Menschenrechte – im Spannungsfeld zwischen Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit – VON INGRID NOWOTNY

Der Beitrag von INGRID NOWOTNY diskutiert die normative Kraft der Menschenrechte, untersucht sie in ihrer historischen Entwicklung und erläutert ihre Rolle und Funktion in der Gegenwart. Dabei steht vor allem angesichts des Rechtspositivismus von Hans Kelsen das Spannungsfeld zwischen Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit im Blickpunkt des Erkenntnisinteresses.

I. Einleitung

Menschenrechte stehen in einem Spannungsfeld, dass nicht neu ist, aber dennoch kritisch zu beleuchten bleibt: Große politische und soziale Errungenschaften mögen in der einen Konstellation als Segen und Fortschritt erscheinen, in der anderen als Fluch. Stark simplifiziert eignet sich die Freiheit des Eigentums gut als Beispiel für solche Überlegungen: Was einmal als Enteignung gebrandmarkt wird – so Ende des 19. Jahrhunderts eine Besteuerung über fünf Prozent – wird heute in Form des progressiven Besteuerungsmodells in weitgehend allgemeinem Konsens als Beitrag zum gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich empfunden; Stöhnen über die Steuerlast ist akzeptierte Begleiterscheinung. Meinungsfreiheit ist für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar, steht jedoch ständig unter dem Vorwurf des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte und des manipulativen Missbrauchs.

So bietet auch die Religionsfreiheit ein weites Feld für die Diskussion über die Grenzen der Toleranz im Umfeld eines egalitären demokratischen Weitbildes. Sollen religiöse Prinzipien, die etwa der Geschlechtergerechtigkeit entgegenstehen, unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen? Auch in anderer Hinsicht ist der Begriff der Geschlechtergleichheit besonders gefordert: Wo setzt der zentrale menschenrechtliche Grundsatz der Gleichheit aller Menschen Grenzen für positive Diskriminierung oder Quotenregelung?

Oder ganz aktuell: Steht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit der Klimakleber ein Recht der arbeitenden Menschen auf Erwerbsfreiheit in Form des Zugangs zum Arbeitsplatz gegenüber? Auch die aktuellen Probleme des Asylrechts reichen tief in das hier didkutierte Spannungsfeld: Steht der Asylgrund der persönlichen und politischen Verfolgung über der Tatsache, dass es gerade die Menschen nicht schützt, die geflohen sind, weil sie in wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnissen unter der Menschenwürde leben müssen? Noch diffiziler: Das Asylrecht ist ein Menschenrecht – wie steht es aber mit dem Recht auf Gleichbehandlung im Land der Zuflucht, und zwar nach dessen Standards und nicht – wie bisweilen vorgeschlagen – nach denen des zerstörten Herkunftslandes? Ganz konkret soll die Frage hier lauten: Der Flüchtling soll seine Lebensgrundlagen durch eigenen Erwerb erwirtschaften können – ein Menschenrecht. Die formalen Zugangsregeln zu den meisten Berufen und auch die Anforderungen hinsichtlich Sprache und sonstigen Soft-Skills machen ihm dies aber unmöglich, selbst bei entsprechenden Berufserfahrungen und -qualifikationen. Der Ruf nach diesbezüglicher Erleichterung ist verständlich, aber nur unter Missachtung des Gleichheitssatzes realisierbar, ganz zu schweigen von der Forderung nach Lockerung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, um den Zugang zu Jobs für Migrant*innen zu erleichtern. Mühsam erkämpfte arbeitsrechtliche Standards sind in Frage gestellt.

Diese wenigen willkürlich herausgegriffenen Beispiele zeigen, dass sich innerhalb der Menschenrechte und der Grund- und Freiheitsrechte – wie immer man die Unterschiede dazwischen definieren möchte – ein weites Feld der scheinbaren, aber auch der realen Widersprüche auftut. Selbstverständlich soll dies nicht als Kritik an den Menschenrechten verstanden werden oder gar in Richtung Resignation gehen, sondern im Gegenteil, Problembewusstsein schaffen, und zwar als Grundlage für besseres Verständnis.

II. Wie halten wir es mit der Demokratie?

Damit ist eines der zentralen Probleme des Spannungsfeldes noch nicht angesprochen: Wie halten wir es mit der Demokratie als solcher? Demokratie ist nicht bloß eine Staatsform, sie erschöpft sich nicht im Parlamentarismus, in der Teilhabe aller am Staatsgeschehen. Demokratie ist ohne Freiheit und ohne Selbstbestimmung nicht denkbar. Erst dem freien Menschen ist demokratische Willensbildung möglich – ohne Freiheit wäre seine Entscheidung einer autoritären Macht unterworfen und somit nicht mehr demokratisch. Wir können vom allgemeinen Konsens ausgehen, dass Demokratie nicht bei der Ausübung des Wahlrechtes endet, sondern alle Lebensbereiche umfassen soll.

Menschrechte sind wesensmäßig mit dem Begriff der Demokratie verbunden. Demokratie heißt, jeder soll Einfluss auf das politische Geschehen haben, und sei es auch nur in Form der Mehrheitsentscheidung. Demokratie ist Garant für Gleichheit und Freiheit, den unabdingbaren und untrennbaren Voraussetzungen für das Idealziel des gesellschaftlichen Pluralismus.

Auch Freiheit ist nicht an der potenziellen Eingriffsmacht des Staates zu messen, sondern sie ist Konzept des gesellschaftlichen Zusammenlebens und -wirkens auf allen Ebenen. So banal es klingt, für diese umfassende Art der Freiheit ist noch immer der kategorische Imperativ Immanuel Kants bedeutsam: Freiheit heißt nicht grenzen- und rücksichtslos seinen Willen leben, sondern hat sich in das Freiheitsstreben der Mitmenschen einzufügen. D. h. also, die Freiheit kann nur so weit gehen, wie es die Freiheit des anderen zulässt. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Mit anderen – einfachen, aber dennoch treffenden – Worten: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.

Wie weit ist dieses Konzept für einen Versuch tauglich, das Spannungsfeld der Menschenrechte aufzulösen?

III. Grundlagen der Menschenrechte

Nach dem aufklärerischen Ansatz wurden Menschenrechte nur als Freisein von staatlichen Eingriffen verstanden; die Verankerung von sozialen Grundrechten oder ein Schutz vor menschenrechtswidrigem Verhalten Privater waren Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – eine Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Diese uns heute so selbstverständliche Richtung des Menschenrechtsverständnisses war den Aufklärern noch fremd – was aber nicht heißt, dass ihr Verdienst um die Menschenrechte geschmälert werden soll. Wenngleich die Protagonisten der Aufklärung wie Kant, Voltaire und Diderot nicht frei waren von Rassismus und Sexismus – es war die Zeit der Sklaverei und der Ausbeutung der Kolonien – so fußt dennoch das menschenrechtliche Konzept bis heute auf ihren Ideen und auf der Agitation der Träger*innen der französischen Revolution. Selbst Washington, Jefferson, Hamilton, die Väter der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten – der Freiheitsidee schlechthin –, waren von der Notwendigkeit eines unterdrückerischen Wirtschaftssystems überzeugt. Dennoch kann der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung nicht der fortschrittliche Einfluss auf das Alte Europa abgesprochen werden.

Mehr noch: Wir müssen uns fragen, welche Position die Sozialdemokratie in diesem Spannungsfeld einnimmt und einnehmen soll? Die einfache – aber lange nicht hinreichende – Antwort wäre: Abwägung der Güter und Werte. Hier erhebt sich aber wieder die Frage, hätte sich die Sozialdemokratie nicht gerade hier zu einem klaren ethischen und politischen Standpunkt zu bekennen. Wo bleiben die sozialdemokratischen Werte?

IV. Freiheit, Menschenrechte und offene Gesellschaft

Demokratie ist der Boden der Freiheit, der Menschenrechte und der pluralistischen Gesellschaft. Im Verständnis von Hans Kelsen nimmt Demokratie ihren Ausgangspunkt bei der Idee der Freiheit des Einzelnen, bei dessen Autonomie und dem Gedanken seiner Selbstbestimmung:

„Es ist die Natur selbst, die sich in der Forderung der Freiheit gegen die Gesellschaft aufbäumt. – Die Last fremden Willens, die soziale Ordnung auferlegt, wird umso drückender empfunden, je unmittelbarer im Menschen das primäre Gefühl des eigenen Wertes sich in der Ablehnung jedes Mehrwertes eines anderen äußert, je elementarer gerade dem Herrn, dem Befehlenden gegenüber das Erlebnis des zum Gehorsam Gezwungenen ist: Er ist ein Mensch wie ich, wir sind gleich! Wo ist also sein Recht, mich zu beherrschen?“…

„Soll Gesellschaft, soll gar Staat sein, dann muss eine bindende Ordnung des gegenseitigen Verhaltens der Menschen gelten, dann muss Herrschaft sein. Müssen wir aber beherrscht sein, dann wollen wir nur von uns selbst beherrscht sein. Von der natürlichen Freiheit löst sich die soziale oder politische ab. Politisch frei ist, wer zwar untertan, aber nur seinem eigenen, keinem fremden Willen untertan ist.“ (Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie: 9)

Diese Passagen sprechen für sich selbst: Kelsen lehrt uns, ganz im Sinne des Positivismus, die Menschenrechte als etwas von den Menschen Gewolltes und selbst Geregeltes aufzufassen, und zwar auf dem Boden der ebenso gewollten und nach Übereinkunft eingesetzten Demokratie. Nicht die Natur – so die aus der Zeit heraus zu verstehenden Naturrechtler -, sondern das menschliche Wollen ist Grundlage dessen, was Menschenrecht sein soll.

In diesem Sinne erhebt sich die Frage, ob und wie weit sich die Menschenrechte im wertfreien Raum bewegen und ob es so etwas wie Wertfreiheit überhaupt gibt. Für die Kelsensche Auffassung ist diese Frage leicht zu klären: Positives Recht ist klar definiert, es ist von Moral und Ethik zu trennen. Recht ist das Mittel, mit dem festgelegt wird, was sein soll. Es ist klar durch sein Ziel – das Sollen – und durch seinen Entstehungsvorgang definiert. Moral, Ethik und Gerechtigkeit sind hingegen subjektiv formulierte Begriffe. Sie können jeglichen Inhalt haben, wohingegen für das Recht nur sein Erzeugungsvorgang maßgeblich ist. Mit anderen Worten: Moral, Ethik und Gerechtigkeit sind hohe ersonnene Werte, Recht ist das Mittel zu ihrer Durchsetzung, im Idealfall nach den Prinzipien der Demokratie.

Anhand des Beispiels „Menschenwürde“ kann dies erklärt werden: Die Menschenwürde als etwas genau Umrissenes, als etwas Absolutes, nicht mehr zu Hinterfragendes verstanden, könnte zum Schluss verleiten, es erübrige sich jede Diskussion über ihren Inhalt, denn sie bewege sich im wertfreien Raum. Dem ist nicht so, auch dieser Begriff unterliegt der ständigen Weiterentwicklung: Was früher noch ein Fortschritt war, kann weit unter den Standards liegen, die wir heute als menschenwürdig empfinden.

V. Wertrelativismus – Wertepluralismus

Kelsen hat dies als Wertrelativismus definiert: Es gibt nur relative, keine absoluten Moralwerte. Dem ist beizupflichten, denn jede Gesellschaft, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt, hat ihnen durch Diskussion Inhalt zu geben und diesen Inhalt mit den Mitteln des Rechts durchzusetzen. Einen Anspruch auf absolute Wahrheit gibt es auch hier nicht und wäre auch den Menschenrechten nicht dienlich, insofern als sie nichts Statisches sind, sondern den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen angepasst werden müssen. Damit ist aber nicht gesagt, dass bestimmte Grundwerte die Leitlinie der Menschenrechte bleiben müssen – vielmehr, dass vor allem an deren Erhalt durch ständige Wachsamkeit und kritisches Hinterfragen zu arbeiten ist.

Der Kelsen’sche Begriff des Wertrelativismus mag vielleicht gedanklich schwer mit der von uns geforderten universellen und unabdingbaren Geltung der Menschrechte vereinbar sein, der Begriff des Wertepluralimus kommt dem schon näher: Wesensmäßig für unser Verständnis von Demokratie ist das Bekenntnis zur pluralistischen Gesellschaft, zum Respekt vor anderen Werten und Überzeugungen, zur Koexistenz von verschiedenen Wertesystemen sowie zur Berücksichtigung von Minderheiten im politischen Entscheidungsprozess – alles Ziele, denen ein absolutes Wertesystem entgegenstünde. Insofern sind Werterelativismus und Wertepluralismus nicht weit auseinander und somit für das Verständnis von Menschenrechten hilfreich.

Die Nähe des Wertepluralismus zu den Menschenrechten zeigt sich anhand der Beispiele von Religionsfreiheit oder der Gleichheit aller Menschen unterschiedlicher Herkunft. So ist für den amerikanischen Philosophen John Rawls der Pluralismus eine fundamentale Eigenschaft demokratischer Gesellschaften, die eine politische Ordnung mit einer Vielfalt von Überzeugungen zulässt – so auch das Modell Karl Poppers. Sein Idealbild der „offenen Gesellschaft“ baut auf dem Wertepluralismus auf – erst die Vielfalt der Meinungen lässt den Fortschritt zu, selbst wenn oder weil konkurrierende Vorstellungen, Interessen und Ziele miteinander oder nebeneinander zu vereinen sind. Auch er erteilt einer Verabsolutierung der Werte ebenso eine Abfuhr wie politischen Systemen mit autoritären und totalitären Ansprüchen. Wie sehr auch die Entwicklung der Menschenrechte von Werterelativismus und Wertepluralismus geprägt ist, zeigt ihre im Folgenden darzustellende, keineswegs linear verlaufene Geschichte:

VI. Was sind Menschenrechte? Wie sind sie entstanden?

Schon die Antike – die Perser im Kyros-Zylinder 539 v. Chr., die Philosophien des Zoroastrismus und des Buddhismus, die Stoiker Griechenlands und Roms oder das Christentum – kannte die Idee der Menschenwürde und der Gleichheit, wenn auch nur in eingeschränktem Maß für Privilegierte. Dennoch war zumindest die Formulierung der Rechte – Gleichheit und Freiheit – Grundlage und Anlass weiter zu denken.

JUSTICE AS FAIRNESS / GERECHTIGKEIT ALS FAIRNESS
VON JOHN RAWLS
Ditzingen: Reclam
174 Seiten | € 7,00 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3150195864
Erscheinungstermin: 2020

Die biblische Vorstellung des Menschen als Ebenbild Gottes im Alten Testament kam dem menschenrechtlichen Gedanken wohl näher, aber auch hier waren Ungläubige ausgeschlossen. Auch das Christentum verhielt sich zaghaft; wenngleich es Schutzpflichten gegenüber Sklaven auferlegte, so ist dennoch ein allgemeines Gleichheitsgebot für den profanen Bereich zu vermissen. Weitere Schritte bilden die Magna Charta 1215 und die Bill of Rights 1689 in England. Die Bauernaufstände 1526 forderten unter Berufung auf göttliches Recht Befreiung der Bauern von der Grundherrschaft – die blutige Niederschlagung der Aufstände machte diesen Traum zunichte. Selbst die Reformation war hier nicht hilfreich.

Der Humanismus des 15. Jahrhunderts mit seinem Protagonisten Erasmus von Rotterdam, war zwar in erster Linie eine Bildungsbewegung, politisches Handeln stand nicht im Vordergrund, übte aber dennoch Einfluss auf die Mächtigen aus. Kaiser Maximilian holte sich Conrad Celtis als Berater, der Papst hörte auf Erasmus von Rotterdam; die Medici förderten Niccolò Macchiavelli zur Formulierung der Ideen der Staatsraison, wahrlich kein menschrechtlicher Ansatz, doch ein wichtiger Schritt gegen die metaphysische Ausrichtung des Staates hin zu rationaler Staatsführung.

Der Preis war die Ablöse der göttlichen Macht durch den Souverän, den Herrscher „legibus solutus“, keinen Gesetzen unterliegend, und die Staatsführung in Form des Absolutismus – ganz nach der Souveränitätstheorie des Jean Bodin (1529–1596). Wenngleich der Herrscher Verantwortlichkeiten und Schutzverpflichtungen gegenüber den Untertanen zu beachten hatte, war damit Willkür noch immer nicht ausgeschlossen. Die göttliche Macht wurde durch den Gedanken des Naturrechts abgelöst – wohl ein Fortschritt, prinzipiell wurde auch die Würde des Menschen in Ansätzen anerkannt, doch war mit der Berufung auf die Vernunft noch lange keine Selbstbestimmung der Menschen verbunden.

Hugo Grotius (1583–1645), ein früher Aufklärer, formulierte in seiner völkerrechtlichen, über das eigene Land hinausgehenden Konzeption das Prinzip der Allgemeingültigkeit der in der Natur des Menschen liegenden Rechte. Wenngleich es ihm primär um die freie Schifffahrt auf den Meeren ging – natürlich als Niederländer in Konkurrenz zu den Spaniern und Portugiesen – ist damit die Universalität der Menschenrechte angesprochen.

Dennoch sind diese Vorläufer der Menschenrechte nicht vergleichbar mit dem Aufbruch in der Zeit der Aufklärung: Ein festgefügtes, auf hierarchischen Strukturen beruhendes Gesellschaftssystem ist nicht mehr als gottgegeben anzusehen, sondern kritisch in Frage zu stellen. Schon oft zitiert, doch zutreffend: Zum breiten Verständnis brauchte es als Anstoß und als Aufruf zum Handeln eines spektakulären Ereignisses – das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 rüttelte die Menschen auf, Naturkatastrophen nicht mehr als Strafe Gottes zu erdulden, sondern die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge zu ergründen, das heißt den Verstand zu bemühen. Nicht beten, sondern das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und alle Kräfte auf den Wiederaufbau zu legen, war Gebot der Stunde – formuliert und durchgesetzt vom großen Aufklärer und Reformer Portugals Marques de Pombal (1699–1782).

Die Zusammenhänge mit den politischen und gesellschaftlichen Ideen der Aufklärung im Allgemeinen liegen auf der Hand: Jean Jacques Rousseau (1712–1778) verdanken wir die Grundlagen unseres demokratischen Verständnisses. Sein Konzept des Contrat social beruht auf der Souveränität des Individuums – der Mensch ist frei, verfügt über sich selbst und unterwirft sich – durch den Gesellschaftsvertrag – freiwillig der Ordnung einer staatlichen Herrschaft; die Regeln bestimmt letztlich er selbst, er wählt die Regeln der Demokratie. Die demokratische Willensbildung und die Regelungsautonomie fußen auf der Freiheit und der Gleichheit aller. Dazu braucht es keine Rechtfertigung, denn Souverän sind im Sinne der Volkssouveränität die Menschen.

An dieser Stelle soll auch Voltaire (1694-1778) nicht ausgespart bleiben: Dem sarkastischen Gegenspieler Rousseaus – der Ausgangspunkt zum Contrat social, die Willensbildung des Menschen in seinem Naturzustand, ist ihm nur des bekannten Spotts über die Menschen auf den Bäumen wert – ist dennoch der Fortschrittsglaube und die nachdrückliche, für die Menschenrechte unabdingbare Forderung nach Freiheit der Meinungsäußerung und Achtung der Gegenmeinung zu verdanken.

Die Ermutigung zur Selbstbestimmung kam von Immanuel Kant (1724–1804). Sein Aufruf: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! “ ist Aufforderung, Ermahnung und Verpflichtung zugleich, und „Aufklärung ist der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist die Grundlage für selbstbewusstes Arbeiten am gesellschaftlichen, geistigen und technischen Fortschritt. Kant formuliert damit auch den Begriff der Menschenwürde: Der Mensch ist Zweck an sich und darf nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden. Er darf nicht zum Mittel verkommen.

Kant kommt das Verdienst zu, die Menschenwürde in einen politischen Zusammenhang gebracht, d. h. die Achtung der Menschenwürde als Pflicht der Herrschenden und als Recht der Menschen auf Durchsetzung postuliert zu haben. Ihre Grundlage ist die Freiheit. Sie ist nicht von einer höheren Macht verliehen oder in der Natur begründet, sondern liegt in der intellektuellen Kraft des Menschen selbst. Der denkende Mensch, seine Vernunft, ist Träger der Menschenwürde und der Freiheit, von der die Gleichheit abgeleitet wird. Die Freiheit muss unabhängig von seinem konkreten sozialen, kulturellen und religiösen Status in einer Gesellschaft gelten. Der Rechtsstaat ist unabdingbar zur Sicherung der Freiheit, es sind die Regeln, die der Mensch selbst frei und unabhängig aufstellt und die ihm auch die Durchsetzung der Menschenrechte ermöglicht.

Ihren Höhepunkt finden die aufklärerischen Ideen und Forderungen in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Nationalversammlung der französischen Revolution. Nach umfassenden Debatten von Marquis de Lafayette formuliert, wurden sie 1789 in Form eines Kataloges beschlossen. Nach einer Präambel umfasst er 17 Artikel mit Bestimmungen über die unveräußerlichen und natürlichen Rechte wie Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Ebenso werden das Gleichheitsgebot, die rechtsstaatlichen Forderungen sowie die Gewaltenteilung als Sicherungs- und Kontrollinstrument niedergeschrieben. Dieses Dokument war die Grundlage für den Durchbruch der demokratischen, verfassungs- und menschrechtlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Die Restauration konnte trotz aller, bisweilen gewaltsamen Versuche das Rad des Fortschritts nicht mehr zurückdrehen. So auch in Österreich.

VII. Die Menschenrechte in Österreich

Wenngleich unterschätzt, hatten sich auch in Österreich aufklärerische Gedanken verbreitet. Das unter Maria Theresia begonnene Reformwerk fand unter Joseph II. und Leopold II, seine Fortsetzung. Die späteren Schritte der restaurativen Umkehr unter ihren Nachfolgern Franz I. (II.), Ferdinand, dem Gütigen, und Franz Joseph unterbanden und verzögerten zwar mit Hilfe der Kirche den Weg der Monarchie in einen modernen demokratischen Staat; der Rückfall in einen feudal-monarchischen Absolutismus war aber nur ein letztes Aufbäumen autokratischen Gottesgnadentums.

Die letzten Jahre des aufklärerischen Denkens in Österreich vor dem Wiener Kongress waren dennoch fruchtbar und in gewissem Sinn noch bis heute bedeutsam: Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811, dieses qualitativ und sprachlich hervorragende Gesetzeswerk, steht in mehrfach novellierter Form bis heute in Geltung und ist eine der ältesten Kodifikationen des Zivilrechts. Es trägt die Handschrift des Verfassers der ersten Entwürfe (Westgalizisches Gesetzbuch), des Beraters Kaiser Josephs II., Karl Anton Freiherr von Martini (1726–1800). Er war leidenschaftlicher Reformer und brachte die Gedanken Immanuel Kants und der französischen Aufklärer in die österreichische Gesetzgebung und Rechtswissenschaft.

Die kurze Zeit der – wenngleich noch nicht demokratischen, so doch fortschrittlichen und aufgeklärten – Herrscher Joseph II. und Leopold II. erlaubte es auch, in nicht mehr reversiblen Ansätzen die Gedanken Montesquieus wie Gewaltenteilung und gerichtlicher Durchsetzbarkeit der Menschenrechte umzusetzen. Die Entwürfe Martinis traten für die gesamte Monarchie erst 1811 unter seinem Nachfolger Franz von Zeiller, allerdings in leicht gemäßigter Form, in Kraft.

Interessant auch die praktische Vorgangsweise: Der nach den Vorstellungen der Autoren konzipierte Kodex sollte nicht einfach durch Anordnung in Kraft gesetzt, sondern erst auf seine Tauglichkeit, Vollziehbarkeit und auch Akzeptanz geprüft werden. In einer Art „Pilotversuch“ wurde das Gesetzeswerk für ein erst kurz zuvor zur Monarchie gelangtes Gebiet 1797 als „Westgalizisches Gesetzbuch“ erlassen. Die praktischen Erfahrungen fanden dann auch Eingang in die Endfassung. Diese Vorgangsweise war wohl noch weit entfernt von einem parlamentarischen Gesetzgebungsprozess, doch – aus der Zeit verstanden – ein großer Fortschritt gegenüber den üblichen autoritären Gepflogenheiten. Martini hat auch einen Grundrechtskatalog erarbeitet, Zeiller verzichtete in der Endfassung darauf und stellte vorausschauend weitere Inhalte – so z. B. die ständische Gliederung der Gesellschaft – der Gesetzgebung anheim. Anders wäre es kaum zu Konsens gekommen.

Die dunkle Zeit der Restauration und des Staatskanzlers Metternich brachte Europa zwar nach dem Wiener Kongress eine gewisse Stabilität nach den napoleonischen Kriegen, aber um den Preis der Unterdrückung liberaler Bewegungen durch Überwachung und Zensur. Metternich steht für den Polizeistaat schlechthin, selbst wenn er als genialer Politiker einer Friedensordnung und des europäischen Gleichgewichts gilt. Menschenrechte und geschriebene Verfassung wurden verweigert, im Untergrund gärte es jedoch weiter.

1848 – die „bürgerliche Revolution“, wenngleich zunächst niedergeschlagen und gescheitert, bedeutet dennoch einen Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte: Die Paulskirchenverfassung wurde nie wirksam; trotzdem konnten die folgenden, auch autokratischen Regime nicht dauerhaft an ihrem wesentlichen Bestandteil, dem Katalog der Freiheitsrechte vorbeigehen. Für die österreichische Grundrechtsentwicklung bedeutsam war die im Zuge der Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn erlassene Dezemberverfassung mit den Staatsgrundgesetzen des Jahres 1867 insbesondere das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (StGG 1867). Es enthielt einen Grundrechtskatalog, der sich wesentlich an die Märzverfassung von 1849 anlehnte, aber nur für die cisleithanische Reichshälfte Geltung hatte. Es enthielt die wichtigsten Freiheitsrechte wie Freizügigkeit der Person, Unverletzlichkeit des Eigentums, Aufhebung jedes Untertänigkeitsverbandes, Briefgeheimnis, Hausrecht, Petitionsrecht sowie die für künftige politische Entwicklungen wichtigen Rechte der Meinungs- , Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, der Religions- und Wissenschaftsfreiheit.

Mit den Maigesetzen 1868 wurde die Position der katholischen Kirche eingeschränkt und somit ein bedeutender Schritt zur Religionsfreiheit getan: Die Trennung von Kirche und Staat wurde ausgesprochen und die Ehegerichtsbarkeit sowie das Bildungswesen unter staatliche Hoheit gestellt. Papst Pius IX verurteilte im Übrigen die Maigesetze wie auch das Staatsgrundgesetz als „verabscheuungswürdig“ und rief den Klerus zum Widerstand auf.

VIII. Grundrechte der Republik Österreich

Das Staatsgrundgesetz 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger*innen wurde als einziges der fünf Staatsgrundgesetze in den Rechtsbestand der 1918 gegründeten Republik Österreich übernommen und durch Nennung in Art. 149 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG 1920) zu einem Bestandteil des Bundesverfassungsrechts gemacht.

VOM WESEN UND WERT DER DEMOKRATIE
VON HANS KELSEN
Ditzingen: Reclam
163 Seiten | € 5,40 (Taschenbuch)
ISBN:  978-3150195345
Erscheinungstermin: 2018

So spannt sich im Jahr 1920 im Sinne des Kelsen’schen Verfassungsverständnisses der Bogen von der Begründung der Menschenrechte aus moralischen und religiösen Überlegungen hin zu ihrer demokratischen Legitimation und zur politischen Forderung nach rechtsstaatlicher Fundierung und Durchsetzbarkeit.

Österreich hat, im Gegensatz zu anderen Ländern, keinen eigenen geschlossenen Katalog der Menschenrechte in seiner Verfassung – auffallend und vielleicht befremdend, doch ist es keineswegs ein Land ohne Garantie der Menschenrechte. Als Einwand mag gelten, die rechtliche Situation sei unübersichtlich und schwer erfassbar. In der Tat, die Menschenrechte sind auf eine Reihe von Gesetzen verteilt, manche müssen sogar in völkerrechtlichen Quellen gesucht werden. Selbst die Begrifflichkeit ist verwirrend, es wird von Menschenrechten, Grund- und Freiheitsrechten gesprochen, bisweilen gar nur von verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten. Der menschenrechtlichen Qualität, dem normativen Gehalt tut dies jedoch im Ergebnis keinen Abbruch.

IX. Menschenrechte im Völkerrecht

Die wohl wichtigste Qualität der nationalen und internationalen Menschenrechtsdokumente ist die Art und Weise der Durchsetzbarkeit der Rechte und die Sanktionierung von Verstößen. So ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (AEMR) eine rechtlich nicht bindende Resolution der Vereinten Nationen; die Rechte sind nicht justiziabel und nicht einklagbar – und dennoch: Diese Resolution ist keineswegs wirkungslos, allein die Vorbildwirkung oder eine mediale „Anprangerung“ von Verstößen mag eindrücklicher sein als ein in dürren Worten gefasstes verbindliches Gerichtsurteil, das zudem nur für den Einzelfall gilt. Zudem ist sie Vorbild und Grundlage für andere verbindliche Menschenrechtsdokumente, so auch für die Europäische Konvention oder für ähnliche Vertragswerke anderer Kontinente und Weltregionen. Die Sprache und Formulierungen der UN-Konvention sind so stark, dass sie zum Bestandteil des allgemeinen Bewusstseins geworden sind, so Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“.

Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK, Konvention Nr. 005 des Europarates) geht weiter: Österreich erhob sie nach der Ratifikation (1958) in den Verfassungsrang – somit verfügt Österreich gemeinsam mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, den Staatsgrundgesetzen 1867 und den sonstigen völkerrechtlich und verfassungsmäßig gewährleisteten Grundrechten über einen umfassenden Katalog der Menschen-, Grund- und Freiheitsrechte.

Die besondere Qualität der EMRK ergibt sich aus der Einrichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (EGMR): Staaten gegeneinander und jedem Einzelnen hinsichtlich seiner persönlichen Rechte kommt hier ein Klagerecht zu.

X. Schlussbemerkungen

Der Streifzug durch Geschichte und Gegenwart der Menschenrechte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und schon gar nicht auf wissenschaftliche Qualität. Kernanliegen ist die Aussage, dass auch der Inhalt der Menschenrechte von Wertrelativismus und Wertepluralismus getragen ist und auch getragen werden soll: Es gibt keine absoluten Werte, sie sind Ergebnis kritischer Abwägung und Verpflichtung zu ständigem Diskurs.

Die Sozialdemokratie ist ein Gesellschaftsentwurf, der auf Demokratie aufbaut und somit Freiheit und Pluralismus zu seinen Grundelementen zählt. Interessenausgleich muss stattfinden, und zwar im Sinne der Gleichheit aller Menschen: Niemand darf unterdrückt oder einer sozialen oder wirtschaftlichen Macht unterworfen werden – was aber nicht Absage an gesellschaftliche oder staatliche Ordnungsprinzipien heißt. Insofern ist es geboten, sich auch dem ständigen Diskurs über das eingangs dargestellte Spannungsfeld, in dem auch der Inhalt und die Durchsetzung der Menschenrechte enthalten ist, zu stellen.

Literatur

Bodin, Jean (1986): Über den Staat, Ditzingen: Reclam.

Dreier, Horst (2023): Hans Kelsen zur Einführung, Hamburg: Junius.

Grotius, Hugo (2004): Mare Liberum, Leiden 1609: The Free Sea. Ed. David Armitage, Indianapolis, IN: Liberty Fund.

Kant, Immanuel (1990): Die Metaphysik der Sitten, Ditzingen: Reclam.

Kelsen, Hans (2018): Vom Wesen und Wert der Demokratie, Ditzingen: Reclam.

Kelsen, Hans (2016): Was ist Gerechtigkeit, Reclam, Ditzingen.

Popper Karl R. (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons, hrsg. von Hubert Kiesewetter, Tübingen: Mohr Siebeck.

Rousseau, Jean Jacques (1977): Vom Gesellschaftsvertrag, Ditzingen: Reclam.

Rawls, John (2020): Justice as Fairness / Gerechtigkeit als Fairness, Ditzingen: Reclam.

INGRID NOWOTNY
ist Juristin und war nach ihrer Zeit als Universitätsassistentin an der Universität Linz in Wien im Arbeits- und Sozialministerium im Bereich Arbeitsmarktpolitik in leitender Funktion für Legistik, Arbeitslosenversicherung und Ausländerbeschäftigung tätig. Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende der SPÖ-Bildungsorganisation des Bezirks Wien-Hietzing.