilchen, die sonst in jedem Menschenblute angetroffen werden und hier durch die Ausdünstung des phosphorischen Sauren (wornach alle Neger stinken) in der netzförmigen Substanz gefällt worden, verursacht die durch das Oberhäutchen durchscheinende Schwärze, […]“ (Kant: 1775: AA II: 438)

Kants Ausdrucksweise ist nicht charmant, aber sie stellt keine Wertung dar, sondern ist Teil der Darstellung einer zeitgenössischen und heute widerlegten naturwissenschaftlichen Theorie. Am Rückendeckel findet sich noch einmal „,Alle Neger stinken‘. Kant‘“, damit sich dies endgültig als eigener Satz, der so nie im Original zu finden ist, festsetzt. Darunter wird noch einmal suggeriert, dass Kants Leistungen ausschließlich auf dem Felde des Rassismus zu finden wären. Selbstredend ist der Verlag Ad Fontes d. h. „Zu den Quellen“ eine Konstruktion Senecios. Manche Urinale sind eben zu nah an den Quellen gebaut.

IV. Conclusio

M. E. kann man es als eine Form von Extremismus begreifen, wenn Kant – und mit ihm die gesamte Aufklärung – an Stellen, an denen er wenig angreifbar ist, radikal überinterpretiert und en bloc als „Rassist“ entwertet wird. Gleichzeitig scheinen nach anderer Lesart durchaus kritisierenswerte Passagen gleich sein ganzes Lebenswerk zu eliminieren. Bauers Anschlag auf die Aufklärung ist lehrreich, sein dekonstruktiver Ansatz aber weit überspannt und die Schlüsse aus seinem Theorieansatz verdienen es im Sinne Kantens Religionsersatz zugunsten einer Religion genannt zu werden. Sicher ist es klug, sich ein wenig mit der Editionsgeschichte eines Werkes zu befassen bzw. zu wissen, welchen Standpunkt ein/eine Autor*in schlussendlich eingenommen hat. Andernfalls könnte man propagandistischen und extremen Verzerrungen, wie sie bei unserem Beispiel des Ad Fontes Klassikerverlags vorliegen, tatsächlich auf den Leim gehen.

GEORG KOLLER
ist Schriftsteller und Angestellter im öffentlichen Bildungsbereich. Er lebt und arbeitet in Wien.

Literatur

Bauer, Thomas (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, Berlin: Suhrkamp.

Gayatri C. Spivak (2024): Kant braucht unsere Hilfe (Interview), in: philosophie Magazin – Sonderausgabe 28, 300 Jahre Immanuel Kant: 83–86, online unter: https://www.philomag.de/artikel/gayatri-c-spivak-kant-braucht-unsere-hilfe (letzter Zugriff: 01.09.2024).

Herb, Karlfriedrich (2018): Unter Bleichgesichtern. Kants Kritik der kolonialen Vernunft, in: Zeitschrift für Politik, Vol. 65, Baden-Baden: Nomos.

Kant, Immanuel (1775): Von den verschiedenen Racen der Menschen: Zur Ankündigung der Vorlesung zur physischen Geographie im Sommerhalbenjahr 1775, in: AA II: 429 ff.

Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilskraft, in: AA V: 165–485.

Kant, Immanuel: (1793): Die Metaphysik der Sitten, in: AA VI: 203–475.

Kant, Immanuel (1795): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: AA VIII: 341–381.

Mbembe, Achille (2017): Kritik der Schwarzen Vernunft, Berlin: Suhrkamp.

Rink, Theodor (1802): Immanuel Kant’s physische Geographie. Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Teil bearbeitet von Friedrich Theodor Rink, Königsberg: o. V.

Senecio, Lucius Annaeus (2015): Kant. Von den verschiedenen Rassen der Menschheit – oder – Alle Neger stinken, Berlin: Ad Fontes Klassikerverlag.

Stark, Werner (2008): Die Vorlesung über >Physische Geographie< des Immanuel Kant. Eine kurze Skizze ihrer Entstehung, Überlieferung und Entwicklung: 1754–1805, Marburg: Philipps-Universität.

Türcke, Christoph (1993): Die Inflation des Rassismus, in: KONKRET 08/93, 35.