Insbesondere in Zeiten notwendiger Debatten über die Bedeutung von Arbeit im Kunst- und Kulturfeld, über die autoritär unterfütterte Haltung einer problematischen Identitätspolitik und den zahllosen Herausforderungen für den gesamten Bildungs- und Kulturbereich in (post-)pandemischen Zeiten, schien es uns als Redaktion der ZUKUNFT richtig, die Politik der Lektüre zum Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe zu machen. Die hier versammelten Beiträge machen deutlich, wie sehr die Praxis einer selbstbestimmten, reflektierten Lektüre mit Fragen von gesellschaftlicher Orientierung und Positionierung korrespondiert, wie sehr eine alltägliche, für selbstverständlich gehaltene Tätigkeit, Ausdruck einer kompetenten Auseinandersetzung sowohl mit der vereinbarten Wirklichkeit, als auch mit welthaltigen künstlerischen Angeboten sein kann – und wohl auch soll.
Lektüre zeigt sich dabei in ihrer geschichtlichen wie auch aktuellen Gestalt als ein Prozess, der immer schon starken Wandlungen unterworfen war und auch weiterhin von beispielsweise technologischen, sozialen und auch bildungspolitischen Entwicklungen mitgeprägt sein wird. Die Einladung zu einer unausgesetzten, im nicht zuletzt auch lustvoll-unterhaltsamen Sinne erfüllten Lektüre sehen wir in Verbindung mit den entsprechenden historischen Aspekten, als Aufforderung zur (Selbst-)Ermächtigung und Teilhabe am Sozialen. Als Redaktion der ZUKUNFT sprechen wir uns für die Haltung und Praxis einer konstruktiv-kritischen Lektüre aus, die Grundlage echter Auseinandersetzung und aufgeklärter Durchdringung sein kann, die nicht zuletzt politischen Diskurs und genuinen Austausch ermöglichen hilft. In diesem Sinne haben wir Beiträge zur Politik der Lektüre versammelt, die mit diesem Titel die Option eines sich öffnenden Blicks für eine facettenreiche, mitunter von Widersprüchen und (noch) unbeantworteten Fragen gekennzeichnete Welt meinen – und dieses Verständnis auch produktiv ausspielen: Sie wollen gelesen, durchdacht und eben auch genossen werden.
Den Anfang dieser Schwerpunktausgabe zum Thema Politik der Lektüre macht ein Review-Essay der Frauen- und Geschlechterhistorikerin Bianca Burger. Sie beschäftigt sich mit der Frage inwiefern sich die Lese- und Buchkultur wirklich in einer Krise befindet, wie dieser beizukommen ist und welche Veränderungen notwendig sein werden, damit es nicht irgendwann einmal heißt Es war einmal das Lesen.
Im Anschluss daran rüttelt uns Lena Wiesenfarth mit ihrem Beitrag The Great Awakening wach. Rund um die Auseinandersetzung mit der Autorin Ottessa Moshfegh arbeitet sie die Wirksamkeit der literarischen Motive von Schlaf und Erwachen in Zeiten des Neoliberalismus heraus. Neben der literarischen Auseinandersetzung zieht sie Parallelen zur „realen“ Welt und zeigt auf, welche politischen und sozialen Konsequenzen eine schlaflose, betäubte Gesellschaft hat/hätte.
Ebenfalls ins Heute führt Johanna Lenharts Beitrag über ein unbekannteres Werk der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek – Die Bienenkönige aus dem Jahr 1976. Wie so viele Werke Jelineks hat auch dieses Hörspiel einen starken Gegenwartsbezug und greift Debatten auf, die im Zuge der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren prägend waren. Patriarchale Machtstrukturen, Gebärzwang, Mutterschaft, Wissen und Macht sind Themen, die den Text aktueller denn je erscheinen lassen.
Einen Blick in die Zukunft wagen anschließend Claudia Lehmann und Konrad Hempel. Ihr Briefwechsel aus dem März 2021 verhandelt Aktuelles wie die Corona-Pandemie, ebenso wie Zukünftiges, zum Beispiel wie die notwendige Veränderung in der Welt vonstatten gehen könnte und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen. „K.“ und „Koko“ philosophieren, diskutieren, ergänzen und widersprechen sich. Es entwickelt sich ein dynamisches, literarisches Spiel, bei dem immer wieder ein Augenzwinkern zu erkennen ist und das den Eindruck erweckt, man sei selbst inmitten des Spiels.
Den Auftakt zum literarischen Schwerpunkt dieses Heftes macht Zarah Weiss. Sie stellt einen Roadtrip durch Australien in den Mittelpunkt ihrer Erzählung Spot On A Long Road. Alex und Noa befinden sich auf einer Reise durch die Weiten des Outbacks. Dabei wird der Urlaub plötzlich zu einer Reise zu sich selbst. Wer hat wovor am meisten Angst, was hinterlassen wir von unserem Leben auf der Erde und wo liegen die Grenzen einer Freundschaft?
Ein ganz besonderes Highlight gibt es zum Abschluss dieser Ausgabe. Ein Auszug aus dem wiederentdeckten Werk Die dunklen Jahre von Friederike Manner bringt Politik und Literatur auf eine ganz besondere Art und Weise zusammen. In ihrem autobiografisch angelegten Roman analysiert und kommentiert sie die bekannten historischen Vorkommnisse mit einer unglaublichen Schärfe und Direktheit. Die Leser*innen erleben die entscheidenden Monate rund um den Anschluss an Hitler-Deutschland 1938 aus ihrem Blickwinkel: Vom Verschieben der eigenen Prioritäten hin zum Wahlaufruf, der Wahl an sich sowie möglichen und gescheiterten Fluchtversuchen – und nicht zuletzt deren Folgen.
Für die Bildstrecke der vorliegenden Ausgabe konnten wir, und das freut uns ganz besonders, erneut Elisabeth Öggl gewinnen. In der Verbindung ausgewählter Arbeiten aus zwei Werkserien, entsteht ein starker visueller Dialog, der auch über die Einbettung in ihrem Gesamtwerk, das oftmals Bezüge zu Literatur und zu Befragung von Wahrnehmung/Lesbarkeit aufweist, hinausgeht. Vielmehr lädt Öggls bewusste Auseinandersetzung mit „Bio Art“, also dem vorsätzlichen Verknüpfen von künstlerischen Praxen und biologischen Prozessen, bei ihren Detailaufnahmen aus Yeastograms und dem Künstlerbuch Reishi zu einer ganz anderen, vielleicht auch ungewohnteren Auseinandersetzung mit dem thematischen Komplex der Lektüre ein. Mehr über Elisabeth Öggl und ihr beeindruckendes Werk findet sich online unter: https://elisabethoeggl.org
Insgesamt hoffen wir, dass wir auch mit dem aktuellen Themenschwerpunkt der ZUKUNFT erneut zu einer gewinnbringenden, lustvollen Lektüre einladen dürfen, die zu Diskussion und Austausch inspiriert!
Wir senden Ihnen
herzliche und freundschaftliche Grüße,
Bianca Burger, Thomas Ballhausen und Alessandro Barberi
BIANCA BURGER ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert.
THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/